Hermann Simon

Die Wirtschaftstrends der Zukunft

 

 

 

 

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Information zum Buch

Unsere Art des Wirtschaftens verändert sich gegenwärtig grundlegend. Der Managementexperte Prof. Simon denkt über den Tag hinaus. Er macht die sechs wichtigsten Trends aus, die in der Businesswelt der Zukunft eine fundamentale Bedeutung haben. Hierzu zählen vor allem die beschleunigte Globalisierung, eine engere Verzahnung von Management und Kapital sowie die totale Vernetzung. Diese Trends haben sich durch die Wirtschaftskrise noch verstärkt und beschleunigt. In prägnanter Weise richtet sich Simon gegen zu kurz greifende Trendforschung und ruft zum Durchdenken der langfristigen Entwicklungen auf. Nur wenn die Trends unserer Wirtschaft ausreichend berücksichtigt werden, vermeiden Unternehmen eine Schieflage.

 

Die Zukunft ist da, bevor wir mit ihr rechnen

Informationen zum Autor

Prof. Dr. Hermann Simon ist Chairman des Consultingunternehmens Simon, Kucher & Partners. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. Simon, Kucher & Partners istdie führende deutsche Unternehmensberatung für Vertrieb und Marketing.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2011 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln

 

ISBN der Printausgabe: 978-3-593-39363-6
E-Book ISBN: 978-3-593-41089-0

 

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|9|Einleitung
Sechs Wirtschaftstrends unserer Zukunft

In den letzten Jahren hat sich unser Blick auf die Zukunft verändert. Dies mag uns verunsichern. Aber wir können diese Entwicklung nicht aufhalten, denn die Welt bleibt nicht stehen. Längerfristige Wirtschaftstrends, die durch die Krise teilweise unterbrochen wurden, setzen sich in der »Nachkrisenzeit«1 durch und bestimmen unsere Zukunft. Ein Blick nach vorne lohnt deshalb gerade heute. Viele Megatrends sind offensichtlich und schon in vollem Gange, »no-brainers«, wie die Amerikaner sagen. Dazu gehören das Vordringen erneuerbarer Energien, alternative Antriebssysteme bei Automobilen, die Fortschritte in Biotechnologie sowie Medizintechnik. Auch Samuel Huntington scheint mit seiner These des sich verschärfenden »Kampfes der Kulturen« Recht zu behalten.2 Desgleichen dürfte der amerikanische Politologe Robert Kagan richtig liegen, wenn er – anspielend auf das nach dem Fall des eisernen Vorhanges von Francis Fukuyama publizierte Buch »The End of History«3 – nun »The Return of History and the End of Dreams« im Sinne des Entstehens neuer Machtblöcke propagiert.4 Solche großen gesellschaftlichen und politischen Trends sind nicht Gegenstand des vorliegenden Buches.

Hier geht es vielmehr um Entwicklungslinien, die Management und Unternehmensführung sehr konkret betreffen. Die sechs Wirtschaftstrends, die dieses Buch behandelt, haben sich schon teilweise manifestiert, teilweise sind sie erst im Entstehen begriffen. Sie werden sich weiter konkretisieren, beschleunigen und verstärken. Sie beeinflussen die zukünftigen Chancen und Risiken erfolgreicher Unternehmensführung in starkem Maße. Mein Ziel ist es, klare Diagnosen zu stellen und daraus praktische, handfeste Empfehlungen für das Management abzuleiten. Wer sich auf die Wirtschaftstrends unserer Zukunft einstellt und vorausschauend die richtigen Weichen stellt, der wird von den gewonnenen Einsichten profitieren.

 

|10|Beschleunigte Globalisierung

 

Eine Vielzahl von Indikatoren belegt, dass die Globalisierung in den letzten drei Jahrzehnten enorm an Fahrt gewonnen hat. Die grenzüberschreitenden Aktivitäten sind weitaus stärker gewachsen als die landesinterne Wertschöpfung. Vieles spricht dafür, dass sich dieser Trend fortsetzen und sogar noch verstärken dürfte. Ich spreche deshalb von beschleunigter Globalisierung.

Die Globalisierung von Unternehmen läuft in typischen Phasen ab. Am Anfang steht der reine Export, dann folgen die Gründung ausländischer Vertriebsgesellschaften und später die Produktion im Ausland. In diesem Prozess internationalisiert sich die Belegschaft. So haben die meisten international aktiven deutschen Unternehmen heute mehr Mitarbeiter im Ausland als in Deutschland. Kann man ein Unternehmen, das 60 oder 80 Prozent seiner Mitarbeiter in anderen Ländern beschäftigt, noch als »deutsch« bezeichnen? Zunehmend rücken weitere Funktionen wie Forschung und Entwicklung an ausländische Standorte nach. Als letzte Phase folgt schließlich die Globalisierung des Managements. Immer mehr Unternehmen treten in das Stadium ein, in dem Mitarbeiter und Führungskräfte aus unterschiedlichen Kulturen im Alltag zusammenarbeiten. Harvard-Professor Howard Gardner, Erfinder des Konzepts der multiplen Intelligenzen, qualifiziert deshalb in seinem Buch »Five Minds for the Future« den Respekt für andere Kulturen als eine Schlüsselfähigkeit der Zukunft.5 Wo stehen Deutschland und deutsche Unternehmen in dieser Hinsicht? In vielen Aspekten wie Exportstärke, Wettbewerbsfähigkeit unseres Systems, geostrategische Lage schneiden wir hervorragend ab. Auf anderen Feldern wie Demografie, Management der Zuwanderung, Gewinnung internationaler Talente belegen wir allenfalls mittlere, wenn nicht sogar hintere Plätze. Gleichzeitig holen große Länder wie China oder Indien mit rapiden Schritten auf. Insbesondere chinesische Unternehmen erweisen sich als zunehmend gefährliche Konkurrenten für deutsche Mittelständler. Was sind die Antworten auf diese neue Herausforderung? Und welche Chancen bieten sich? Wie sehen die Strategien der Zukunft aus, die diese Chancen nutzen und die Gefahren im Zaum halten?

