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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2014
Originalcopyright © 2013 by Rick Riordan
Originalverlag: Hyperion Books for Children, an imprint of the Disney Book Group
Permission for this edition was arranged through the Gallt and Zacker Literary Agency
Originaltitel: »The Heroes of Olympus – The House of Hades«
Umschlagillustration © Helge Vogt, trickwelt.com
Umschlagtypografie: formlabor
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Lektorat: Franziska Leuchtenberger
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92284-4
Für meine wunderbaren Leserinnen und Leser. Das mit dem letzten Cliffhanger tut mir leid. Na ja, vielleicht doch nicht. HAHAHAHAHA. Aber jetzt mal im Ernst: Ich liebe euch, Leute.
I
Hazel
Beim dritten Angriff hätte Hazel fast einen Felsquader gegessen. Sie lugte gerade in den Nebel und fragte sich, wie es so schwer sein konnte, einfach eine blöde Bergkette zu überqueren, als die Alarmglocken des Schiffes ertönten.
»Scharf backbord!«, schrie Nico vom Fockmast des fliegenden Schiffes.
Leo riss das Steuerrad herum. Die Argo II schlingerte nach links und ihre Luftruder durchschnitten die Wolken wie eine Reihe von Messern.
Hazel machte den Fehler, über die Reling zu blicken. Etwas Dunkles, Rundes jagte auf sie zu. Sie dachte: Was hat denn der Mond gegen uns? Dann wimmerte sie und schlug auf das Deck auf. Der riesige Felsbrocken flog so dicht über sie hinweg, dass er ihr die Haare aus dem Gesicht blies.
KRACK!
Der Fockmast stürzte um – Segel, Spiere und Nico knallten auf das Deck. Der Quader, der ungefähr so groß war wie ein Lieferwagen, jagte weiter in den Nebel, als ob er anderswo Dringendes zu erledigen hätte.
»Nico!« Hazel taumelte zu ihm hinüber, während Leo das Schiff wieder aufrichtete.
»Mir geht’s gut«, murmelte Nico und befreite sich mit heftigen Tritten vom Segeltuch.
Sie half ihm beim Aufstehen und sie stolperten zum Bug. Hazel schaute diesmal vorsichtiger über die Reling. Die Wolken unter ihnen teilten sich gerade lange genug, um den Gipfel des Berges sichtbar werden zu lassen, eine Speerspitze aus schwarzem Fels, die aus bemoosten grünen Hängen aufragte. Oben auf dem Gipfel stand ein Berggott – einer der vielen Numina montanum, wie Jason sie genannt hatte. Oder Ourae, auf Griechisch. Und egal wie sie genannt wurden, sie waren unangenehme Zeitgenossen.
Wie die anderen, mit denen sie schon Ärger gehabt hatten, trug auch dieser einen schlichten weißen Kittel und seine Haut war rau und dunkel wie Basalt. Er war an die drei Meter dreißig groß und ungeheuer muskulös, und er hatte einen weißen Rauschebart, struppige Haare und einen wilden Blick, wie ein verrückter Einsiedler. Er brüllte etwas, das Hazel nicht verstehen konnte, das aber sicher kein Willkommensgruß war. Mit bloßen Händen löste er einen weiteren Felsbrocken von seinem Berg und fing an, ihn zu einem Ball zu formen.
Die Szene verlor sich im Nebel, aber als der Berggott wieder losbrüllte, antworteten in der Ferne andere Numina, ihre Stimmen hallten in den Tälern wider.
»Blöde Felsgötter!«, schrie Leo am Steuerruder. »Jetzt musste ich den Mast schon zum dritten Mal erneuern! Meinen die, die wachsen auf Bäumen?«
Nico runzelte die Stirn. »Masten werden durchaus aus Bäumen gemacht.«
»Darum geht es hier nicht!« Leo schnappte sich eine seiner aus einem Nintendo-Wii-Stick hergestellten Fernbedienungen und ließ sie einen Kreis beschreiben. Einige Meter weiter öffnete sich eine Falltür im Deck. Eine Kanone aus Himmlischer Bronze kam zum Vorschein. Hazel konnte sich gerade noch die Ohren zuhalten, da schoss die Kanone auch schon ein Dutzend Metallkugeln in den Himmel, die grünes Feuer hinter sich herzogen. Die Kugeln fuhren mitten in der Luft Stacheln aus, wie Hubschrauberrotoren, und jagten in den Nebel davon.
