Anna riss sich die Kleidung vom Körper und schrubbte sich von Kopf bis Fuß mit einem nassen Waschlappen in der Kochnische ihres Zimmers, als ob das Schrubben ihrer Haut den Teufel aus ihrem Leben und ihren Gedanken verbannen konnte.
Sie wünschte sich sehnlichst eine heiße Dusche, um Doktor Tretters Geruch von ihrer Haut zu spülen, aber so spät nachts waren die Gemeinschaftsduschen im Wohnheim bereits geschlossen.
Sie hasste Doktor Tretter mit jeder Faser ihres Seins, aber zumindest eines musste sie ihm lassen: Er traf immer Vorsichtsmaßnahmen, um sie nicht zu schwängern. Er tat dies natürlich nicht aus Rücksicht auf sie, sondern um einen Skandal für sich selbst zu vermeiden. Allein der Gedanke, das Kind des Teufels unter dem Herzen zu tragen, saugte die verbliebene Energie aus ihren Knochen, und sie musste sich an der Spüle festhalten, um nicht auf den Boden zu sinken. Ihr zierlicher Körper krampfte einige Sekunden lang heftig, bevor sie die Kontrolle wiedergewann.
Dann schlüpfte sie in ihr Nachtkleid und sank schließlich mit einer Tasse heißem Tee in der Hand und einem schweren Seufzer auf den einzigen Stuhl. Sie verbannte alle unangenehmen Gedanken und begutachtete den kleinen Raum, den sie ihr Eigen nannte. In der Ecke stand ein schmales Bett, daneben ein kleiner Beistelltisch mit einer Lampe, auf der anderen Seite, direkt neben der Tür, waren eine Garderobe und eine brusthohe Kommode. Ein abgenutzter Teppich lag in der Mitte des Raumes und darauf stand der Stuhl, auf dem sie saß, sowie ein Metalltablett, das sie als Behelfstisch benutzte. Die Kochnische bestand aus einer winzigen Herdplatte, einem Wasserkessel und der Spüle.
Die Krankenschwestern im Lager brauchten keine richtige Küche. Da sie ihre Mahlzeiten in der Kantine einnahmen, erhielten sie nicht einmal Lebensmittelkarten.
Anna wärmte ihre eiskalten Hände an der heißen Tasse, betrachtete den spärlich eingerichteten Raum und sehnte sich nach dem Tag, an dem ihr Dasein hier nichts als eine traurige Erinnerung sein würde. Obwohl das Zimmer wenig Gemütlichkeit bot, kehrte sie doch jeden Abend nach ihrer schrecklichen Arbeit hierher zurück und fühlte sich, als wäre es das Paradies auf Erden.
Hier konnte sie den Gräueln entfliehen, die draußen vor der Tür warteten. Tod. Krankheit. Demütigung. Schrecken. Schmerzen. Ihr kleines Reich bot Schutz vor den unerträglichen Grausamkeiten, die zur Normalität geworden waren.
Ihr Blick fiel auf das Telefon auf dem Nachttisch. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer in Berlin, wo ihre Mutter und ihre ältere Schwester Ursula lebten. Ursula war der Inbegriff des braven Mädchens und war im Gegensatz zu Anna in ihrer ganzen Kindheit und Jugend niemals in Schwierigkeiten geraten.
Anna konnte immer noch nicht glauben, wie sehr sich ihre Schwester im vergangenen Jahr verändert hatte. Nachdem ihr Mann gefallen war, hatte sie – Gefängniswärterin in Plötzensee – einen entflohenen britischen Piloten entkommen lassen. Ich frage mich, wie es ihm wohl geht. Lebt er noch?
„Ursula Hermann“, kam es durch die Leitung. Annas Herz machte einen Hüpfer der Erleichterung, als sie die Stimme hörte. Das Bild ihrer Schwester erschien vor ihrem inneren Auge: Wie Anna selbst und ihr jüngerer Bruder Richard hatte Ursula himmelblaue Augen und lange, blonde Haare.
„Ich bin’s“, sagte Anna und konnte einen Moment lang nicht weitersprechen, weil ihre Augen feucht wurden. „Wie geht es dir?“
„Anna, Liebes, frag doch nicht, wie es mir geht... Wie geht es dir?“
Anna nahm einen zittrigen Atemzug und bemerkte, wie eine Träne über ihre Wangen kullerte. „Ich... mir ging es schon besser.“
„Ist... du weißt schon... besucht er dich immer noch?“ Ursulas Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Fast jeden Tag. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Ich fühle mich so schmutzig“, schluchzte Anna in den Hörer.
„Schsch. Gibt es denn gar nichts, was du tun kannst?“
„Weißt du, als Elisabeth mir von ihrer Arbeit hier erzählt hat, habe ich ihr kein Wort geglaubt. Ich dachte, sie übertreibt, um sich wichtig zu machen.“ Anna erinnerte sich, wie Elisabeth zum ersten Mal in das Berliner Krankenhaus gekommen war, wo Anna gearbeitet hatte. Sie und Elisabeth hatten sich rasch angefreundet und die andere Krankenschwester hatte ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, warum sie um eine Versetzung von Ravensbrück in ein normales Krankenhaus ersucht hatte.
Elisabeth hatte sich durch die vergleichsweise gute Bezahlung und die besonderen Vergünstigungen wie zusätzliche freie Tage, Lederstiefel und einen warmen Wintermantel als Lagerkrankenschwester anwerben lassen – Dinge, von denen normale Bürger nur träumen konnten. Aber das freundliche Mädchen hatte die schrecklichen Dinge, die sie im Lager erlebt hatte, nicht ertragen können.
„Kannst du nicht um eine Versetzung bitten, wie Elisabeth es getan hat?“, fragte Ursula.
