KLAUDIA RUSCHKOWSKI

ROT,
SAGTE ER

ROMAN

In Erinnerung an den Maler
Giuseppe Zigaina

Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend
Schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen,
Und in der Weite der Welt geht nichts – das glaubt mir – verloren.

Ovid, Metamorphosen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

1

Kaum hatte der Mann die Tür einen Spaltbreit geöffnet, drängte sich das kleine struppige Etwas an ihm vorbei und stürmte hinaus, schlug an und war im Handumdrehen im Unterholz verschwunden. Kläffendes Gebell mäanderte durchs Tal. Der Mann pfiff und rief. Der Hund hörte nicht. Ihn hatte das Jagdfieber gepackt.

Ein Reh. Es tauchte jenseits der Brombeerhecke auf, fast flog es über die an den Vortagen abgemähten Felder, setzte über einen Graben, der die Äcker voneinander trennte, und sprang den gegenüberliegenden Hügel hinauf. Die Stoppeln unter seinen Hufen glänzten. Ein helles Goldrot.

Da war auch der Hund wieder. Er musste förmlich durch die Brombeeren hindurchgeschossen sein. Wie schnell, trotz seiner kurzen Beine. Er setzte sichtlich alle Kräfte ein, holte auf. Das Reh hatte die Kuppe fast erreicht. Und unversehens schlug es einen Haken … wie ein Hase, dachte der Mann, der die Szene von der Schwelle aus beobachtete … und schnellte diagonal am Hund vorbei hinab ins Tal.

Der Hund war von dem Richtungswechsel überfordert. Für einen entscheidenden Moment verlor er die Orientierung. Eine Umkehrung der Bewegung, eine innere Geometrie, die dem gejagten Tier den Ausweg wies. Die den Jäger die entscheidende Sekunde kostete. Sofern er überhaupt eine Chance gehabt hätte. Das Reh setzte zu einem letzten konzentrierten Sprung an, über ein Weißdorngestrüpp, das den Acker in der Senke teilte. Es schien in der Luft zu stehen. In einem Wirbel aus Licht und Staub. Sein heller Spiegel blitzte. Dann war es fort. Der Hund überschlug sich, landete im Gestrüpp, sah sich getäuscht und bellte, mehr erstaunt als verärgert.

Der Mann lachte. Er schloss die Tür hinter sich und nahm den Pfad, der vom Haus … eher eine Hütte, wenn man ehrlich war … zur schmalen Straße hinaufführte. Er holte weit aus. Sein Schritt war kräftig. Durch seine rötlichen Locken fuhr ab und zu ein leichter Wind. Seine grünen Augen leuchteten. Oder waren sie blau? Das mochte vom Licht abhängen. Oder von der Tageszeit. Er summte vor sich hin. Auf der Straße war niemand zu sehen. Die Glocken von San Giusto schlugen die volle Stunde. Sechs. Es war noch immer heiß wie am Mittag. Eine schwüle Hitze.

Dem Mann schien es nichts auszumachen, auch wenn das dünne Hemd an seinem Körper klebte. Er holte tief Luft, während er die Steigung zur Balze nahm. Auf dem kleinen Schotterplatz, in den die Straße oben mündete, hielt er inne. Er blickte sich um. Selbst vom Schreiner, der seine Werkstatt jedes Jahr zum ersten Mai ins Freie verlegte, wo er … aus Überzeugung, wie er sagte … bis weit in den Oktober arbeitete, war nichts zu sehen. Keine Menschenseele. Nur eine schwarzweiße Katze mit bernsteinfarbenen Ohren, die es sich im grünen Dämmer des verblichenen Wellblechdachs bequem gemacht hatte.

Der Mann überquerte den Platz. Er wandte sich zu einer Reihe niedriger Steineichen. In ihren Schattenfetzen wanderte er weiter, bis er auf Felsbrocken stieß, die den Pfad zur Balze halb versperrten. Er kletterte auf einen der mächtigen Findlinge.