 

|11|Stärkere Einflussnahme der Politik

 

Die Wirtschaftskrise hat den Trend zur stärkeren Einflussnahme der Politik, vor allem im Finanzsektor, massiv befördert. Unabhängig davon läuft die Maschinerie der staatlichen Intervention seit Jahren mit zunehmender Intensität. Die Einflussnahme wird dabei immer detaillierter (siehe EU-Regelungen) und kann alle Managementinstrumente betreffen (man denke beispielsweise an Vorschriften zur Managementvergütung). Selbst Kerngeschäftsprozesse sind nicht mehr tabu. So schlägt der Yale-Ökonom Shiller unabhängige Finanzberater vor, die vom Staat bezuschusst werden und pro Beratungsstunde vom Kunden bezahlt werden, aber ansonsten keine weiteren Provisionen erhalten. In einem weiteren Vorschlag verlangt er für Privatleute Kreditversicherungen, die ähnlich wie die Kfz-Versicherung Pflicht sind. Manager werden sich immer stärker mit derartigen Vorschriften herumschlagen müssen. Das Thema Compliance schränkt die Unternehmensführung nachhaltig ein. Gleichzeitig verringern sich die Spielräume der Politik aufgrund der exorbitanten Verschuldung. Das Manövrieren in dieser Gemengelage wird zunehmend schwieriger.

Damit wird die Fähigkeit des Managements, den politischen Willensbildungsprozess zu beeinflussen und innerhalb verstärkter Interventionen zu agieren, wichtiger. Der Lobbyismus ist eine Wachstumsbranche der Zukunft.

 

Engere Verzahnung von Management und Kapital

 

Eines der großen Themen unserer Zeit ist die Angleichung der Interessen von Eigentümern und angestellten Managern. Ein naheliegendes Verfahren besteht darin, Manager verstärkt zu Miteigentümern zu machen. Viele der Probleme der Vergangenheit wurden durch Aktienoptionen ausgelöst, die Manager zu einem Verhalten incentivierten, das letztlich nicht den Interessen der Eigentümer entsprach. Dieses Buch zeigt neue Wege zur Lösung dieses Problems auf. In engem Zusammenhang damit stehen Fragen der Finanzierung. Die Entwicklung von Unternehmen wird wesentlich stärker als bisher von den Finanzierungsmöglichkeiten bestimmt. |12|Kredite sind schwerer zu bekommen, diese Tendenz wird anhalten. Eigenkapital wird gegenüber Fremdkapital deutlich an Bedeutung gewinnen. Das ist eine der bleibenden Folgen der Krise, die aber ohnehin überfällig war. Die offensichtlich falsche Bewertung von Risiken hat zu massiven Fehlallokationen von Kapital und zu unrealistischen Renditeerwartungen geführt. Wenn Kredit in Zukunft ein knappes Gut wird, so muss vermehrter Eigenkapitaleinsatz die Lücke schließen. Dazu sind Innovationen in diesem Bereich erforderlich.

 

Tektonische Verschiebungen in der Produktwelt

 

Deutsche Produkte besetzen im weltweiten Wettbewerb vielfach Premiumpositionen. Diese sind durch überlegene Leistungen und interne Kompetenzen untermauert. Auch in Zukunft müssen diese Positionen verteidigt werden. Gleichzeitig entsteht aber am unteren Ende der Preisskala ein neues Segment, das sehr groß zu werden verspricht. Um in diesem Segment erfolgreich zu sein, ergeben sich neue Anforderungen im Hinblick auf Forschung und Entwicklung, Produktion und Vermarktung. Erste Erfahrungen zeigen, dass deutsche Unternehmen hier durchaus bestehen können. Dazu sind jedoch völlig neue Methoden und Vorgehensweisen erforderlich.

Außer im Automobilmarkt sind deutsche Unternehmen in den Luxussegmenten kaum vertreten. Doch auch diese Segmente wachsen stärker als die Mitte, insbesondere in aufstrebenden Ländern wie China. Die bisherige Vernachlässigung des Luxusgütersegments durch deutsche Firmen muss deshalb korrigiert werden.

Aufgrund der explosionsartig gestiegenen Leistungsfähigkeit und den gleichzeitig gesunkenen Kosten der Elektronik steht die Automatisierung nicht nur in der Industrie, sondern auch im Privatbereich vor einem Quantensprung. Wenige wissen, dass die deutschen Unternehmen auf diese Entwicklung bestens vorbereitet sind und sie mit vorantreiben. Das Fundament dieser Führungsrolle liegt darin, dass es hier nicht um reine Informationstechnologie, sondern um die Integration von IT und Mechanik geht.

 

|13|Nachhaltig verändertes Kundenverhalten

 

Die Wirtschaftskrise war eine Absatz- und keine Kostenkrise. Die Kunden haben Kaufverweigerung betrieben und ihr Verhalten verändert. Das Vertrauen in die Marktwirtschaft und insbesondere in den Finanzsektor ist möglicherweise nachhaltig beschädigt. Vieles spricht dafür, dass diese Verhaltensänderungen in die Nachkrisenzeit hinein Bestand haben werden. Nach einer derart schwerwiegenden Krise kann es fünf Jahre dauern, bis die Verbraucher das verloren gegangene Vertrauen wieder gewinnen sowie zu ihren alten Kauf- und Konsumgewohnheiten zurückkehren. Misstrauen und Angst vor der Zukunft, vor allem vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, bleiben für viele bestimmend. Die ungünstige Veränderung der Preiselastizität entwickelt sich nur langsam zurück. Harte Nutzen- und Kostenvorteile werden auf lange Zeit eine höhere Bedeutung behalten. Auf leichtfertige Käufe wird verzichtet. Spontankäufe hochpreisiger Artikel werden vermieden. Gestauchte Zeitpräferenz, striktere Finanzierung sowie Sicherheit sind weitere Facetten eines veränderten Kundenverhaltens. Diese neuen Gegebenheiten sollten jedoch nicht nur als Bedrohungen, sondern durchaus auch als Chancen verstanden werden, auf die strategische Antworten zu finden sind. Bei diesen kann es sich um erweiterte Garantien oder Probezeiten, großzügige Rücktrittsklauseln, erfolgsabhängige Bezahlung, Tauschgeschäfte, neue Servicemodelle, Vertiefung der Wertschöpfungskette oder ähnliche Maßnahmen handeln.