Gleich darauf erscholl über den Bergen eine Serie von Explosionen, gefolgt von dem empörten Gebrüll der Berggötter.
»Ha!«, schrie Leo.
Leider, vermutete Hazel auf Grund ihrer beiden letzten Begegnungen, hatte Leos neueste Waffe die Numina nur verärgert.
Ein weiterer Felsblock schoss pfeifend steuerbords an ihnen vorbei durch die Luft.
Nico schrie: »Hol uns hier raus!«
Leo murmelte einige wenig schmeichelhafte Kommentare über Numina, drehte aber am Steuerrad. Die Motoren summten. Magische Takelage spannte sich selbst und das Schiff drehte nach Backbord ab. Die Argo II wurde schneller und zog sich nach Nordwesten zurück, wie schon an den beiden vergangenen Tagen.
Hazel entspannte sich erst, als die Berge hinter ihnen lagen. Der Nebel lichtete sich. Unter ihnen badete die italienische Landschaft in der Sonne – sanfte grüne Hügel und goldene Felder, gar nicht viel anders als die von North Carolina. Hazel konnte sich fast vorstellen, dass sie nach Hause ins Camp Jupiter segelte.
Diese Vorstellung presste ihr Herz zusammen. Camp Jupiter war nur für neun Monate ihr Zuhause gewesen, nachdem Nico sie aus der Unterwelt zurückgeholt hatte. Aber sie hatte größeres Heimweh danach als nach ihrem Geburtsort New Orleans, und auf jeden Fall mehr als nach Alaska, wo sie 1942 gestorben war.
Sie hatte Heimweh nach ihrem Etagenbett in der Hütte der Fünften Kohorte. Sie hatte Heimweh nach den Essen in der Messe, wo die Windgeister Schüsseln durch die Luft fliegen ließen und die Legionäre Witze über Kriegsspiele rissen. Sie wollte durch die Straßen von Neu-Rom wandern und dabei Frank Zhangs Hand halten. Sie wollte es ein einziges Mal erleben, ein normales Mädchen zu sein, mit einem lieben und fürsorglichen Freund.
Vor allem aber wollte sie das Gefühl haben, in Sicherheit zu sein. Sie hatte es satt, die ganze Zeit nur Angst und Sorgen zu kennen.
Sie stand auf dem Achterdeck, während Nico sich Mastsplitter aus dem Arm pulte und Leo auf dem Schaltpult des Schiffes Knöpfe drückte.
»Na, das war ja mal wieder zum Schießen«, sagte Leo. »Soll ich die anderen wecken?«
Hazel hätte fast Ja gesagt, aber der Rest der Mannschaft hatte die Nachtschicht hinter sich und Ruhe verdient. Sie waren von der Verteidigung des Schiffes erschöpft. Alle paar Stunden schien irgendein römisches Ungeheuer die Argo II für einen Leckerbissen gehalten zu haben.
Vor wenigen Wochen hätte Hazel nicht geglaubt, dass irgendwer einen Angriff von Numina verschlafen könnte, aber jetzt stellte sie sich vor, wie ihre Freunde unter Deck weiterschnarchten. Wann immer sie selbst sich für einen Moment aufs Ohr legen konnte, schlief sie wie eine Komapatientin.
»Sie brauchen Ruhe«, sagte sie. »Wir müssen uns allein einen anderen Weg überlegen.«
»Hm.« Leo starrte stirnrunzelnd seinen Bildschirm an. In seinem zerfetzten Arbeitshemd und den mit Schmieröl bespritzten Jeans sah er aus, als ob er gerade einen Ringkampf gegen eine Lokomotive verloren hätte.