Von dort aus konnte er das weite Tal überblicken. Halbrechts, auf einer Felszunge schräg unter ihm, direkt vor den Abstürzen, die alte Badia, das Kloster der Kamaldulenser. Wie durch ein Wunder verschont geblieben, als sich der Abhang vor hunderten von Jahren bei einem Erdrutsch löste und einen Teil der damaligen Stadt mit sich in die Tiefe riss.

Inmitten der Ebene, auf einem geduckten Hügel, der kleine Ort Peccioli mit seinem arabesken Glockenturm. Von Weitem machte er einen geheimnisvollen, fast orientalischen Eindruck. Im frühen Morgenlicht oder bei Sonnenuntergang wurde er zu einer Fata Morgana. Von Nahem schien er wie zusammengeklebt, ein selbstbewusster romanischer Turm, der sich im Verlauf der Jahre durch die beliebigsten Versatzstücke in ein Hirngespinst verwandelt hatte.

Wären die dichten dunklen Wolken nicht gewesen, die sich seit geraumer Zeit von Norden über den Monte Pisano in die Ebene vorschoben, der Mann hätte von seinem Felsen aus selbst Pisa sehen können. Bei klarer Luft vielleicht sogar die Piazza dei Miracoli.

So aber folgte sein Blick dem immer intensiveren Spiel der Wolken und des Lichts, das in raschem Wechsel mal den einen, mal den anderen Hügel aus der Landschaft herausleuchtete, ein Dorf, ein Wäldchen, ein Rinnsal, das flüchtig aufschimmerte, wenn ein letzter Sonnenstrahl sich in ihm verfing. Er sah in der Ferne das Meer. Konnte es sogar riechen. Die gewittrig schwüle Luft trug einen salzigen Hauch zu ihm. Er sog ihn tief in sich ein.

Der erste Blitz. Eine fein verästelte silberne Senkrechte. Er musste sich beeilen. Er sprang vom Fels und folgte dem Pfad bis zu einer niedrigen Baumgruppe, zwischen Gestein und Abgrund, die auf einen kahlen Vorsprung zulief. Von hier aus, hoch oben, würde er das Spektakel am besten genießen können. Würde sehen, wie sich die Blitze multiplizierten, wie sie sich in die Farben des Prismas ergossen, grünlich, bläulich, rötlich, hellgelb und violett. Würde die unbändige Energie spüren, die sich bereits voll diabolischer Freude in der Atmosphäre konzentrierte.

Ein gespannter Moment des Innehaltens. Dann die erste drastische Entladung. Elektrizität, die durch die Nervenbahnen strömte. Eine Dynamik, die für den Bruchteil einer Sekunde die Grenze zwischen Außen und Innen aufhob. Ein ekstatischer Schub. Verbunden mit dem ersten Windstoß, der heftig durch die Bäume fuhr und alles in stürmischen Wirbel versetzte.

Der Mann liebte Gewitter. Liebte das feine Kribbeln auf der Haut, das erotische Risiko, die Gefährdung, die Blitze, die immer waghalsiger durch den Himmel zuckten. Liebte es, am höchsten Punkt zu stehen, wie ein Baum, den Elementen ausgesetzt.

Über die Ebene stob kreischend ein Vogelschwarm, aufgeschreckt vom Donner, der jetzt durch die Wolken rollte. Tief unten im Gebüsch brachten sich Tiere raschelnd in Sicherheit. Ein Falter irrte durch die Luft.

Dem Donner folgte eine Druckwelle. Kaum verebbt, wogte die nächste hoch. So langsam, wie das Gewitter aufgezogen war, so stürmisch eilte es jetzt vom Monte Pisano und vom Meer aus heran und stürzte sich auf das Tal.

Fast schlagartig wurde es dunkel. Grelle Adern sprangen aus dem Anthrazit der Wolkendecke, Lichtstreife flackerten auf, verglühten … ein wahres Konzert, dachte der Mann … selbst elektrisiert, vor Glück, inmitten der energetischen Wucht, die ihn umgab.

Es krachte. Vorsichtig tat er einen Schritt, sah die Kalanken unterhalb der Badia in rötliches Licht getaucht. Der Wipfel einer freistehenden Steineiche hatte Feuer gefangen.