 

Totale Vernetzung

 

Das Internet ist bereits weit in die Unternehmensfunktionen vorgedrungen. Dennoch stehen wir wohl erst am Anfang. Die beiden ausschlaggebenden Fähigkeiten des Internets, nämlich die extrem kostengünstige Distribution digitaler Produkte sowie die Vernetzung großer Zahlen von Anbietern und Nachfragern, befinden sich geschäftlich betrachtet in einem frühen Stadium. Nur wenige Firmen nutzen die sich diesbezüglich bietenden Potenziale heute in einem optimalen Umfange. Apple hat die Chancen, die das Internet für die Distribution digitaler Inhalte bietet, am besten verstanden und zu seinen Gunsten genutzt. Integrierte Systeme wie |14|iPod, iPhone, iPad und die dazugehörigen Applikationen (»Apps«) haben das Tor in die Zukunft weit aufgestoßen und können zu Vorbildern für andere Contentanbieter werden. In der Nutzung der Vernetzungsfähigkeit des Internets ist bisher nur Google ein großer wirtschaftlicher Erfolg. Facebook scheint auf dem Weg dorthin. Doch wir werden viele neue Ansätze, Modelle und Erfolge sehen. Für traditionelle Anbieter wie Zeitungs- und Buchverlage wird sich die Welt radikal verändern.

 

Die Herausforderung: Effektivere Umsetzung

 

Angesichts der großen und schnellen Veränderung stellt sich eine übergeordnete Herausforderung, die effektivere Umsetzung. Obwohl sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahren vieles verbessert hat, hapert es nach wie vor in den meisten Unternehmen an einer effektiven und schnellen Umsetzung von Plänen und Entscheidungen. Managementeffizienz und -effektivität beginnen mit einer besseren Nutzung der knappen Ressource Zeit. Angesichts der Überflutung mit Information werden der Kampf gegen unproduktives Multitasking, der Umgang mit den neuen Kommunikationstools und die Vermeidung von Überorganisation zu noch wichtigeren Fähigkeiten von Managern. Dennoch verlieren hergebrachte Tugenden wie Realitätssinn, Vermeidung großer Fehler und Innovativität nichts von ihrer Bedeutung. Unternehmensführung bleibt spannend.

|15|Trend 1

Beschleunigte Globalisierung

Die Bedeutung der Globalisierung lässt sich schwerlich überschätzen. Fragt man sich, welcher Megatrend unser Leben in den letzten 50 Jahren am stärksten verändert hat, dann dürfte die allgemein akzeptierte Antwort »die Informationstechnologie« lauten. Stellt man die gleiche Frage in 30 oder 40 Jahren, dann bestehen gute Chancen, dass die Antwort »die Globalisierung« lauten wird – gerade für Unternehmen im deutschsprachigen Raum. Denn deutsche Unternehmen sind für eine sich beschleunigende Globalisierung bestens aufgestellt. Doch es stellen sich angesichts der Demografie und des Aufstiegs Asiens auch gigantische neue Herausforderungen.

Globalisierung als Wachstumstreiber

Man kann sagen, dass die Globalisierung erst vor wenigen Jahren begonnen und in kürzester Zeit enorm an Bedeutung gewonnen hat. Eine Vielzahl relevanter Indikatoren belegt diese Aussage auf eindrucksvolle Weise, wie Abbildung 1.1 veranschaulicht.

Die Abbildung zeigt, dass sich alle Indikatoren der Globalisierung vervielfacht haben. Die Zahl der Bücher zum Thema ist heute fast 160 Mal so hoch wie vor 30 Jahren (dies liegt allerdings auch an der niedrigen Ausgangsbasis). Besonders stark sind die grenzüberschreitenden täglichen Finanztransaktionen mit einem Indikator von 943 gestiegen. Hingegen haben sich die ausländischen Direktinvestitionen »nur« um das Vierfache gesteigert. Alle diese Wachstumsraten liegen deutlich über dem Anstieg der Bruttoinlandsprodukte in den entwickelten Ländern.

|16|Abbildung 1.1: Indikatoren der Globalisierung 1980–2007

Betrachtet man die Entwicklung der Weltexporte pro Kopf der Weltbevölkerung über einen wesentlich längeren Zeitraum, nämlich seit 1900, so zeigt sich eine deutliche Beschleunigung in den letzten Jahrzehnten. Abbildung 1.2 veranschaulicht dies.

Ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau (6 US-Dollar im Jahr 1900) wurden 50 Jahre für eine Vervierfachung benötigt. Die beiden Weltkriege zerstörten die internationalen Handelsstrukturen und warfen die Entwicklung der Exporte um Jahrzehnte zurück. In den nächsten 30 Jahren bis 1980 gab es ein sehr starkes Wachstum. Die nächste Verdoppelung auf knapp 1 000 US-Dollar brauchte dann 20 Jahre. Seit dem Jahr 2000 haben sich die Weltexporte pro Kopf innerhalb weniger Jahre wiederum verdoppelt, trotz des bereits hohen Niveaus.

In absoluten Zahlen bedeutet diese Entwicklung einen Anstieg des internationalen Güteraustausches von 9,9 Milliarden US-Dollar im Jahr 1900 (damals lag die Weltbevölkerung bei 1,65 Milliarden Menschen) auf 16 097 Milliarden US-Dollar6 in 2008 (Weltbevölkerung: 6,7 Milliarden Menschen). Das ist eine Steigerung um mehr als das 1 600-Fache. Der internationale Güteraustausch ist heute mehr als 1 600-mal so hoch wie vor 100 Jahren. Dabei sind Direktinvestitionen und Dienstleistungsexporte |17|(z. B. Finanzdienstleistungen, Softwareentwicklung oder Call-Center in Indien) nicht einmal eingerechnet. Vermutlich würde sich das Wachstum durch deren Einbeziehung nochmals verdoppeln. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die obigen Zahlen nicht inflationsbereinigt und generell mit Vorsicht zu genießen sind. Es geht uns hier nur um das Aufzeigen von Tendenzen und Größenordnungen. In diesem Sinne sprechen die Statistiken eine Sprache, wie sie eindeutiger nicht sein kann. Nehmen wir nur die Entwicklung von 2005 bis 2008, so hat sich das Volumen der Exporte um mehr als 5 Billionen US-Dollar erhöht. Länder und Unternehmen, die an diesem Spiel beteiligt sind, beziehen einen starken Schub aus diesem Wachstum. Ein weiterer aussagekräftiger Indikator ist der internationale Containerverkehr. Dessen Volumen ist in den Jahren von 2000 bis 2005 um 10,8 Prozent pro Jahr gewachsen. Bis 2010 wird ein weiterer jährlicher Zuwachs von 9,3 Prozent erwartet. Das bedeutet einen Anstieg des Containervolumens in zehn Jahren um das 2,6-Fache.7