Seit ihre Freunde Percy und Annabeth in den Tartarus gestürzt waren, hatte Leo fast ohne Pause gearbeitet. Er hatte noch wütender und gehetzter gewirkt als sonst.
Hazel machte sich Sorgen um ihn. Aber ein wenig erleichterte sie diese Veränderung auch. Immer wenn Leo lächelte und Witze machte, sah er zu sehr aus wie Sammy, sein Urgroßvater … und Hazels Freund, damals im Jahr 1942.
Himmel, warum musste ihr Leben bloß so kompliziert sein?
»Einen anderen Weg«, knurrte Leo. »Siehst du einen?«
Auf seinem Bildschirm leuchtete eine Karte von Italien. Der Apennin zog sich durch die Mitte des stiefelförmigen Landes. Ein grüner Punkt für die Argo II blinkte auf der westlichen Seite des Gebirges, einige Hundert Meilen nördlich von Rom. Ihr Weg war eigentlich einfach. Sie mussten zu einem Ort namens Epirus in Griechenland und zu einem Tempel, der das Haus des Hades genannt wurde (oder des Pluto, wie er bei den Römern hieß, oder, wie Hazel fand: der mieseste abwesende Vater der Welt).
Um nach Epirus zu kommen, brauchten sie nur nach Osten zu fliegen – über den Apennin und dann über die Adria. Aber das klappte einfach nicht. Immer wenn sie versucht hatten, das Rückgrat Italiens zu überqueren, hatten die Berggötter angegriffen.
Seit zwei Tagen flogen sie jetzt nach Norden und hofften, einen gefahrlosen Übergang zu finden, was ihnen aber nicht gelang. Die Numina montanum waren Söhne der Gaia, der Göttin, die Hazel am wenigsten leiden konnte. Das machte sie zu überaus entschlossenen Feinden. Die Argo II konnte nicht hoch genug fliegen, um ihren Angriffen auszuweichen, und trotz seiner vielen Verteidigungsvorrichtungen könnte das Schiff das Gebirge nicht überqueren, ohne zerschmettert zu werden.
»Das ist unsere Schuld«, sagte Hazel. »Nicos und meine. Die Numina wittern uns.«
Sie schaute kurz zu ihrem Halbbruder hinüber. Seit sie ihn vor den Giganten gerettet hatten, gewann er langsam seine Stärke zurück, aber er war noch immer schmerzlich mager. Sein schwarzes Hemd und seine Jeans hingen an seiner skelettdürren Gestalt. Lange dunkle Haare umrahmten seine eingesunkenen Augen. Seine olivbraune Haut hatte eine kränklich grünweiße Farbe angenommen, wie Baumsaft.
In Menschenjahren war er erst vierzehn, nur ein Jahr älter als Hazel, aber das war nicht die ganze Geschichte. Wie Hazel war Nico di Angelo ein Halbgott aus einer anderen Zeit. Er strahlte eine Art alte Energie aus – eine Melancholie, die dem Wissen entstammte, dass er nicht in die moderne Welt gehörte.
Hazel kannte ihn noch nicht sehr lange, aber sie verstand und teilte sogar seine Traurigkeit. Die Kinder des Hades (oder des Pluto, egal) hatten nur selten ein glückliches Leben. Und nach dem, was Nico ihr in der vergangenen Nacht erzählt hatte, stand ihre größte Herausforderung ihnen noch bevor, wenn sie das Haus des Hades erreichten – eine Herausforderung, die sie vor den anderen geheim halten musste, darum hatte er sie angefleht.
Nico packte den Griff seines Schwertes aus stygischem Eisen. »Erdgeister mögen die Kinder der Unterwelt nicht. So ist das eben. Wir gehen ihnen unter die Haut – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber ich glaube, die Numina könnten dieses Schiff ohnehin wittern. Wir haben die Athena Parthenos an Bord. Und die ist wie ein magischer Leuchtstrahl.«
Hazel schauderte es, als sie an die massive Statue dachte, die fast den ganzen Laderaum einnahm. Sie hatten so viel geopfert, um das Standbild aus einer Höhle unter Rom zu retten, aber sie wussten absolut nicht, was sie damit anfangen sollten. Bisher schien es nur dazu da zu sein, noch mehr Monster auf sie aufmerksam zu machen.