Der Mann streckte die Hand aus, fing die ersten Tropfen ein, die satt vom Himmel fielen. Ein Rinnsal floss über seinen Arm. Er lachte, leckte das vom Schweiß salzige Wasser von der Haut, hielt den Tropfen, die sich zusehends mehrten, sein Gesicht entgegen. Freute sich am Gefühl, mit dem das Nass durch seine Locken strömte, über seinen Körper rann …

In der Ferne wurde Gebell laut. Kam näher. Nicht lange darauf schoss der Hund struppig, keuchend durch das Unterholz.

2

Die Erde dampfte. Warme Nebelschwaden hingen zwischen den Hügeln, schlingerten über die Felder. Aus den Furchen sog die aufgehende Sonne die Feuchtigkeit. Ihre Strahlen zogen schräg durch den Dunst, verfingen sich in Spinnennetzen … Geflechte aus winzigen Wasserperlen … flimmerten im Grün der Blätter und schufen viele kleine Prismen, die für Augenblicke zwischen Bäumen und Gebüsch aufblitzten. Ein süßer Duft lag über dem Land.

Angel öffnete das Fenster, sog das Aroma ein und ließ den Blick über den Garten wandern, der sich rings um das Haus erstreckte. Bis auf eine Staude purpurner Glockenblumen, die der Regen zu Boden gedrückt hatte, schien alles unversehrt. Die Wedel der beiden Palmen, die sie vor sieben Jahren gepflanzt hatte … sieben Jahre, dachte sie, so lange war das jetzt schon her … sirrten in der Brise. Sie setzte den Kaffee auf, zog ein Stück Gartenband aus der Küchenschublade, griff nach einem der Bambusstecken, die für alle möglichen Fälle neben dem Eingang lehnten, und lief barfuß hinaus. Der Bambusstab drang mühelos in die noch feuchte Erde. Sie knotete das Band an ihm fest, schlang es um die Stängel und richtete die Staude auf. Die Blütenköpfe taumelten.

Drinnen begann es zu zischen. Angel biss das Band dicht am Stecken ab, rollte den Rest über dem Handrücken zusammen und war rechtzeitig zurück, um die brodelnde Moka von der Gasflamme zu nehmen. Sie angelte eine Tasse vom Regal, goss den Kaffee hinein, fischte ein paar Kekse aus einer Blechdose und ließ sich auf der Bank neben der Haustür nieder.

Wenn es das Wetter erlaubte, trank sie den Kaffee immer auf diesem Platz. Morgens, manchmal auch mittags. Von hier aus schaute sie über die Felder, zur Stadt hinauf. Wie ein Ozeandampfer schien sie auf dem Kamm des höchsten Hügels zu treiben, bereit, sich von der nächsten Woge mitnehmen zu lassen. Seit dreitausend Jahren zwischen Himmel und Erde, dachte Angel, immer im Scheinbaren. Scheinbar keine Regung, scheinbar auf dem Sprung. Nicht rund um einen Hügel in die Höhe gewachsen, obenauf ein Kirchturm oder ein Kastell, nicht umgekehrt von oben über die Hänge hinabgeflossen, sondern langgestreckt auf einem Grat.

Angel beobachtete, wie der Dunst aus den Feldern auf die Stadtmauern zu kroch. Ein riesiger Libellenflügel, dachte sie. Ihr fiel ein, was sie in der vergangenen Nacht geträumt hatte. Etwas bewegte sich auf einer Glasfläche. Ein großes, fast durchscheinendes Insekt. Es kam nur langsam voran. Dann war da ein Auge. Es schaute angestrengt von oben. Es zoomte näher. Das Insekt war ein Mensch. Das Auge sah durch seine Haut. Scannte ein Geflecht von Adern, Nerven. Wie hielt der Mensch sich auf dem Untergrund. Er musste Saugnäpfe an Händen und Füßen haben. Die Glasfläche wurde zu einem Fensterflügel. Er schlug auf. Der Mensch hatte Mühe, nicht zu fallen. Er schwankte wie ein Blatt. Er rutschte … und Hasard sagte eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Wie aus dem Nichts.

