JOHANNES DRERUP ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund und Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in der Erziehungs- und Bildungstheorie, der Pädagogischen Ethik und der Theorie und Praxis von Demokratieerziehung und demokratischer Bildung.
Dass im Unterricht offen kontrovers diskutiert wird, ist – im Rahmen der Demokratieerziehung – notwendig und selbstverständlich. Angesichts wachsender gesellschaftlicher Polarisierung wird allerdings zunehmend unklar, welche Themen in dieser Form behandelt werden können und wie man mit problematischen Einstellungsmustern umgehen soll. Sollen z. B. Migrations- oder Klimafragen offen oder direktiv diskutiert werden? Wie sieht angemessenes pädagogisches Verhalten angesichts von Verschwörungstheorien oder geschichtsrevisionistischen Äußerungen aus?
Johannes Drerup entwickelt eine praktische Orientierungshilfe für ein zunehmend unübersichtliches Handlungsfeld.
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Die in diesem Band vertretene Position zum Umgang mit kontroversen Themen im Unterricht ist das Ergebnis einer mehrjährigen Auseinandersetzung mit dem Thema. In den Band sind Vorarbeiten eingegangen aus: Drerup (2018a; 2019a; 2020d; 2021); Drerup/Yacek (2020); Drerup/Kauppi (2021).
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Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf den Unterricht in öffentlichen Schulen im Kontext liberaler Demokratien mit einem besonderen Fokus auf den deutschsprachigen Raum; sie können zumindest in Teilen aber auch auf andere Kontexte (etwa außerschulische Bildung und die Hochschulbildung) übertragen werden, in denen momentan ähnlich gelagerte Debatten geführt werden (etwa über Meinungsfreiheit, Neutralität, Indoktrination).
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Was als politisch relevant gilt und was nicht, kann (auch im Unterricht) selbstverständlich selbst – zumindest in Teilen – genauso kontrovers diskutiert werden wie Unterscheidungen und Zuordnungsprobleme zwischen politischen, moralischen, ethischen Fragen und Betrachtungsweisen.
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Hierzu z. B.: Hannah Knuth, »Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen?«, in: Die Zeit, Nr. 26 vom 21. 6. 2018, S. 59; Justus Bender / Matthias Wyssuwa, »Grüße von der Bin-Laden-Baumschule«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 4. 2019, S. 3.
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Etwa Carolin Wilms, »Die Lehrer und die Politik«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. 3. 2019, S. C4.
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Vgl. Warnick/Smith 2014. An internationalen Debatten über kontroverse Themen im Unterricht sind eine Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen beteiligt, etwa aus den Fachdidaktiken, der Erziehungs- und Bildungsphilosophie und der politischen Philosophie der Erziehung und Bildung, die jeweils die relevanten Probleme mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen bearbeiten, die sich keineswegs wechselseitig ausschließen, sondern sich vielmehr ergänzen können.
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»Demokratie«, so lässt sich als begrifflicher Ausgangspunkt festhalten, »antwortet ihrem Begriffe nach auf den Zwang zu kollektivem Handeln unter den Bedingungen von Uneinigkeit mit den Kriterien der gleichen Beteiligung bei der Suche nach der Abgeltung der Interessen, der öffentlichen Prüfung der Wohlbegründetheit und internen Kohärenz der Argumente, der Umsetzbarkeit der kollektiv verbindlichen Entscheidungen, sowie mit der vorher festgelegten periodischen Revision der Entscheidungen durch Wahlen. In ihren ersten Prinzipien und Idealen aber ist Demokratie immer auch ein unabgeschlossenes moralisches Projekt, das in Spannung zu seinen tatsächlichen Errungenschaften steht« (Cheneval 2015, S. 13). Zugleich gilt, dass es ohne »politische Grundrechte keine Demokratie, und ohne Demokratie keine Möglichkeit [gibt], auf faire Weise über die Ausgestaltung von Rechten zu streiten« (Müller 2019, S. 148).