Leo fuhr mit dem Finger über die Karte von Italien. »Die Berge zu überqueren kommt also nicht in Frage. Aber die gehen in beide Richtungen ganz schön lange weiter.«
»Wir könnten das Meer nehmen«, schlug Hazel vor. »Um die italienische Südspitze herumsegeln.«
»Das ist noch weiter«, sagte Nico. »Und uns fehlt …«, seine Stimme versagte. »Du weißt schon … unser Meeresexperte, Percy.«
Der Name hing in der Luft wie ein heraufziehender Sturm.
Percy Jackson, Sohn des Poseidon … vermutlich der Halbgott, den Hazel am meisten bewunderte. Er hatte ihr auf der Reise nach Alaska so oft das Leben gerettet, aber als er in Rom Hazels Hilfe gebraucht hatte, hatte sie versagt. Sie hatte hilflos zugesehen, wie er und Annabeth in den Abgrund gestürzt waren.
Hazel holte tief Luft. Percy und Annabeth lebten noch. Das wusste sie in ihrem Herzen. Sie konnte ihnen noch immer helfen, wenn sie nur ins Haus des Hades gelangen könnte und wenn sie die Herausforderung überlebte, vor der Nico sie gewarnt hatte …
»Und wenn wir weiter nach Norden fliegen?«, fragte sie. »Es muss doch irgendwo eine Lücke zwischen den Bergen geben oder so.«
Leo spielte an der bronzenen archimedischen Kugel herum, die er auf dem Schaltpult angebracht hatte – sein neuestes und gefährlichstes Spielzeug. Immer wenn Hazel dieses Ding ansah, war ihr Mund wie ausgedörrt. Sie hatte Angst, Leo könnte an der Kugel die falsche Kombination einstellen und sie aus Versehen alle vom Deck schießen oder das Schiff in die Luft jagen oder die Argo II in einen riesigen Toaster verwandeln.
Aber sie hatten Glück. Die Kugel fuhr eine Kameralinse aus und zeigte über dem Schaltpult ein 3-D-Bild des Apennin.
»Weiß nicht.« Leo musterte das Hologramm. »Ich sehe im Norden keine Durchgänge. Aber die Idee gefällt mir trotzdem immer noch besser als ein Rückzug nach Süden. Mit Rom bin ich fertig.«
Es kam kein Widerspruch. Rom war keine angenehme Erfahrung gewesen.
»Egal, was wir machen«, sagte Nico, »wir müssen uns beeilen. Jeder weitere Tag, den Annabeth und Percy im Tartarus verbringen …«
Er brauchte diesen Satz nicht zu beenden. Sie mussten einfach hoffen, dass Percy und Annabeth lange genug überlebten, um die im Tartarus gelegene Seite der Tore des Todes zu finden. Dann – angenommen, die Argo II erreichte das Haus des Hades – könnten sie die Tore auf der sterblichen Seite öffnen, ihre Freunde retten, den Eingang versiegeln und damit die Truppen der Gaia daran hindern, immer wieder in der Welt der Sterblichen zu reinkarnieren.
Ja … bei dem Plan konnte wirklich nichts schiefgehen.
Nico starrte stirnrunzelnd die italienische Landschaft unter ihnen an. »Vielleicht sollten wir die anderen doch wecken. Diese Entscheidung betrifft uns schließlich alle.«
»Nein«, sagte Hazel. »Wir finden eine Lösung.«
Sie wusste nicht genau, warum ihr das so wichtig war, aber seit sie Rom verlassen hatten, hatte die Mannschaft ihren Zusammenhalt verloren. Sie hatten gerade gelernt, als Team vorzugehen. Dann, peng … die beiden wichtigsten Mitglieder fielen in den Tartarus. Percy war ihr Rückgrat gewesen. Er hatte ihnen Vertrauen eingegeben, als sie über den Atlantik und dann ins Mittelmeer gesegelt waren. Und Annabeth – sie war im Grunde die Anführerin bei diesem Einsatz gewesen. Sie hatte die Athena Parthenos ganz allein zurückgeholt. Sie war die Intelligenteste der sieben, diejenige, die immer eine Antwort wusste.