„Und Teufels Zorn riskieren?“ Anna hörte ein leises Klicken in der Leitung und fügte hinzu: „Außerdem bin ich dankbar für die Möglichkeit, so viel wie möglich zu lernen und gleichzeitig dem Reich zu helfen, sich von unseren Feinden zu befreien“.
Ursula begriff Annas Kode sofort. „Da bin ich ganz deiner Meinung. Auch meine Arbeit in Plötzensee ist so wichtig für die Kriegsanstrengungen. Ich wünschte, ich könnte noch mehr tun. Aber an manchen Tagen fühle ich mich überwältigt.“ Ursulas Stimme war so voller Elend, dass Anna sich schuldig fühlte, ihre Schwester auch noch mit ihren eigenen Problemen zu belasten.
„Wie geht es Mutter?“ Anna wechselte das Thema und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
„Sie hat die Hoffnung, Vater oder Richard jemals wiederzusehen, so gut wie aufgegeben. Seit der Nachricht, dass Richards Einheit in Minsk vernichtet wurde, haben wir keine weiteren Informationen erhalten. Weder dass er gefallen ist noch dass er noch am Leben ist.“
„Hast du ihr von T... erzählt?“, fragte Anna.
„Gott bewahre, natürlich nicht. Glaubst du wirklich, ich würde unserer Mutter erzählen, dass...?“
Natürlich hatte Anna nicht geglaubt, dass Ursula mit Mutter auf ein solch heikles Thema zu sprechen kommen würde. Aber Mutter war sehr intuitiv, was ihre Kinder betraf, und spürte in der Regel sofort, wenn etwas nicht stimmte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie eins ihrer Kinder so lange mit Vermutungen in die Enge trieb, bis diese die Wahrheit gestanden.
„Sie fragt auch nicht“, beendete Ursula Annas Gedankengang.
„Ich wünschte, wir könnten ihr gute Nachrichten bringen. Zum Beispiel, dass der Krieg vorbei ist und Richard und Vater bald nach Hause kommen.“
„Übrigens gibt es gute Nachrichten“, sagte Ursula.
„Erzähl!“
„Tante Lydia bekommt das Ehrenkreuz der Deutschen Mutter verliehen.“ Tante Lydia war Mutters jüngste Schwester. Mit siebzehn hatte sie den Sohn eines Bauern geheiratet und war zu ihm aufs Land nach Bayern gezogen. Seitdem hatte sie unermüdlich fast jedes Jahr ein Kind zur Welt gebracht. Die Jüngste, ein Mädchen namens Rosa, war im vergangenen Herbst geboren worden.
„Das sind wirklich gute Nachrichten. Es wird ihr Ansehen bei den Bezirksverantwortlichen weiter steigern.“ Anna wählte ihre Worte sorgfältig. Nach dem, was mit Lotte passiert war, hatte die ganze Familie Konsequenzen für Lydia und deren Kinder befürchtet. Aber die Tatsache, dass ihr Mann – wenn auch derzeit Soldat an der Front – gut vernetzt und in der Bauernschaft geschätzt war, hatte sie gerettet.
„Ja, Lydia rief an, um uns einzuladen zu Besuch zu kommen, wenn sie am Muttertag in einer feierlichen Zeremonie das Silberne Mutterkreuz verliehen bekommen wird“, sagte Ursula und seufzte dabei fast unhörbar.
„Wäre es nicht schön, nach Bayern zu reisen und Tante Lydia zu besuchen? Ich könnte ein paar Tage Erholung von der Arbeit gut gebrauchen.“ Und vom Teufel.
„Das Gleiche habe ich auch gedacht. Es ist sicherer auf dem Land als in Berlin mit den ganzen Luftangriffen unserer Feinde“, sagte Ursula.
„Seit wann bist du so besorgt um deine Sicherheit? Hast du mir nicht immer wieder gesagt, wie wichtig deine Arbeit als Gefängniswärter ist?“ Und nicht auf die Weise, wie ein Telefonzensor vermuten würde.
„Du hast recht, Anna. Natürlich werde ich meinen Kampfgeist bewahren und unser Land nicht enttäuschen.“
Anna kicherte beinahe über die Art, wie Ursula ihren Satz formulierte. Da viele Telefonate abgehört wurden, war es nie eine gute Idee, Führer und Vaterland auch nur andeutungsweise zu kritisieren. Die aufkeimende alberne Stimmung ließ sie daran denken, dass nicht alles in ihrem Leben düster war. „Oh, das hätte ich fast vergessen. Es gibt noch mehr gute Nachrichten. Ich wurde zu einer Abendveranstaltung bei Professor Scherer eingeladen.“
„Professor Scherer? Sollte ich den kennen?“
Anna seufzte. „Er ist nur der angesehenste Wissenschaftler Deutschlands auf den Gebieten der Medizin und Genetik.“
„Anna, Liebes, das ist wunderbar“, sagte Ursula mit einer Stimme, die zeigte, dass sie nicht wirklich verstanden hatte, wie phänomenal diese Einladung wirklich war. „Ich würde gerne weiterschwatzen, Schwesterherz, aber ich habe heute Nachtschicht und darf nicht zu spät kommen.“
„Pass auf dich auf.“
„Das tue ich, und du bitte auch. Wenn du mal wieder ein paar freie Tage hast, musst du uns unbedingt besuchen. Mutter würde sich freuen, dich mal wieder zu sehen.“
„Gute Nacht.“ Anna legte den Telefonhörer auf und starrte auf die graue Wand, während sie alle Gedanken an ihre grauenvolle Arbeit oder den schrecklichen Mann, der sie in der Gewalt hatte, beiseiteschob.