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Diese Sichtweise und die Hochschätzung sachorientierter Diskussion als unverzichtbarer Kulturtechnik in pluralistischen Gesellschaften hat sich in der Nachkriegszeit in der BRD nur langsam entwickeln und ansatzweise durchsetzen können. »Vom Gespräch unter Gleichgesinnten zur öffentlichen Diskussion zwischen den politisch-weltanschaulichen Lagern überzugehen und dabei andere Positionen als gleichberechtigt anzuerkennen und Kontroversen auszuhalten, war in der Gründerzeit der Bundesrepublik noch keineswegs selbstverständlich« (Schildt 2020, S. 219). Die pädagogische Vermittlung von politisch ambitionierten Diskussionspraktiken, wie sie bereits im Rahmen der Reeducation zum Abbau autoritärer Orientierungen und zum Aufbau einer demokratischen Kommunikationskultur vorgeschlagen und erprobt wurden, setzte zur Bewältigung der Folgen der diktatorischen NS-Gesellschaft auf eine »diskutierende Gesellschaft« als Leitvorstellung (ebd., S. 218; vgl. auch: Verheyen 2010). Zu den möglichen Gründen für die aktuelle Konjunktur metakommunikativer Interpretationsangebote und Zeitdiagnosen zu den Themen ›Streit‹, ›Dialog‹ etc. vgl.: Pörksen / Schulz von Thun 2020.
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Etwa in liberal-perfektionistischen oder politisch liberalen Konzeptionen; ich komme darauf zurück.
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Was konkret darunter zu verstehen ist, in diesem Sinne die Nöte, Interessen und Perspektiven anderer zu berücksichtigen, darf nicht advokatorisch vorgegeben werden, sondern ist selbst als Gegenstand der Kontroverse zu behandeln, wobei zugleich grundsätzlich zu akzeptieren ist, dass in demokratischen Auseinandersetzungen und Argumentationen immer auch Verluste und Niederlagen zu verbuchen und auszuhalten sind (Allen 2004).
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Dies ist als normative und nicht als begriffliche These zu verstehen. Der Terminus »demokratisch«, der enger gefasst ist als der Begriff der »politischen Bildung«, wird hier genutzt, um diese konstitutive normative Orientierung an demokratischen Grundwerten kenntlich zu machen. Dass sich Bildung und die Orientierung an demokratischen Grundwerten faktisch nicht notwendig wechselseitig bedingen, zeigt nicht zuletzt die deutsche Geschichte. Zur komplexen Frage, wie Bildung und Demokratie empirisch – national und global – zusammenhängen vgl. Brumlik (2018).
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Bei dieser Zielformulierung ist zu berücksichtigen, dass das Verhältnis von Autonomie (oder Mündigkeit) in einer Demokratie auch Widersprüche birgt: »Ohne Bildung und Wissen ist sie nicht denkbar, sie darf aber umgekehrt aus Gründen der Gleichheit auch nicht an bestimmte Grade von Bildung und Wissen gebunden werden und muss zudem die Pluralität differenter Deutungsmuster, Weltanschauungen und Lebensformen berücksichtigen« (Caruso/Schatz 2018, S. 5).
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Vgl. Brighouse 2006, S. 23 f. und Reichenbach 2020a, S. 210.
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Zur mittlerweile recht umfänglichen kompetenztheoretischen Debatte in der politischen Bildung vgl. Frech/Richter 2013.
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Dissenstauglichkeit muss sich dann keineswegs in Form von »Nachgiebigkeit, Kompromissbereitschaft oder dem Streben nach Harmonie« äußern, sondern kann durchaus auch »in der Leidenschaft für den Dissens, in der hartnäckigen Weigerung, sich auf alles einzulassen, was der kritischen Prüfung nicht standhält oder entzogen wird«, zum Ausdruck kommen (Günther 2009, S. 305).
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»We define deliberative democracy as a form of government in which free and equal citizens (and their representatives) justify decisions in a process in which they give another reasons that are mutually acceptable and generally accessible, with the aim of reaching conclusions that are binding in the present on all citizens but open in the future« (Gutmann/Thompson 1996, S. 7; Übers.: J. D.). Zentrale Referenzautoren sind darüber hinaus Dewey, Habermas u. a.