Wenn Hazel die restliche Mannschaft jedes Mal weckte, wenn sie ein Problem hatten, würden sie sich nur wieder streiten und jeden Rest Hoffnung verlieren.
Sie musste dafür sorgen, dass Percy und Annabeth stolz auf sie waren. Sie musste die Initiative ergreifen. Sie konnte nicht glauben, dass ihre einzige Rolle bei diesem Einsatz die war, vor der Nico sie gewarnt hatte – das Hindernis zu überwinden, das im Haus des Hades auf sie wartete. Sie verdrängte diesen Gedanken.
»Wir müssen kreativ denken«, sagte sie. »Wir brauchen einen anderen Weg, dieses Gebirge zu durchqueren, eine Möglichkeit, uns vor den Numina zu verstecken.«
Nico seufzte. »Wenn ich allein wäre, könnte ich schattenreisen. Aber mit einem ganzen Schiff geht das nicht. Und ehrlich gesagt, ich bin nicht mal sicher, ob ich genug Kraft hätte, um mich selbst zu transportieren.«
»Ich könnte vielleicht irgendeine Tarnung basteln«, sagte Leo. »Wie einen Rauchvorhang, der uns in den Wolken versteckt.« Er hörte sich nicht gerade begeistert an.
Hazel starrte die hügelige Landschaft an und dachte daran, was darunter lag – das Reich ihres Vaters, des Herrn der Unterwelt. Sie war Pluto nur einmal begegnet und ihr war nicht einmal klar gewesen, wer er war. Und sie hatte nie Hilfe von ihm erwartet – nicht in ihrem ersten Leben, nicht in ihrer Zeit als Geist in der Unterwelt, nicht, seit Nico sie in die Welt der Lebenden zurückgeholt hatte.
Thanatos, der Gott des Todes und der Diener ihres Vaters, hatte angedeutet, dass Pluto Hazel einen Gefallen damit tat, dass er sie ignorierte. Sie dürfte ja eigentlich gar nicht am Leben sein. Wenn Pluto sie zur Kenntnis nähme, würde er sie vielleicht ins Land der Toten zurückschicken müssen.
Was bedeutete, dass es eine sehr schlechte Idee wäre, sich an Pluto zu wenden. Aber dennoch …
Bitte, Dad, betete sie, ich muss einen Weg zu deinem Tempel in Griechenland finden – zum Haus des Hades. Wenn du da unten bist, dann zeig mir, was ich tun soll.
Ganz hinten am Horizont fing eine winzige Bewegung ihren Blick ein, etwas Kleines, Hellbraunes, das mit unglaublicher Geschwindigkeit über die Felder jagte und einen Dunststreifen hinter sich herzog wie ein Flugzeug.
Hazel konnte es nicht glauben. Sie wagte es kaum zu hoffen, aber er musste es sein … »Arion!«
»Was?«, fragte Nico.
Leo stieß einen Freudenschrei aus, als die Staubwolke näher kam. »Das ist ihr Pferd, Mann! Die Sache hast du total verpasst. Wir haben ihn seit Kansas nicht mehr gesehen!«
Hazel lachte – zum ersten Mal seit Tagen. Es war so schön, ihren alten Freund zu sehen.
Ungefähr eine Meile im Norden umkreiste der kleine hellbraune Punkt einen Berg und hielt auf dem Gipfel an. Das Pferd war nur schwer zu erkennen, aber als es sich aufbäumte und wieherte, war das noch auf der Argo II zu hören. Hazel hatte keine Zweifel mehr – es war Arion.