Das Telefon klingelte. Rasch nahm Angel den letzten Schluck Kaffee. »Pronto?«

Es war Annarella, aus der Post: »Hier liegt ein Einschreiben für dich. Ich habe unterzeichnet. War dir doch Recht? Bis fünf bin ich da. Holst du es ab?«

Angel schaute auf die Uhr. Halb acht. Dass Annarella so früh schon im Büro war.

»Vor fünf bin ich da. Danke, du bist ein Engel«, sagte sie, legte auf und seufzte. Sicher eine Rechnung.

Sie schlüpfte in Shorts und Hemd, zog ihre Arbeitsschuhe an … die besten, die ich je hatte, dachte sie, als sie die Schnürsenkel festzurrte … und ging um das Haus herum zur Werkstatt. Ein kleiner Holzbau auf einem flachen Steinfundament, auf dem einst wohl ein Stall gestanden hatte. Schafe vielleicht, vielleicht auch Schweine. Als sie kam, vor sieben Jahren, existierte nur noch ein Teil des Sockels, mit einer ramponierten Tränke. Ausreichend allerdings für die Genehmigung zu einem Neubau. Das einzig Neue weit und breit. Und auch dies aus alten Balken, die Angel vom Schreiner an der Balze bekommen hatte. Uralt, hatte er zärtlich gesagt. Deckenbalken. Aus einem der Palazzi in der Stadt. Er habe sich damals eine Menge uralter Dinge gesichert. Material, das seine kleine dunkle Werkstatt mit den vielen anderen Dingen, die er sich im Laufe der Zeit gesichert hatte, bis zum Überquellen füllte.

»Wenn du so wenig Platz hast«, hatte er Angel verraten, »und noch weniger Tageslicht, bleibt dir nichts anderes übrig, als draußen zu arbeiten … aber vielleicht«, hatte er dann hinzugesetzt, »stelle ich mir den Raum absichtlich so zu. Damit ich draußen sein kann.«

Wie gut, dass sie alles, was vor der Werkstatt im Wind trocknete, noch rechtzeitig vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht hatte, dachte Angel. Sie schob den Riegel zur Seite und betrat den zu dieser Stunde noch kühlen Raum. Stieß die Fensterläden auf. Licht wirbelte um Terrakotta-Figuren. Vollständige, Torsi, halbe, Körperteile. Auf einem Arbeitstisch eine Kollektion kleiner Köpfe. Rohlinge, fertig für den ersten Brand. Da entdeckte sie die Bescherung. Etliche der Köpfe lagen durcheinander, manche der Figuren auf dem Boden, in tausend Stücken.

Sie kniete sich hin und schaute unter die Regale. »Komm schon«, lockte sie, »ich schneid dir nicht die Ohren ab.«

Aus einem Spalt unter dem Brennofen kam ein Niesen. Dann wurde eine weiße Pfote sichtbar. Ein kleiner staubiger Kater versuchte, seinen rotgetigerten Körper hinterherzuschieben. Angel zog ihn am Nackenfell aus der Klemme, schüttelte ihn ein wenig und pustete die Flocken aus seinem Schnurrbart. »Meine Schuld«, sagte sie. »Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen.«

Sie setzte den Kater draußen in der Sonne ab. Sichtlich erleichtert sprang er davon. Angel schloss die Tür der Werkstatt hinter sich und machte sich ans Aufräumen.

Bis zum Nachmittag hatte sie die meisten der Stücke in einen neuen Zusammenhang gebracht. Anders als geplant. Die kleinen Köpfe mit den engelhaften Zügen hätten eigentlich auf groben Körpern ruhen sollen. Absichtsvoll gebrochen, in fragwürdiger Perfektion. Da sie nun tatsächlich gebrochen, ja zersplittert waren, würden sie womöglich eine ganz neue Gestalt annehmen. In ihrer Versehrtheit, dämmerte es Angel, lag womöglich eine Chance. Vielleicht würde bei diesem Prozess etwas sichtbar werden, das ihr bisher entgangen war. Solange wir die sichtbare Gestalt noch nicht sehen können … wo hatte sie das nur gelesen … ist es nötig, dass wir sichtbare Gestalten formen … dass wir unsere Sinne entwickeln, ja, vielleicht sogar ganz neue entdecken, um die Wirklichkeit zu sehen. In allen ihren Schichten.