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In diesem Kontext wird dann in der Regel zwischen Deliberation und Diskussion unterschieden. Der spezifische Unterschied zwischen Diskussion und Deliberation wird manchmal so verstanden, dass erstere ein soziales Vorgehen darstellt, das von der Artikulation unterschiedlicher Sichtweisen ausgeht und auf die Hervorbringung eines gemeinsamen Verständnisses der relevanten Ideen abzielt. Letztere stellt eine spezifischere Form der Diskussion dar, die sich auf geteilte praktische Probleme bezieht, die eine kollektiv bindende Entscheidung verlangen (Hess/McAvoy 2015, S. 5 mit Bezug auf Parker 2003). Ich folge dieser analytischen Unterscheidung im Folgenden nicht, sondern spreche allgemein von Kontroversen, Diskussionen und Debatten über politisch relevante Fragen, welche als inklusivere Begriffe beide Kommunikationsmodi unter sich fassen.
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Um als legitim zu gelten, sollen diese Deliberationsprozesse zudem so gestaltet werden, dass sie sich an Gründen und Prinzipien orientieren, die wechselseitig rechtfertigbar sind. Je nach Rechtfertigungskonzeption und damit verbundenen Normen des öffentlichen Vernunftgebrauchs gehen damit unterschiedlich anspruchsvolle Begründungserfordernisse einher, die als Vorgaben für den konstruktiven Umgang mit Kontroversität selbst kontrovers diskutiert werden. Auch die spezifischen Anforderungen an die mit deliberativer Politik und Pädagogik verbundenen Begründungs- und Rechtfertigungsprozesse, die Kriterien und Bewertungsstandards für die Qualität und Legitimität kommunikativer Interaktion und genuiner Formen der Deliberation (im Unterschied zu anderen Formen der Diskussion; z. B. Englund 2006), ihre pädagogischen und politischen Funktionen, Ziele und Leitorientierungen (z. B. eher konsensorientiert oder eher orientiert am Umgang mit Dissens; Landemore/Page 2015) sowie deren praktische Umsetzung in pädagogischen Situationen sind daher selbst in Teilen umstritten.
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Darüber hinaus scheinen in einigen soziopolitischen Kontexten (z. B. USA) auch die schulischen Lerngelegenheiten, die mit der Praxis des Diskutierens kontroverser Themen im Unterricht verbunden sind, ungleich verteilt und abhängig vom sozioökonomischen Status der Schüler zu sein (Pace 2021).
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Liberale Perfektionisten vertreten in Abgrenzung von politisch liberalen (Nussbaum 2011; Giesinger 2019) und radikaldemokratischen (Westphal 2018) Positionen einen umfassenden Liberalismus (comprehensive liberalism). Eine solche Form des Liberalismus z. B. in der Tradition von Kant und Mill verbindet eine liberale Orientierung in der politischen Philosophie mit einer normativ gehaltvollen Konzeption dessen, was im Leben wichtig ist für Menschen und ihren Platz in der Welt (Waldron 2004, S. 91). Vertreter politisch liberaler Konzeptionen in der Tradition von Rawls beanspruchen dagegen, ihre Positionen von solchen umfassenden und in der Regel kontroversen Doktrinen unabhängig rechtfertigen zu können. Damit stehen unterschiedliche Formen des Umgangs mit Diversität und Kontroversität zur Debatte, die mit unterschiedlichen Konzeptionen von Rechtfertigung, Neutralität und Toleranz operieren. Grundsätzlich gilt, insbesondere für pädagogische Debatten, dass es ungleich viel leichter ist, perfektionistische Vorgaben zu kritisieren, als auf sie zu verzichten. Die Abgrenzung von radikaldemokratischen Ansätzen betrifft, grob gesprochen, vor allem Fragen nach der Rationalisierbarkeit und der Bewertbarkeit politischer Streitkultur, nach der Möglichkeit der Legitimation politischer Grundwerte und darauf abgestimmter pädagogischer Ordnungen und damit verbundene Probleme des Umgangs mit Kontingenz und Exklusion an den Grenzen dieser Ordnung.
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Herbst weist darauf hin, dass dies »für den Politikunterricht ggf. etwas anders gelagert ist, weil der BK zumeist in Curricula enthalten ist, die einen rechtlich verbindlichen Charakter haben« (2021, S. 7, Anm. 11). Darüber hinaus sind natürlich auch noch weitere rechtliche Rahmungen und Bezüge für die Deutung und Anwendung der entsprechenden Prinzipien relevant (vgl. Kap. 1.3).