»Wir müssen zu ihm«, sagte sie. »Er will uns helfen.«
»Von mir aus.« Leo kratzte sich am Kopf. »Aber, äh, wir haben doch gesagt, dass wir mit dem Schiff nicht mehr auf dem Boden aufsetzen dürfen, weißt du noch? Du erinnerst dich, Gaia will uns vernichten und so.«
»Bring mich nur in seine Nähe, dann nehme ich die Strickleiter.« Hazels Herz hämmerte. »Ich glaube, Arion will mir etwas sagen.«
II
Hazel
Hazel war noch nie so glücklich gewesen. Na ja, abgesehen vielleicht vom Abend des Siegesfestes in Camp Jupiter, als sie Frank zum ersten Mal geküsst hatte … aber das hier war mindestens ein deutlicher zweiter Platz.
Sowie sie unten angekommen war, rannte sie zu Arion und schlang die Arme um seinen Hals. »Du hast mir so gefehlt!« Sie presste ihr Gesicht an die warme Pferdeflanke, die nach Meersalz und Äpfeln roch. »Wo hast du denn gesteckt?«
Arion wieherte leise. Hazel wünschte, sie könnte Pferdisch sprechen, wie Percy, aber sie verstand, worauf er hinauswollte. Arion hörte sich ungeduldig an und schien zu sagen: Jetzt nicht sentimental werden, Mädel. Komm schon!
»Ich soll mit dir gehen?«, tippte sie.
Arion bewegte den Kopf auf und ab und trottete auf der Stelle. Seine dunkelbraunen Augen funkelten vor Ungeduld.
Hazel konnte noch immer nicht glauben, dass er wirklich da war. Er konnte über jede Oberfläche laufen, sogar über das Meer; aber sie hatte befürchtet, dass er ihr nicht in die Alte Welt folgen würde. Das Mittelmeer war zu gefährlich für Halbgötter und ihre Verbündeten.
Er wäre auch nicht gekommen, wenn Hazel nicht in großer Gefahr schwebte. Und er wirkte so aufgeregt … Was auch immer ein furchtloses Pferd so nervös machte, müsste Hazel vor Angst schlottern lassen.
Aber sie war erleichtert. Sie hatte es so satt, seekrank zu sein. An Bord der Argo II kam sie sich ungefähr so nützlich vor wie eine Kiste voll Ballast. Sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, auch wenn es Gaias Territorium war. Sie war bereit loszureiten.
»Hazel!«, rief Nico vom Schiff. »Was ist da unten los?«
»Ist schon gut!« Sie ging in die Hocke und rief ein Goldnugget aus dem Boden. Sie hatte ihre Fähigkeit jetzt immer besser im Griff. Edelsteine schossen so gut wie nie mehr in ihrer Nähe aus dem Boden, und Gold aus der Erde zu ziehen war einfach.
Sie fütterte Arion mit dem Nugget, seiner Lieblingszwischenmahlzeit. Dann lächelte sie hoch zu Leo und Nico dreißig Meter über ihr, die sie vom oberen Ende der Leiter aus beobachteten. »Arion will mit mir irgendwohin.«
Die Jungen wechselten einen nervösen Blick.
»Äh …«, Leo zeigte nach Norden. »Bitte, sag mir, dass ihr nicht da reinwollt.«
Hazel hatte sich dermaßen auf Arion konzentriert, dass sie das Unwetter nicht bemerkt hatte. Eine Meile weiter, oben auf dem nächsten Hügel, hatte sich über einigen alten Ruinen – vielleicht den Überresten eines römischen Tempels oder einer Festung – ein Sturm zusammengebraut. Eine Windhose schlängelte sich am Hügel nach unten wie ein mit Tinte verschmierter schwarzer Finger.
Hazel hatte Blutgeschmack im Mund. Sie sah Arion an. »Da willst du hin?«
Arion wieherte, wie um zu sagen: »Aber klar doch!«
Na gut … Hazel hatte um Hilfe gebeten. War das die Antwort ihres Vaters?
