LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Johann Wolfgang Goethe

Iphigenie auf Tauris

Von Mario Leis

Reclam

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Stuttgart: Reclam, 2002 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 83.)

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© 2005, 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2013
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960097-0
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015350-5

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personenkonstellation

4. Werkaufbau

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps / Filmempfehlungen

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

Am 29. April 1890 schrieb Theodor Fontane an Georg Friedländer über Johann Wolfgang von Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris Folgendes: »Wer mir sagt: ›Ich war gestern in Iphigenie, welch Hochgenuß‹, der lügt oder ist ein Schaf und Nachplapperer.«1

Doch kann man – auch bei berechtigter Kritik an Goethes Drama – dem großen Fontane sehr wohl widersprechen. Die Lektüre oder Aufführung der Iphigenie auf Tauris kann auch heute ein ästhetischer »Hochgenuß« sein, und das Schauspiel vermag auch durch seine moralische und »völkerrechtliche« Aktualität zu überzeugen.

Goethes Drama stützt sich auf zwei Traditionen des Iphigenie-Stoffes:

1. auf die Tragödie Iphigenie bei den Tauriern des griechischen Dramatikers Euripides (4. Jh. v. Chr.). Im Unterschied zu seinem Vorbild schrieb Goethe aber kein Drama, in dem die Götter das Handeln der Menschen bestimmen; im Zentrum seines klassizistischen Schauspiels steht vielmehr die Emanzipation des Menschen, die Befreiung von religiöser Fremdbestimmung. Friedrich Schiller weist 1802 ausdrücklich auf diese Modernität der Iphigenie auf Tauris hin: »Sie ist aber so erstaunlich modern und ungriechisch, dass man nicht begreift, wie es möglich war, sie jemals einem griechischen Stück zu vergleichen.« Im gleichen Atemzug aber kritisiert er das Drama: »Sie ist ganz nur sittlich; aber die sinnliche Kraft, das Leben, die Bewegung und alles, was ein Werk zu einem echten dramatischen specificiert, geht ihr sehr ab.« Im Unterschied zum Götz von Berlichingen, mit dem der junge Goethe seinen ersten Bühnenerfolg feierte und in dem wir sinnliche, bewegungsstarke Szenen finden, verlegt Goethe die dramaturgische Spannung des Iphigenie-Stoffes ganz in das Innere der Personen. Daher bietet der äußere Ablauf des Stücks auf der Bühne nur wenig Aufregendes und Bewegtes, vielmehr beherrschen dialogische und monologische Reflexionen das Stück, woran auch Fontane bei seiner Kritik sicherlich gedacht haben wird. Aber Goethe war seit 1786, dem Beginn seiner Italienreise, dem Vorbild der Antike verpflichtet, er orientierte sich an ihren verehrten Idealen wie Humanität, Streben nach Vollkommenheit und Ganzheit, dem Einklang von Geist und Natur, von Verstand und Gefühl. In diesem Zusammenhang wollte er das Wahre, Gute und Schöne in vollendeter Form literarisch darstellen; für sinnlich derbe Szenen blieb da kein Raum mehr.

Schon die Entstehungsgeschichte zeigt, wie Goethe um die Harmonie des Werkes gerungen hat. 1779 schrieb er die erste Prosafassung, mit der er wegen ihrer »schlotternden« Form unzufrieden war, in eine Blankversfassung um, aber auch diese »gemeßnere« Überarbeitung genügte ihm nicht. Erst 1786 gelang ihm eine Fassung, die ihn befriedigte, weil sie »mehr Harmonie und Stil« besaß. Seither gilt Iphigenie auf Tauris als Musterbeispiel des klassischen Dramas schlechthin.

2. Goethe bemühte nicht nur die Antike als Vorbild, sondern auch die Tradition der klassischen französischen Tragödie; die Schauspiele Jean-Baptiste Racines (1639–99), Molières (1622–1673) und Pierre Corneilles (1606–84) wurden gern in Weimar aufgeführt, zumal Herzog Carl August von Weimar, Goethes Förderer, ein Liebhaber der französischen Tragödie war; ihm zuliebe überarbeitete Goethe 1800/01 Voltaires (1694–1778) Mahomet (1741) für die Bühne. An den deutschen Höfen waren die klassischen französischen Tragödien und Komödien beliebt, weil die Adeligen damals stark von der französischen Sprache und Kultur geprägt waren.

Goethe erfüllt mit seiner Iphigenie auf Tauris die Regeln der »doctrine classique«, besonders was die Einheit von Zeit, Ort und Handlung betrifft; damit distanziert er sich von seiner Sturm- und-Drang-Phase, in der er mit seinem Götz von Berlichingen die Regeln der Tragödie radikal missachtete.