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Grammes (2017) und Detjen (2017) weisen darauf hin, dass diese Prinzipien keineswegs erst in Beutelsbach erfunden wurden, sondern dass es natürlich schon Vorläuferversionen derselben, etwa in der Weimarer Republik, gab. Zu funktionalen Äquivalenten des BKs in der internationalen Debatte vgl. ebenfalls Grammes (2017). Zu diskutieren wäre, ob sich ein globaler und universalistischer Orientierungsrahmen für den Umgang mit kontroversen Themen begründen ließe (Gebauer 2016) und ob der Fokus auf Kontroversität im Unterricht eine kulturspezifische Orientierung darstellt, die sich ggf. in divergierenden Leitmetaphern ausdrückt (etwa: ›Argumentation ist Krieg‹; hierzu: Lakoff/Johnson 2003 und auch: Sen 2005).
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So wird auch in der aktuellen Debatte immer wieder behauptet, dass es jenseits von (wissenschafts-)theoretischen Disputen und Letztbegründungsdebatten mit Bezug auf die relevanten pädagogischen Fragen durchaus einen Konsens im Umgang mit Kontroversität gebe, ein Befund, der angesichts der kontroversen (inter-)nationalen erziehungstheoretischen Diskussion über den praktischen Umgang mit Kontroversen verblüffen muss.
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Zur Debatte über dialogisches Unterrichten und über dialogische Erziehung und Bildung: Burbules (1993); Mercer/Major/Wegerif (2020).
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Vgl. die Überblicke in Hess 2002; 2009; Hess/McAvoy 2015; Doney/Wegerif 2017; Reinhardt 2019, Gronostay 2019 und Pace 2021.
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Etwa durch die kognitiven und emotionalen Dissonanzen, die Kontroversen bei Schülern auslösen und die als Lern- und Bildungsprozesse initiierender »Motor für Weiterentwicklung« gedeutet werden können, oder aufgrund einer »Strukturadäquanz« zwischen »dem Gegenstand demokratische Politik und dem Lernarrangement, so dass die Form der Interaktion die Struktur des Gegenstandes repräsentieren kann« (Reinhardt 2019, S. 71).
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Dies gilt auch auf Grund der Problematik der Extrapolation und Übertragkeit von Forschungsergebnissen und ihrer Nutzung auf unterschiedliche kulturelle und soziopolitische Kontexte. Was in einem Kontext auf gute Art und Weise funktionieren mag, lässt sich nicht ohne weiteres auch in einem anderen Kontext nutzen, wenn Schüler z. B. andere Vorerfahrungen (auch im Umgang mit Diskussionspraktiken) mitbringen.
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»[…] educators use many approaches to discussion, and virtually all of them are embedded in a course of study that includes a number of other components as well. Thus, measuring the influence that discussion of controversial issues has on particular outcomes is difficult« (Hess 2009, S. 33; Übers.: J. D.).
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»The politically authentic criterion distinguishes between what is bandied about in general society as a matter of controversy and that which has entered the authentic political sphere of decision-making. Using this standard, political issues are controversial when they have traction in the public sphere, appearing on ballots, in courts, within political platforms, in legislative chambers, and as part of political movements« (Hess/McAvoy 2015, S. 168 f., Übers.: J. D.; vgl. auch die Position von Schiele 1996b, S. 4).
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»[…] a matter is controversial if contrary views can be held on it without those views being contrary to reason. By ›reason‹ here is not meant something timeless and unhistorical but the body of public knowledge, criteria of truth, critical standards and verification procedures which at any given time has been so far developed« (Dearden 1981, S. 85, Übers.: J. D.).
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»A matter is controversial when contrary views can be held on it without being contrary to reason« (Hand 2007, S. 6, Übers.: J. D.).
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»[…] teachers have an obligation to endorse views for which the relevant evidence and argument is decisive, regardless of whether there are people who sincerely hold contrary views« (Hand 2014, S. 79, Übers.: J. D.).
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Damit gemeint sind: zentrale Grund- und Menschenrechte; personale und politische Autonomie, Wertepluralismus sowie Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit u. a.