Sie hoffte es, spürte aber, dass neben Pluto noch etwas anderes in diesem Sturm am Werk war … etwas Düsteres, Mächtiges und nicht unbedingt Freundliches.
Aber dies hier war ihre Chance, ihren Freunden zu helfen – zu führen, statt zu folgen.
Sie zog die Riemen ihres Kavallerieschwertes aus Kaiserlichem Gold fester an und schwang sich auf Arions Rücken.
»Mir passiert schon nichts!«, rief sie zu Leo und Nico hoch. »Bleibt, wo ihr seid, und wartet auf mich.«
»Wie lange denn?«, fragte Nico. »Was ist, wenn du nicht zurückkommst?«
»Keine Sorge, ich komme zurück«, versprach sie und hoffte, dass es stimmte.
Sie trieb Arion an, und sie schossen durch die Landschaft und voll auf den wachsenden Tornado zu.
III
Hazel
Der Sturm ließ den Hügel in einem wirbelnden Trichter aus schwarzem Dampf verschwinden.
Arion hielt genau darauf zu.
Dann waren sie auf dem Gipfel, aber es kam Hazel vor wie eine andere Dimension. Die Welt verlor ihre Farben. Die Wände des Sturms hüllten den Hügel in trübes Schwarz. Der Himmel war kochendes Grau. Die zerfallenden Ruinen waren so weiß gebleicht, dass sie fast leuchteten. Sogar Arions Karamellbraun war in ein dunkles Aschgrau verwandelt.
Im Herzen des Sturms stand die Luft still. Hazels Haut prickelte kühl, als wäre sie mit Alkohol eingerieben worden. Vor ihr führte ein Torbogen durch bemooste Mauern in eine Art Halle.
Im trüben Licht konnte Hazel nicht viel sehen, spürte aber, dass da etwas war, als wäre sie ein Stück Eisen in der Nähe eines großen Magneten. Die Anziehungskraft dieses Etwas war unwiderstehlich und zwang sie vorwärts.
Dennoch zögerte sie. Sie ließ Arion stehen bleiben und er trampelte ungeduldig auf der Stelle, der Boden knackte unter seinen Hufen. Wo er hintrat, wurden Gras, Erde und Steine weiß wie Frost. Hazel dachte an den Hubbard-Gletscher in Alaska – wie dessen Oberfläche unter ihren Füßen Risse bekommen hatte. Sie dachte daran, wie der Boden dieser schrecklichen Höhle in Rom zu Staub zerfallen war und wie Percy und Annabeth in den Tartarus gestürzt waren.
Sie hoffte, dass dieser schwarz-weiße Gipfel sich nicht unter ihr in nichts auflösen würde, aber sie beschloss, dass es besser war, in Bewegung zu bleiben.
»Na, dann los, Junge.« Ihre Stimme klang erstickt, als spräche sie in ein Kissen.
Arion trottete durch den steinernen Torbogen. Zerfallene Wände umgaben einen viereckigen Innenhof von der Größe eines Tennisplatzes. Drei weitere Tordurchgänge, einer in der Mitte jeder Mauer, führten nach Norden, Osten und Westen. Mitten auf dem Hof trafen sich zwei gepflasterte Wege und bildeten ein Kreuz. Nebel hing in der Luft – dunstige weiße Fetzen, die wogten und waberten, als ob sie lebendig wären.
Nicht einfach nur Nebel, ging es Hazel auf. Sondern der Nebel.
Ihr Leben lang hatte sie von diesem Nebel gehört – der übernatürliche Schleier, der die Welt der Mythen vor dem Blick der Sterblichen verbarg. Er konnte Menschen täuschen, sogar Halbgötter, und ließ sie Monster als harmlose Tiere oder Gottheiten als ganz normale Menschen sehen.
Hazel hatte ihn sich nie als Rauch vorgestellt, aber als sie zusah, wie er sich um Arions Beine wand und durch die zerfallenen Bögen des alten Hofplatzes schwebte, sträubten sich die Haare an ihren Armen. Auf irgendeine Weise wusste sie: Dieses weiße Zeug war pure Magie.