Racines Iphigenie (1674) galt ihm in formaler und inhaltlicher Hinsicht – mit gewissen Abweichungen – als Vorbild, den Namen Arkas etwa, der bei Euripides nicht vorkommt, übernimmt er aus Racines Drama.

2. Inhalt

Das Schauspiel Iphigenie auf Tauris besteht aus fünf Aufzügen. 1779 schrieb Goethe eine erste Prosafassung, 1781 bereits eine zweite. Am 6. April 1779 wurde die erste in Weimar uraufgeführt. 1780 folgte dann die erste Versfassung in freien Jamben, schließlich vollendete Goethe 1786 unter Mithilfe von Karl Philipp Moritz die zweite Versfassung in Blankversen; sie kam am 15. Mai 1802 in Weimar auf die Bühne.

Antiker Stoff

Der Stoff zu Iphigenie auf Tauris stammt aus der griechischen Tantalidensage: Tantalos, ein mächtiger Titan, Sohn des Zeus und der Pluto, darf an der Tafel der Götter speisen. Vor lauter Übermut stellt er die Allwissenheit der Götter auf die Probe: Er schlachtet seinen Sohn Pelops und serviert ihn als Mahl an der Göttertafel. Außerdem verrät er den Menschen die Pläne, welche die Götter für die Erde beschlossen haben. Zur Strafe verdammt Zeus den Titanen zu ewigen Qualen in die Unterwelt und verflucht seine Nachkommen, so zum Beispiel Atreus und seine beiden Söhne Agamemnon und Menelaos. Auch die Kinder von Agamemnon und Klytämnestra: Elektra, Iphigenie und Orest sind dem Familienfluch (vgl. 306–432) ausgeliefert.

Den dramaturgischen Kontext zu der Familientragödie liefert der Kampf um Troja. Agamemnons Bruder Menelaos ist mit Helena vermählt, doch sie wird von Paris, dem Sohn des trojanischen Königs Priamos, geraubt und nach Troja verschleppt. Die Griechen machen sich auf den Weg, die Entführte zurückzuholen, mit ihrer Flotte wollen sie von Aulis zum Kampf gegen Troja aufbrechen, doch es herrscht Windstille, und die Schiffe müssen zunächst im Hafen liegen bleiben. Die Göttin der Jagd, Artemis (Diana), verspricht den Griechen den ersehnten Wind unter der Bedingung, dass Agamemnon ihr seine Tochter Iphigenie opfert; der ist mit dieser Forderung einverstanden.

Während der Opferzeremonie aber entführt Artemis Iphigenie in einer Wolke auf die taurische Halbinsel, wo sie den barbarischen Skythen als Priesterin dient. Es gehört zu ihren Aufgaben, Fremde, die an die Küste verschlagen werden, zu opfern.

Der siegreiche Agamemnon wird, als er aus Troja heimkehrt, von seiner Frau und ihrem Liebhaber Aigisthos ermordet. Sein Sohn Orest wird daraufhin vom delphischen Apollon aufgefordert, den Tod seines Vater zu rächen, und bringt sowohl seine Mutter als auch Aigisthos um. Wegen des Muttermordes verfolgen die Erinnyen, die Rachegöttinnen, Orest. Das Delphische Orakel verspricht ihm Erlösung, wenn er die hölzerne Kultfigur der taurischen Artemis nach Griechenland holen würde.

Als Orest und sein Freund Pylades auf der taurischen Halbinsel erscheinen, erkennt Iphigenie ihren Bruder. Sie hintergeht zusammen mit den beiden Männern den Taurerkönig Thoas, und die drei Griechen entkommen mit der geraubten Kultfigur in die Heimat. Orest erhält die ersehnte Erlösung und wird König von Mykene, Iphigenie versieht ihren Dienst nun als Priesterin in Attika.

Erster Aufzug

1. Iphigenie betritt den Schauplatz der gesamten Handlung, den Hain vor dem Tempel der Göttin Diana. Sie beschreibt ihr Schicksal als »zweiten Tod« (53), weil sie ihre griechische Heimat und ihre Familie vermisst; zudem erfüllt sie ihren Dienst als Priesterin bei dem Taurerkönig Thoas nur mit »stillem Widerwillen« (36). Als bedauernswert beschreibt sie auch den »Zustand« (24) der Frauen: Sie müssen ihr Leben den Männern unterordnen; schließlich bittet sie am Ende des Auftritts ihre Gönnerin, die Göttin Diana, sie von ihrem »Leben hier« (53) zu befreien.

2.