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Für verwandte Versionen eines politischen Kriteriums: Archard 2002; Petrovic 2013, sowie auch schon die Diskussion zur normativen Rechtfertigung eines Konsenses in der politischen Bildung in: Schiele/Schneider 1977. Die Grundwerte liberaler Demokratien, die hier liberal-perfektionistisch verstanden und begründet werden, sind gleichwohl in unterschiedlichen politischen Systemen in variierender Form rechtlich kodifiziert, in den politischen Kulturen etabliert und auch in den öffentlichen Bildungssystemen verankert, was ein Indikator für die vielen Auslegungsdifferenzen und -spielräume darstellt, die diese Werte ermöglichen. Daraus folgt jedoch weder eine Beliebigkeit und radikale Flexibilität der Deutungsmöglichkeiten noch, dass es nicht klare Grenzen gibt, ab wann es jeweils nicht mehr plausibel sein kann, von einer liberalen Demokratie und einer auf deren Grundwerte abgestimmten Form der Demokratieerziehung zu sprechen.
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Das hiermit verbundene moderat partikularistisch-kasuistische Caveat, welches nicht mit einem radikalen Situationismus zu verwechseln ist, der die Kriteriendebatte für überflüssig hält (Saetra 2019), richtet sich gegen die praxisferne Vorstellung einer simplen exercise in deduction von programmatisch postulierten Kriterien, die die Anwendungs- und Rezeptionskontexte und damit verbundene Vermittlungsprobleme nicht hinreichend berücksichtigt – ohne damit aber den Anspruch auf domänen- und -fächerübergreifende Geltung und Anwendbarkeit aufzugeben.
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Zu berücksichtigen ist hier die für die Praxis der Wissenschaft konstitutive Strittigkeit der Gestaltung, Deutung und Anwendung von normativen Vorgaben, d. h. von Methodologien für den Umgang mit Theorien und von sozialen Regeln für das Verhalten von Wissenschaftlern (Ethos der Wissenschaft). Regelwerke enthalten ›in der Regel‹ Regeln und Gegenregeln, Normen und Gegennormen, ohne strikt vorzugeben, welche Regeln in welchen Situationen wie anzuwenden sind. Vgl. hierzu: Mulkay 1980; Spinner 1985.
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Mit Rekurs auf Grundwerte zu argumentieren ist natürlich nicht ohne Risiken, da auf diese Art und Weise Debatten in Demokratien schnell in Debatten über Demokratien und ihre normativen Grundlagen umgeformt werden können, die auf Grund ihres Exklusionspotenzials – der politische Gegner wird als Feind liberaler Demokratie klassifiziert – sich schnell zu gefühlten oder realen Krisen der Demokratie wandeln können (Manow 2020). Dennoch gilt, dass bestimmte Formen der Exklusion und der Grenzziehung legitim sein müssen: »Aber man beachte, dass die klare Grenzziehung zwischen akzeptablen und schlicht inakzeptablen Haltungen idealerweise auch ein deutliches Signal an die Populisten sendet: es wird nie möglich sein, mit ihnen zusammenzuarbeiten, solange sie sich nicht von ihrem Antipluralismus (und konkret: ihrer Volksverhetzung und ihren Verschwörungstheorien) verabschieden. Aber man schließt sie nicht für alle Ewigkeiten aus; der Ball liegt in ihrer Hälfte; es ist an ihnen, sich zu ändern« (Müller 2019, S. 105).
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Die Frage, ab wann es entwicklungspsychologisch angemessen und pädagogisch legitim ist, Kindern die Auseinandersetzung mit kontroversen Themen zuzumuten, wird selbst kontrovers diskutiert. Die Annahmen changieren zwischen 5 und 16 Jahren. Auch wenn es hier zwar sicherlich auch auf das spezifische Thema ankommt, spricht wenig dagegen, dass nicht auch schon kleinere Kinder pädagogisch vorbereitete Diskussionen führen können (Cowan/Maitles 2012).
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Zur Debatte über ›Demokratie als Lebensform‹ vgl. Himmelmann 2017.
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Eine solche Erziehung kann jedoch durchaus autonomiekonform gestaltet werden: Drerup 2020b.
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Diese hat Kant in der bekannten Frage zusammengefasst: Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Hierzu: Drerup 2013.
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Diese Überlegungen verdanke ich Gesprächen mit Dorothee Gronostay.