Abbildung 1.2: Weltexporte pro Kopf der Weltbevölkerung (in US-Dollar)

Trotz der Unterbrechung des Trends aufgrund der Krise im Jahre 2009 dürfte das Wachstum weiter gehen. Das heißt wir können mit einem weiterhin starken und stetigen Anstieg des Welthandels rechnen.8

|18|Deutschland ragt heraus

Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich der Exporte pro Kopf nach Ländern. Ein direkter Vergleich dieser Art macht allerdings nur für Länder ungefähr ähnlicher Größenordnung einen Sinn. Dies lässt sich leicht erklären. Nehmen wir an, ein Land habe nur einen Einwohner, der seine gesamte Erzeugung mit anderen tauscht. Dann wäre der Export pro Kopf dieses (sehr kleinen) Landes gleich dem Bruttoinlandsprodukt oder, anders ausgedrückt, die Export- und die Importquoten wären jeweils 100 Prozent. Würde umgekehrt die Erde nur aus einem einzigen Land bestehen, dann wäre der Export pro Kopf gleich null. Je kleiner also ein Land, desto höher ist tendenziell sein Export pro Kopf.

Wegen dieser eingeschränkten Vergleichbarkeit sind in die Abbildung 1.3 nur exportstarke Industrieländer mit mehr als 40 Millionen Einwohnern, also »große« Länder einbezogen. Um eine die unterschiedlichen Einwohnerzahlen neutralisierende Vergleichsbasis zu schaffen, habe ich eine lineare Regression vorgenommen, die zu folgendem Ergebnis führte:

Pro-Kopf-Export = 7391 – 5,16 × Einwohnerzahl

Da die Einwohnerzahl in Millionen ausgedrückt ist, besagt die Formel, dass der Pro-Kopf-Export eines Landes bei zehn Millionen Einwohnern mehr um 51,6 Dollar zurückgeht (et vice versa).

Abbildung 1.3: Pro-Kopf-Exporte für große Länder (2009, in US-Dollar)

|19|Abbildung 1.4: Abweichungen vom empirischen Normwert bei den Pro-Kopf-Exporten (2009, in US-Dollar)

Quelle: Berechnungen anhand von Daten des UN Comtrade – 2009 International Trade Statistics Yearbook, New York June 2010.

Das Bestimmtheitsmaß dieser Schätzung ist mit 0,384 zufriedenstellend, das heißt gut 38 Prozent der Varianz der Pro-Kopf-Exporte werden durch die Einwohnerzahlen erklärt.9 Die Regressionsgerade definiert sozusagen den »empirischen Normwert«. Die Abweichungen von dieser Normlinie liefern einen sehr interessanten Indikator für die Exportstärke eines Landes. Diese Abweichungen werden in Abbildung 1.4 dargestellt.

Das Resultat ist frappierend. Es hat selbst mich, der sich häufig mit diesen Themen befasst, überrascht, wie stark Deutschland herausragt, wie einzigartig unter den großen Ländern die Stellung Deutschlands in diesem Vergleich ist. Interessantweise liegt auch China, das seit 2009 Exportweltmeister ist, über der Normlinie. Hingegen unterschreiten die USA und Japan die Normlinie deutlich.

Der Vergleich unterstützt auch die Hypothese vom weiteren Wachstum des Welthandels. Würden beispielsweise die USA und Japan die Normwerte erreichen, so ergäbe sich allein daraus ein zusätzliches Exportvolumen von rund 1 000 Milliarden Dollar pro Jahr. Das entspricht etwa den kombinierten Exporten von Frankreich und Japan aus dem Jahr 2009. In diesem Kontext ist aufschlussreich, dass Präsident Obama Amerika aufgerufen hat, seine Exporte zu verdoppeln. Dann würden die USA sogar |20|die Normlinie überschreiten. Aber dieses Ziel ist wohl ein bisschen ehrgeizig, es weist jedoch in die erwünschte Richtung.

Export – was sonst?

Die Abbildungen 1.3 und 1.4 machen aber auch verständlich, warum wir Deutschen unter Beschuss stehen. Unsere europäischen Nachbarn und Freunde werfen uns seit Jahren vor, dass wir zu viel exportieren und auf diese Weise wirtschaftliche Ungleichgewichte verursachen. Ja, wir waren von 2003 bis 2008 ununterbrochen Exportweltmeister. Doch im Jahr 2009 haben wir diesen Titel an China verloren. Die Chinesen haben uns mit ihren Ausfuhren in 2009 um circa 7 Prozent übertroffen und auf den zweiten Platz verwiesen. Die Zeiten der deutschen Exportweltmeisterschaft dürften für immer vorbei sein. Zudem sanken die deutschen Exporte im Zuge der Krise um etwa 22 Prozent. Von einer überragenden Exportperformance konnte also zumindest im Krisenjahr 2009 keine Rede sein. Im Jahr 2010 ging es dann mit den Exporten wieder zügig aufwärts.

Doch alles ist relativ. Trotz des Einbruches der deutschen Exporte haben wir 2009 fast genauso viel exportiert wie Großbritannien, Frankreich und Italien zusammen (1121 vs. 1231 Milliarden US-Dollar). Dabei sind diese großen europäischen Länder bevölkerungsmäßig 2¼-mal so groß wie Deutschland (187 vs. 82 Millionen Menschen). Selbst im schlechten Jahr 2009 lagen unsere Exporte um 6 Prozent höher als die amerikanischen und übertrafen die japanischen Ausfuhren um fast das Doppelte.