Angel summte vor sich hin und beschloss, dem Kater aus der Stadt ein feines Stück Fisch mitzubringen.

Als sie sich gegen vier auf den Weg machte, flimmerte das Land bereits wieder in der Julihitze. Sie kurbelte die Fenster ihres Fiat Panda 4x4 hinunter. Ließ den warmen Wind durch den Wagen und sich selbst hindurchwehen, während sie den Feldweg zur Asphaltstraße hinaufholperte. An der Kurve, die über Marios Hof führte, stürzten ihr wie immer seine drei kleinen Hunde entgegen. Wieder einmal wunderte sie sich, wie sie es schafften, nicht unter die Räder zu kommen. Sie kläfften noch kurz in ihrem Rücken weiter. Dann hatten sie ihre Pflicht getan und trollten sich in den Schatten.

Angel fuhr auf die schmale Asphaltstraße und unter der alten Eisenbahnbrücke hindurch, über die früher eine Bahn gemächlich von der Stadt ins Tal und noch gemächlicher wieder hinauf gerattert war. Kurz darauf stoppte sie hinter einer Ape, aus deren Fenster sich Marios Sohn beugte, um mit Gino, einem Nachbarn, der dabei war, sein Hühnergatter auszubessern, etwas zu besprechen, das so wichtig war, um ein paar Minuten in Anspruch zu nehmen, aber nicht wichtig genug, um an den Rand zu fahren und auszusteigen. Am Hang bremste sie vor einer Kinderschar, die quer über die Straße zum Schwimmbad lief. Fädelte sich dann in den seit wie vielen Jahren provisorischen Kreisel zur Via Garibaldi ein. Fuhr an der Stadtmauer entlang, ließ einen dieser immensen LKWs passieren … ein Hochhaus auf Rädern, das gefährlich durch die kurvenreichen Straßen schlingerte … und entschloss sich im letzten Moment und angesichts der Uhrzeit, nicht wie sonst unten an der Docciola zu parken und die zweihundertdreiunddreißig herrlichen Stufen in die Stadt hinaufzusteigen, sondern gleich oben, in der Tiefgarage, sui Ponti.

Es war heiß, außerdem schon halb fünf. Annarella würde ihretwegen keine Überstunden machen.

Angel trat aus der Tiefe der Garage ins gleißende Licht. Sie bahnte sich ihren Weg durch Menschentrauben, grüßte flüchtig den einen und anderen Bekannten, eilte quer über die Piazza und betrat die Post.

Ein paar holländische Touristen bemühten sich vergebens, Briefmarken zu kaufen, und Annarella setzte ebenso vergebens sämtliche Sprachkenntnisse ein, um ihnen verständlich zu machen, dass sie auf der Post alles Mögliche kaufen konnten, nur keine Briefmarken.

Dann zuckte sie die Achseln, überließ die Leute der Diskussion, winkte Angel zu, ging zum Postfach und zog einen Umschlag aus der Ablage … »Hast du das gehört?«

3

Die Post war mehr als ein Amt. Hier schlug eines der Herzen der Stadt. Hier wurden Nachrichten übermittelt und Botschaften überbracht. Empfehlungen ausgesprochen. Hinweise gegeben und Ratschläge erteilt. Und Annarella war die Königin. Ein halbes Leben hatte sie in diesem Palazzo verbracht, ebenerdig, mit Blick auf die Piazza dei Priori. Sie sah, wer vorüberging. Mit wem. Wer ins Gespräch vertieft dort in der Sonne stand. Wer disputierte. Wer sich küsste. Wer seinen Blick über die Palazzi wandern ließ. Wer weder nach links noch rechts schaute. Wer sich an den Kindern freute, die johlend durch die Taubenschwärme jagten. Wer die Carabinieri auf den Afrikaner aufmerksam machte, der seine Kleinigkeiten sicher unerlaubt verkaufte. Wer dessen Schmuck bewunderte und mit ihm über seine Heimat sprach. Wer den Bischof in den Dom begleitete. Wer seine Begleiter auf das steinerne Schweinchen hinwies, das von seinem Sockel hoch oben an der Torre del Porcellino seit Ewigkeiten über die Piazza wacht.