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Schülern dürfen durch die Äußerung politischer Positionen keine Nachteile bei der Notenvergabe erwachsen (Wrase 2020), was nicht bedeutet, dass man die Qualität der Argumentationsbeiträge nicht bewerten kann oder darf. Praktisch gehen Lehrer sehr unterschiedlich mit dieser Problematik um (Hess/McAvoy 2015).
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Vgl. den Überblick in Andersson 2016.
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Die Diskussion kontroverser Themen im Unterricht wird auch als Methode der Extremismusprävention genutzt (Gebauer 2018).
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»[A] conspiracy theory can be generally counted as such if it is an effort to explain some event or practice by reference to the machinations of powerful people, who have also managed to conceal their role« (Sunstein/Vermeule 2013, S. 205; Hervorh. i. O., Übers.: J. D.)
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Die Petition findet sich unter: https://www.change.org/p/das- dilemma-der-mohammed-karikaturen-ein-pflichtthema-an-deutschen-schulen-das-dilemma-der-mohammed-karikaturen-ein-pflichtthema-an-deutschen-schulen.
Konstruktiv streiten zu lernen ist ein zentrales Ziel demokratischer Erziehung und Bildung. Die Diskussion kontroverser Fragen und Streitthemen gilt als demokratische Praxis par excellence und zugleich als wichtige praktische Methode, um demokratiepädagogische Leitziele wie z. B. personale Autonomie, Respekt und Toleranz zu erreichen. Indem Schülerinnen und Schüler miteinander im Unterricht über kontroverse Fragen diskutieren, lernen und erfahren sie – so die Idee und das Ideal –, was es bedeutet, in einer liberalen Demokratie zusammenzuleben, und worauf eine funktionstüchtige Demokratie angewiesen ist. Sie lernen, über die Plausibilität und Geltung von Gründen zu diskutieren, dabei fragwürdige Überzeugungen zu überprüfen und Konsensmöglichkeiten abzuschätzen, aber auch mit Dissens zu leben und sich trotz Meinungsverschiedenheiten wechselseitig als freie und gleichberechtigte Personen zu respektieren. Die pädagogische Initiation in die Praxis des demokratischen Streits soll sie dazu befähigen, sich gemeinsam auf eine sachlich angemessene, zivile und tolerante Art und Weise über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu verständigen.1
In öffentlichen Schulen2 stellt die Diskussion politisch relevanter Themen – also solcher Themen, die sich auf Fragen und Probleme des Zusammenlebens in liberalen Demokratien beziehen3 – eine fächerübergreifende Aufgabe dar, die sich sowohl aus theoretischen als auch aus praktischen Gründen nicht nur auf den Politikunterricht oder nur auf gesellschaftswissenschaftliche Fächer (etwa Wirtschaft oder Geschichte) beschränken lässt. Diskussionen über kontroverse Fragen von politischer Bedeutung können praktisch in allen Fächern aufkommen und sind daher für alle Fächer relevant, sei es nun den Philosophie- und Ethikunterricht (Debatten über Sterbehilfe), den Biologieunterricht (Debatten über Evolution oder Sexualität), den Religionsunterricht (Debatten über Religionsfreiheit oder die Freiheit der Rede) oder den Deutschunterricht (in dem – zunächst themenungebunden – die mündliche Debatte und die schriftliche Erörterung eingeübt werden). Demokratische Erziehung und Bildung sind also Aufgaben, die sich nicht auf einzelne Fächer beschränken lassen. Hitzig geführte gesellschaftliche Debatten machen weder vor Fächergrenzen noch vor den Schultoren halt und finden auf die eine oder andere Weise ihren Weg in den Klassenraum, der kein politikfreier Raum ist.
Es ist daher wenig verwunderlich, dass auch Fragen des angemessenen Umgangs mit kontroversen Themen im Unterricht selbst ein umkämpfter Gegenstand
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mit offenem Ausgang und mit Bezugnahme auf ein Spektrum von gleichermaßen angemessenen und legitimen Sichtweisen6Kriterienobwarum wie
Warum sollten kontroverse Themen im Unterricht behandelt werden?
Welche Themen sollten im Unterricht kontrovers diskutiert werden und welche nicht?
Wie sollte mit kontroversen Themen im Unterricht pädagogisch-praktisch umgegangen werden?
dialogorientierter Formate
kontroverse