Wenn man diese und die Fakten berichtet, die in Abbildung 1.3 dargestellt werden, schlägt einem überall in der Welt ungläubiges Erstaunen entgegen. Da braucht es nicht zu verwundern, dass zuhauf Neider und Ratgeber auftreten, die uns sagen, dass wir mit dieser Performance endlich aufhören und uns bitte dem Niveau unserer europäischen und amerikanischen Freunde anpassen sollten. Das erinnert einen an den Arbeiter, der mehr leistet als andere, auf diese Weise die Standards verdirbt und deshalb von seinen Kollegen gemobbt wird – ein in der Arbeitswelt wohlbekanntes Phänomen. So hält Adam Posen, amerikanischer Experte vom Institute for International Economics in Washington, Lohnerhöhungen |21|in Deutschland für »die beste Option«. Der französische Ökonom Jean Paul Fitoussi vom Pariser Institut d’Etudes Politiques schließt sich ihm an und plädiert zudem für deutsche Zurückhaltung bei den Exporten. Zahlreiche Politiker aus unterschiedlichen Ländern haben sich ähnlich geäußert.

Das sind schon seltsame Ratschläge. Zum einen wird von diesen Experten offensichtlich verkannt, dass bei uns nicht der Staat der große Exporteur ist (anders als in manchen unserer Nachbarländer, wenn wir an Waffenexporte und Staatsunternehmen denken), sondern dass die Exportstärke und -performance Deutschlands ihre Wurzeln in privaten Unternehmen, vorwiegend sogar im Mittelstand hat. Diese Unternehmen tun nichts anderes, als sich weltweit die Kunden zu suchen, die ihre Produkte wollen und bereit sind, dafür zu zahlen – selbst wenn die deutschen Preise meist als hoch empfunden werden. Soll sich etwa der Staat als Exportbe- und -verhinderer gerieren? Welch absurde Vorstellung.

Nein, Deutschland muss bei seiner Exportstärke und -orientierung bleiben.10 Wir haben gar keine andere Wahl, wenn wir unser Wohlstandsniveau halten wollen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn auch der inländische Konsum und die Dienstleistungen stärker zum Wachstum beitrügen, aber das dürfte eine Illusion bleiben. Eine schnell alternde, schrumpfende Gesellschaft wie die unsrige hat zwangsläufig ein niedrigeres Konsumniveau als eine wachsende, junge Gesellschaft. Das können staatliche Maßnahmen nicht grundsätzlich ändern. Die Verschuldung führt solche Vorschläge ohnehin ad absurdum.

Ein zweites, schwergewichtiges Argument für die bleibende Notwendigkeit einer starken Exportorientierung besteht darin, dass unsere industriellen Strukturen sich nicht kurzfristig verändern lassen. Sie sind nun einmal so, wie sie sind. Das heißt unsere Unternehmen sind überwiegend auf spezielle Produkte und Märkte ausgerichtet. Diese Fokussierung ist die Basis für die Weltklasse deutscher Produkte. Denn Weltklasse wird man nur durch Fokussierung und Konzentration. Fokussierung macht aber die Märkte im einzelnen Land klein. Oft bedienen deutsche Unternehmen nur Nischenmärkte. Die einzige Chance, solche Märkte groß zu machen, besteht in konsequenter Globalisierung. Fokussierung und Globalisierung sind insofern die zwei Pfeiler der deutschen Strategie und untrennbar miteinander verbunden. Das reflektiert sich in den Exportraten einzelner Unternehmen, die oft bei mehr als 80 Prozent vom Umsatz liegen. Wenn |22|wir unsere Menschen beschäftigen und unseren Wohlstand halten wollen, gibt es keine Alternative zur Devise »Export – was sonst?«

Statt uns zu raten, unsere Exportstärke zu verwässern, sollten unsere Freunde ihre eigene Exportperformance verbessern. Denn an dieser Front haben sie vielfach versagt. Seit der Euro das Allheilmittel regelmäßiger Abwertungen außer Kraft setzte, nahm die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen aus europäischen Nachbarländern, vor allem aus Südeuropa, deutlich ab. Statt der Wechselkursabwertung gäbe es auch heute ein einfaches Mittel, nämlich Lohn- und Kostensenkungen. Aber dieses Mittel ist unangenehmer und politisch schwerer durchsetzbar. Jedoch wäre es für unsere Nachbarn der richtige Weg. Die Amerikaner haben offenbar verstanden, dass sie mehr exportieren müssen. Wie schon gesagt, hat Präsident Obama im Sommer 2010 dazu aufgerufen, die amerikanischen Exporte in den nächsten fünf Jahren zu verdoppeln.

Unerwartete Dynamik

Deutschland stand jahrelang für Stagnation, Nullwachstum, Arbeitslosigkeit sowie Unwillen zu durchgreifenden Reformen. Pessimismus und Fatalismus waren vorherrschende Stimmungen. Zeichen von Aufbruch, vorwärtsstrebendem Unternehmertum, Innovationsfreude, Entschlossenheit zum »Ruck« ließen sich kaum ausmachen. Das ist die eine Seite Deutschlands, so wie sie sich vornehmlich in der öffentlichen Diskussion, den Medien, den makroökonomischen Statistiken darstellte und ständig von vielerlei Wirtschaftsweisen vorgehalten wurde. Selbst die Tatsache, dass Deutschland Exportweltmeister war, erfuhr eine Deutung ins Negative. Begründung: Angesichts des verbreiteten Outsourcings und Offshorings entspreche diese Position nicht der tatsächlich in Deutschland erbrachten Wertschöpfung. Man sprach von der »Basarökonomie«, in der die Waren nur wie durch einen Basar durch Deutschland laufen, ohne dass dort eine wesentliche Wertschöpfung stattfände.

Natürlich steckt in diesen Aussagen ein Körnchen Wahrheit. Doch dieses pessimistische Bild war stets eine Verzerrung der Realität. Geht man auf die Ebene der Unternehmen, was Makroökonomen und Politiker eher selten tun, so fand und findet man in weiten Teilen ein ganz anderes |23|Gesicht Deutschlands. Dies ist ein Gesicht des Wachstums, der Nutzung von Vorteilen der Globalisierung, der Innovation, der Realisierung von unternehmerischen Visionen, ein Bild von sprühender Energie und Optimismus. Kaufen Sie mir das nicht ab? Darf ich Sie dann fragen, wie viele Umsatzmilliardäre in den zehn Jahren vor der großen Krise in Deutschland entstanden sind, also Unternehmen, die vor zehn Jahren weniger als 1 Milliarde Euro umsetzten und deren Umsatz in 2008 über 1 Milliarde Euro lag? Es sind mindestens 150, wahrscheinlich sogar 200 Firmen. Nach allen Kriterien ist eine Firma oberhalb der Milliarden-Euro-Umsatzgrenze ein großes Unternehmen. Das Wachstum der meisten dieser »Champions of Growth« ist beeindruckend. Manche sind heute 4-, 6- oder 10-mal so groß wie Mitte der 90er Jahre. Natürlich sind auch manche im Zuge der Krise wieder unter die Milliardengrenze gerutscht. Im Jahr 2010 ging es jedoch bei den meisten erneut aufwärts.