In der Ferne heulte ein Hund. Arion fürchtete sich normalerweise vor nichts, aber nun bäumte er sich auf und schnaubte nervös.
»Ist schon gut.« Hazel streichelte seinen Hals. »Wir machen das zusammen. Ich steige jetzt ab, in Ordnung?«
Sie glitt von Arions Rücken. Sofort machte er kehrt und rannte los.
»Arion, was …«
Aber er war schon in die Richtung verschwunden, aus der er gekommen war.
Von wegen, zusammen machen.
Wieder zerfetzte Geheul die Luft – diesmal ganz in der Nähe.
Hazel ging weiter zur Mitte des Hofes. Der Nebel klebte an ihr wie Raureif.
»Hallo?«, rief sie.
»Hallo«, antwortete eine Stimme.
Die bleiche Gestalt einer Frau tauchte am nördlichen Tor auf. Nein, Moment … sie stand am östlichen Eingang. Nein, dem westlichen. Nicht weniger als drei rauchige Bilder derselben Frau bewegten sich gemeinsam auf die Mitte der Ruinen zu. Die Gestalt war verschwommen, sie bestand aus dem Nebel, und ihr folgten zwei kleinere Dunstfetzen, die wie Tiere ihre Fersen umsprangen. Haustiere?
Sie kam in der Hofmitte an und ihre drei Formen schlossen sich zu einer zusammen. Diese Gestalt wiederum festigte sich zu einer jungen Frau in einem dunklen ärmellosen Gewand. Ihre goldenen Haare hatte sie hoch auf dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, im altgriechischen Stil. Ihr Kleid war so seidig, es schien zu fließen, als wäre der Stoff Tinte, die von ihren Schultern rann. Sie sah nicht älter aus als zwanzig, aber Hazel wusste, dass das keine Bedeutung hatte.
»Hazel Levesque«, sagte die Frau.
Sie war schön, aber totenbleich. Einmal, damals in New Orleans, hatte Hazel die Totenwache für eine verstorbene Klassenkameradin besuchen müssen. Sie erinnerte sich an den leblosen Körper des jungen Mädchens in dem offenen Sarg. Ihr Gesicht war sorgsam zurechtgemacht worden, sie sah aus, als ob sie schliefe, und Hazel hatte das entsetzlich gefunden.
Diese Frau erinnerte Hazel an das Mädchen von damals – nur waren die Augen der Frau offen und tiefschwarz. Als sie den Kopf schräg legte, schien sie sich wieder in drei verschiedene Gestalten aufzulösen … dunstige Schemen, die miteinander verschwammen, wie das Foto von jemandem, der sich zu schnell bewegt, um von der Kamera eingefangen zu werden.
»Wer seid Ihr?« Hazels Finger zuckten an ihrem Schwertgriff. »Ich meine … welche Göttin?«
Hazel war sich über eines im Klaren: Die Frau strahlte Macht aus. Alles um sie herum – der wirbelnde Nebel, der einfarbige Sturm, das gespenstische Leuchten der Ruinen –, das alles lag an ihrer Anwesenheit.
»Ah.« Die Frau nickte. »Ich gebe dir mehr Licht.«
Sie hob die Hände. Plötzlich hielt sie zwei altmodische Binsenfackeln in der Hand, die flackerndes Licht warfen. Der Nebel zog sich an den Rand des Hofes zurück. Zu den in Sandalen steckenden Füßen der Frau nahmen zwei pelzige Tiere feste Gestalt an. Eins war ein schwarzer Labrador Retriever. Das andere war ein langes graues, pelziges Nagetier mit einer weißen Fellzeichnung im Gesicht. Ein Wiesel vielleicht?
Die Frau lächelte gelassen.
»Ich bin Hekate«, sagte sie. »Die Göttin der Magie. Wir haben viel zu besprechen, wenn du diese Nacht überleben willst.«