Im Durchschnitt sind die Champions of Growth in der betrachteten Dekade mit einer jährlichen Rate von 15 Prozent gewachsen. Nach der Faustformel »70/Wachstumsrate = Verdopplungszeit in Jahren« bedeutet das eine Verdopplung des Umsatzes in fünf Jahren und damit auch eine signifikante Erhöhung der Mitarbeiterzahl. Dahinter stehen phantastische unternehmerische Leistungen. Die Schizophrenie zwischen der Entwicklung dieser Unternehmen und der eingangs beschriebenen Stimmung in Deutschland könnte eklatanter nicht sein.

Es drängen sich gleich mehrere Fragen auf: Was sind die Treiber dieser Dynamik, dieser spektakulären Wachstumsstories? Zur Frage nach den Treibern des Wachstum gibt es eine klare Antwort: Innovation und Globalisierung! Als Beispiel für extreme Innovationsfreude betrachten wir die Firma Enercon, weltweit nach installierter Kapazität die Nummer 4 bei Windenergieanlagen. Erst 1984 gegründet, beschäftigt diese Firma heute mehr als 13 000 Menschen und nähert sich einem Umsatz von 4 Milliarden Euro. Getrieben von dem Gründer, Dr. Aloys Wobben, liegt die Konzentration voll auf Forschung, Entwicklung und Produktion. Die in Aurich, Ostfriesland, beheimatete Firma besitzt auf ihrem Gebiet rund 40 Prozent aller Patente weltweit. Keiner der großen Anbieter kommt an den Lizenzen von Enercon vorbei. Service, Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der Enercon-Anlagen sind legendär. Diese Wettbewerbsvorteile erlauben die Durchsetzung deutlich höherer Preise. Die Firma wächst nicht nur stark und kontinuierlich, sondern ist |24|zudem hoch profitabel. Gefertigt wird vor allem in Deutschland. Ja, so etwas gibt es!

Viele der Wachstumschampions bewegen sich durchaus in klassischen Märkten und wachsen trotzdem, vor allem durch Internationalisierung. Oft sind sie dabei einem extrem harten, an Effizienz und Kosten orientierten Wettbewerb ausgesetzt. Die besten deutschen Unternehmen sind Wachstumsunternehmen! Was ist die Botschaft an Deutschland und deutsche Unternehmen? Die Wachstumschampions sind eine Facette einer dynamischen, sich schnell verändernden Wirtschaft. In Deutschland ist eine überraschend große Zahl von Milliardenunternehmen entstanden. Doch zu einer dynamischen Wirtschaft gehört zwangsläufig auch die andere Seite der Medaille, nämlich dass Unternehmen schrumpfen, Arbeitsplätze abbauen, vom Markt verschwinden oder geschluckt werden. Doch wir sehen im öffentlichen Lärm fast nur diese zweite, die düstere Seite der Dynamik. Demgegenüber gehen die Wachstumschampions im Nebel des Pessimismus unter. Sie bleiben trotz ihrer mittlerweile beachtlichen Größe in der öffentlichen Wahrnehmung unbeachtet. Dabei könnten wir auf diese Unternehmen enorm stolz sein.

Ich reise sehr viel in der Welt herum, vor allem in Asien und Amerika. Je mehr ich dabei Firmen aus anderen Ländern vertieft kennen lernte, desto stärker kam ich zu der Überzeugung, dass wir in Deutschland viele der besten Firmen der Welt haben. Ihr Wachstum beweist, dass diese meine Diagnose nicht auf Wunschdenken und Träumerei basiert. Natürlich sollten die Wachstumschampions auch Vorbilder, ja Leuchttürme, für diejenigen deutschen Unternehmen sein, die vielleicht die gleichen Potenziale besitzen, aber den Weg der Innovation und der Globalisierung nicht mit der gleichen Entschiedenheit eingeschlagen haben. Gerade deutsche Unternehmen mit der richtigen Strategie im globalen Wettbewerb haben phantastische Wachstumschancen.

Geostrategische Mittellage

Die langfristigen Folgen der Globalisierung beginnen sich abzuzeichnen. Produktions- und Absatzstandorte werden sich weiter verlagern. Mit ihnen werden Güter-, Kapital- und Menschenströme umgelenkt, Standorte |25|und Regionen sind unter geostrategischen Aspekten neu zu bewerten. Ich denke hierbei weniger an die momentan geltenden politischen und steuerlichen Rahmenbedingungen, sondern an die unveränderlichen geographischen Gegebenheiten der Erde. Der deutschsprachige Raum besitzt eine einzigartige Position, denn er liegt in der geostrategischen Mitte sowohl Europas als auch der Erde. In globaler Dimension ist nicht China das Reich der Mitte, sondern es sind der deutschsprachige Raum und die angrenzenden Länder.

Die Globalisierung wird zunehmend alle Wertschöpfungsaspekte umfassen, wie etwa die Gewinnung der besten Talente aus den verschiedensten Ländern, die Entwicklung internationaler Teams in Management sowie in Forschung und Entwicklung, die Ansiedlung von und die Zusammenarbeit zwischen Kompetenzzentren. Das sind nur einige der neuen Herausforderungen. In jedem Falle werden Kommunikation, der Austausch von Wissen und Information, Reisen und Kooperationen über Zeitzonen hinweg zunehmen. Schon heute lassen Firmen, um schneller zu sein, Entwicklungsprojekte mit der Sonne um den Erdball wandern. Call-Center werden in weit entfernten Ländern angesiedelt. Irgendwo auf der Erde ist immer Tag. Das wird genutzt.

Die weltweite Kommunikationsinfrastruktur, die all das ermöglicht, ist in den letzten Jahren massiv ausgebaut worden. Telekommunikation, Internet und Flugverbindungen reichen heute bis in die entlegensten Winkel der Welt. Fax, E-Mail und Voicemail ermöglichen asynchrone Verständigung, so dass man nicht auf simultane Bürozeiten angewiesen ist. Die Telekommunikationskosten sind vernachlässigbar geworden. Damit lassen sich die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung in bisher unbekanntem Maße ausschöpfen. Entfernungen, Zeitunterschiede, Grenzen haben ihre traditionellen Bedeutungen teilweise verloren. Manche sprechen schon euphorisch vom Verschwinden der Distanzen und der Zeitunterschiede.

Doch eine derartige Euphorie ist nicht nur verfrüht, sondern im Kern falsch. Es zeigen sich nämlich zunehmend physische und praktische Grenzen der Globalisierung. Sie beruhen auf unveränderlichen Gegebenheiten. Erstens ist die Erde eine Kugel. Tag und Nacht sowie Zeitzonen sind nicht verschwunden. Der Anpassung des Menschen an Entfernungen und Zeitunterschiede sind Grenzen gesetzt. In den meisten Geschäften bleibt ein gewisses Maß an persönlicher, direkter Kommunikation unverzichtbar. Regelmäßige Telefonate erweisen sich jedoch im Alltag als belastend, |26|wenn die Zeitdifferenz zwischen zwei Orten elf oder zwölf Stunden beträgt. Auch die Reisegeschwindigkeit auf Fernstrecken hat seit den 60er Jahren (den Jumbo-Jet gibt es bereits seit 1969) kaum zugenommen. Das Zeitalter der Concorde, die ohnehin nur auf wenigen Strecken flog, ist längst zu Ende. Ökonomisch einsetzbare Überschallflugzeuge bleiben eine Illusion. Ende 2002 hat Boeing den Plan für den Sonic Cruiser, einen etwas schnelleren Jet, der aber noch unter der Schallgeschwindigkeit fliegen sollte, aufgegeben. Hochgeschwindigkeitszüge spielen für interkontinentale Reisen keine Rolle und werden auch in Zukunft auf der Langstrecke kaum eine ernsthafte Alternative zum Flugzeug sein. Viele Reisen sind aufgrund überfüllter Flughäfen, Staus in der Luft und am Boden, verschärfter Sicherheitskontrollen und unvorhersehbarer Streiks sogar beschwerlicher und langwieriger geworden. Diese Tendenz wird sich vermutlich fortsetzen.

Diese Gegebenheiten führen zu enormen Belastungen für die Betroffenen. Ein Automobilvorstand berichtete mir über seine zahlreichen Transatlantik- und Asien-Reisen und wie sehr diese an seiner Kondition nagen. Ein Geschäftsführer eines Elektronikzulieferers beklagte sich über seine ständigen Reisen zu Kunden in Japan und im Silicon Valley. Er war Anfang 40, sah aber eher wie Ende 50 aus. Selten werden solche Probleme zugegeben, jedoch sind sie bei vielreisenden Managern allgegenwärtig. Globalisierung bedeutet nun einmal, dass die Welt der Markt ist. In Verbindung mit der hohen Kundennähe, insbesondere auch der Spitzenleute, macht dies weltweite Kommunikation und Reisetätigkeit unverzichtbar.

Angesichts dieser Tatsachen gewinnt der Standort im geostrategischen Rahmen eine neue Bedeutung. Der deutschsprachige Raum hat diesbezüglich einzigartige Vorteile. Abbildung 1.5 veranschaulicht dies.

Der deutschsprachige Raum bzw. die angrenzenden Länder sind die einzige Region (der nördlichen Hemisphäre), in der man innerhalb etwas ausgeweiteter Bürozeiten (9 Stunden) mit ganz Eurasien (inklusive Japan) und Amerika (inklusive Westküste) kommunizieren kann. Die Ursache dafür liegt im »Dreieckscharakter« der Erde. Die eurasische Landmasse, Transatlantica (Westeuropa bis Westküste USA) und der Pazifik bilden die drei Seiten dieses Dreiecks. Westeuropa liegt genau in der Mitte der beiden »Landseiten« des Dreiecks. Demgegenüber ist es außerordentlich beschwerlich, von New York aus mit New Delhi, Hongkong, Peking, Seoul oder Tokio zu verkehren, da die Zeitdifferenz zwischen zehn und |27|14 Stunden beträgt. Das Gleiche gilt selbstverständlich in umgekehrter Richtung.

Abbildung 1.5: Zeitunterschiede und Reisezeiten zwischen globalen Zentren (in Stunden)

Kaum besser ist die amerikanische Westküste dran. Tokio und Hongkong erreicht man von Los Angeles zwar innerhalb des Acht-Stunden-Rahmens, aber New Delhi, Moskau oder Dubai sind zwischen zehn und zwölf Stunden entfernt. Die erwähnten asynchronen Kommunikationstechnologien (Brief, Fax, E-Mail, Voicemail) mildern die Zeitdiskrepanzen zwar ab, aber sie sind eben kein vollständiger Ersatz für synchrone, direkte zweiwegige Kommunikation wie Telefon, Videokonferenzen, Telepräsentationen mit Frage- und Antwortmöglichkeit.

Der geostrategische Standortvorteil gilt in ähnlicher Weise für Reisen. Tokio wie San Francisco erreicht man von Frankfurt, Zürich oder Wien in gut elf Stunden. Der längste Nonstopflug geht von Newark nach Singapur und dauert fast 19 Stunden, eine Tortur. Aus Westeuropa kommend muss man nie den weiten Pazifik oder den Nordpol überqueren, um in wirtschaftlich bedeutsame Länder zu kommen. Im Grunde gelten die Aussagen auch für die südliche Hemisphäre, in der ohnehin wenig Wirtschaftskraft konzentriert ist. Afrika liegt in der gleichen Zeitzone wie Europa. Johannesburg erreicht man von Frankfurt aus in weniger als zehn Stunden.

|28|Diese geostrategisch einzigartige Mittellage ist ein weiterer Faktor dafür, dass es im deutschsprachigen Raum so auffallend viele Weltmarktführer gibt. Der Weltmarkt ist von hier aus leichter zugänglich als aus anderen Weltregionen. Man darf aufgrund dieser unveränderlichen Tatsachen erwarten, dass sich globale Unternehmen zunehmend für westeuropäische Standorte entscheiden. Bei einzelnen Personen habe ich solche Umzüge schon beobachtet. So hat ein guter Bekannter, der weltweit tätige Berater und Referent Verne Harnish, seinen Wohnsitz von der amerikanischen Ostküste nach Europa verlegt. Seine Begründung: von hier aus könne er seinen globalen Geschäften wesentlich leichter und effizienter nachgehen. Dieser Vorteil Westeuropas kann natürlich durch die wirtschaftsunfreundliche Politik einzelner Länder konterkariert werden.

Innerhalb Europas gelten ähnliche Überlegungen wie im globalen Maßstab. Wiederum liegt der deutschsprachige Raum im Zentrum. In höchstens zwei Flugstunden kann man in fast alle europäischen Großstädte reisen. Wer hingegen von Moskau nach Lissabon oder von Athen nach London will, muss mehr als vier Stunden einkalkulieren.

Viele deutsche Unternehmen haben die Chance der europa- und der geostrategischen Mitte offensichtlich zu ihrem Vorteil genutzt. Mit zunehmender Globalisierung wird sich der Vorteil dieser Lage noch stärker zeigen. Die Natur hat uns die geostrategische Mittellage geschenkt. Was wir daraus machen, liegt nur an uns.

Deutsche Bürokratie – besser als ihr Ruf

Allenthalben und immer wieder liest und hört man von den Mühsalen mit der deutschen Bürokratie. Das Lieblingsbeispiel ist dabei die Gründung einer Firma. Diese Gründung ist angeblich überall einfacher und läuft schneller ab als in Deutschland. Woher die Journalisten, die dies schreiben, die entsprechenden Erfahrungen haben, bleibt mir schleierhaft. Vermutlich handelt es sich hier um eine der Behauptungen, die Journalisten von Generation zu Generation ohne Überprüfung weitertragen.

Meine Erfahrungen stehen jedenfalls im Widerspruch zu dieser Behauptung. Wir haben Unternehmen in mehr als 20 Ländern gegründet. |29|Zwangsläufig kamen wir in all diesen Ländern mit Notaren, Finanzämtern und sonstigen Behörden in Kontakt. Aufgrund meiner Erfahrungen erscheinen mir einige Klarstellungen angebracht.

 

Gründung einer Firma mit beschränkter Haftung

 

Nirgendwo lässt sich eine GmbH oder eine Firma ähnlicher Rechtsform einfacher, schneller und rechtssicherer gründen als in Deutschland. Man geht zum Notar, nimmt im einfachsten Falle einen Standardvertrag, und schon ist die GmbH gegründet. Alles andere besorgt der Notar. Man hat absolute Rechtssicherheit. Simpler geht es nicht. Nehmen wir dagegen beispielsweise Kanada. Dort braucht man einen Kanadier im Board. Wenn dieser Kanadier ausscheidet, wie es uns passierte, steht man vor einem Problem. Man muss nämlich einen kanadischen Ersatz suchen. In der Schweiz ist es ebenfalls kompliziert, denn man braucht einen Schweizer Gesellschafter. In der Regel tritt ein Rechtsanwalt oder eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in diese Rolle ein. Dennoch sind das Komplikationen, die es in Deutschland nicht gibt.

Am 14. Mai 2010 behauptete der Premierminister von Singapur, Lee Hsien Loong, in einer Podiumsdiskussion bei der deutschen Asien-Pazifik-Konferenz allerdings, in seinem Land ginge es noch schneller. Dort könne man die Gründung im Internet abwickeln und brauche nur 15 Minuten. Da wir zu dieser Zeit ein Büro in Singapur aufmachten, konnte ich ihn auf die Probe stellen. Es stellte sich heraus, dass es so schnell nur unter bestimmten Voraussetzungen geht. Als ausländischer Gründer ohne Aufenthaltsgenehmigung sind einige Behördengänge notwendig, auch muss Gründungskapital auf einem Konto einer singapurischen Bank nachgewiesen werden – an der physischen Anwesenheit in Singapur oder der Zuhilfenahme lokaler Anwaltskanzleien (wovon es zahlreiche, auch deutschsprachige gibt) führt also kein Weg vorbei.

 

Finanzbehörden

 

Vor einiger Zeit gingen Meldungen durch die Gazetten, dass in England in großem Umfange steuerrelevante Daten verloren gegangen sind. Das |30|schwappte bis zum Premierminister hoch. In den USA habe ich häufig Ungereimtheiten beim Kontenabgleich mit den Steuerbehörden erlebt. Solche Komplikationen kennen wir aus Deutschland nicht.

Ja, in Deutschland sind die Steuern hoch. Die Steuergesetze erweisen sich als extrem kompliziert. Angeblich sollen zwei Drittel aller Steuerliteratur in der Welt aus Deutschland stammen. Aber der Finanzverwaltung muss man im internationalen Vergleich ein Kompliment machen. Nehmen wir zum Vergleich die USA. Dort müssen mehrere Steuererklärungen für Stadt, Staat und Bund abgegeben werden. Die Beantragung einer Steuernummer kann zum Albtraum werden. In einem Fall dauerte es zwei Jahre, bis die endgültige Nummer zur Verfügung stand. Gelegentlich geht auch schon mal ein Scheck verloren, und es kann Jahre dauern, bis die Konten endlich abgeglichen sind. Da lobe ich mir die zuverlässige und kompetente deutsche Finanzverwaltung.

 

Betriebsprüfungen

 

 

Sicherheitsvorschriften

Es gibt bei uns vermutlich mehr Vorschriften sicherheitsrelevanter Art als anderswo. Das gilt für Bereiche wie Bau, Industrie, Lebensmittel oder Umwelt. Zahlreiche Ämter, Berufsgenossenschaften, Feuerwehren, Schornsteinfeger, TÜVs etc. achten darauf, dass diese Vorschriften eingehalten werden. Dennoch sind auch in Deutschland Turnhallen unter extremen |31|Schneelasten zusammengebrochen. Dass jedoch eine große Straßenbrücke »mir nix dir nix« einstürzt, wie mehrfach in den USA geschehen, ist bei uns kaum zu befürchten. Die faktische Sicherheit von Gebäuden, technischen Anlagen, Lebensmitteln etc. ist in Deutschland im internationalen Vergleich sehr ausgeprägt. Das hat einen hohen Wert. Ob dabei immer Ausgewogenheit zwischen Kosten und Nutzen besteht, lässt sich nur schwer beurteilen.