Annarella sah sich einer Bühne gegenüber. Das Theater einer kleinen bemerkenswerten, uralten, heutigen, mitunter … scheinbar … zeitlosen Stadt. Jeder, der die Piazza überquerte, wurde einen Moment lang zum Darsteller. Bot ihr eine Szene. Erzählte ihr eine Episode in der Geschichte eines Tages, einer Woche, eines Jahres.

Was nicht heißen soll, dass Annarella untätig gewesen wäre oder ihre Kunden vernachlässigt hätte. Bei Weitem nicht. Sie besaß wahrscheinlich die beneidenswerte Gabe, mehreres gleichzeitig wahrzunehmen und sich mehreren Dingen zugleich zu widmen. Umso erstaunter war sie jetzt, dass ihr diese Sache offenbar völlig entgangen war. Dass nichts sie hatte aufhorchen lassen.

»Nein«, sagte Angel. »Was soll ich gehört haben?«

Annarella fuhr sich durchs Haar. »Er hat sich in die Balze gestürzt.« Angel schaute sie groß an. »Der Eremo … du weißt schon … sie haben ihn heute Vormittag gefunden. Kannst du dir das vorstellen? Aus heiterem Himmel.« Sie stockte … »Er war ein so froher Mensch« … und glättete eine Falte ihrer geblümten Bluse. »Das hätte ich schwören können.« Angel blieb still. »Mit einer Drohne haben sie ihn entdeckt. Die Filmleute aus Florenz. Wegen der Landschaftsaufnahmen. Für die nächste Folge der Medici.«

Annarella schüttelte den Kopf. Sie wirkte betroffen.

Angel versuchte, sich den Mann vor Augen zu rufen. Sie hatte ihn nicht allzu oft gesehen. Er lebte oltre le mura, wie sie, außerhalb der Mauern, aber auf der anderen Seite der Stadt. Wenn, war sie ihm im Istante begegnet, der Bar an der Hauptstraße, der Matteotti, die bei allen Volterranern nur Via Guidi hieß. Dort trank sie ihren Aperitif, wenn sie etwas in der Stadt zu erledigen hatte. Manchmal auch so. Gesprochen hatte sie ihn aber nie.

»Der mit den rötlichen Locken? Und den hellen grünen Augen?«

»Blau«, sagte Annarella. »Blau.«

Angel wurde traurig. »Weiß man schon Näheres? Warum?«

Annarella verneinte. Sie kam hinter dem Schalter hervor und schloss Angel in die Arme. »Das werden wir wohl nie erfahren.« Die beiden blickten sich an. »Er hatte niemanden. Nicht dass ich wüsste«, dachte sie laut. Angel legte ihr die Hand auf die Schulter. Dann wandte sie sich zum Gehen.

»Hier, dein Einschreiben«, sagte Annarella.

Angel lächelte. »Du bist wirklich ein Engel.« Sie steckte den Umschlag in die Tasche, warf Annarella eine Kusshand zu und verließ das Gebäude.

Annarella sah sie quer über die Piazza davongehen, eine kleine schlanke Gestalt, die in den Shorts und dem zerschlissenen Hemd von hinten eher einem Jungen glich als einer Frau Mitte vierzig. Dann nahm ihr eine Gruppe aufgeregter Jugendlicher die Sicht. Nachdenklich machte sie sich daran, den Computer herunterzufahren und die Kasse zu schließen.

Angel zwängte sich durch die Touristenschar vor dem Palazzo dei Priori und bog in die enge Via dei Marchesi, um sich bei Tiziana mit der Tagespresse zu versorgen. Eine Gruppe von Menschen stand diskutierend vor dem Zeitungsladen, darunter auch einige der Filmleute. Früher, hörte sie jemanden erklären, sei es nicht selten vorgekommen, dass einer seinem Leben durch einen Sprung in die Balze ein Ende gesetzt habe. Die Alten erinnerten sich noch lebhaft an jeden einzelnen Fall.

Der Bankangestellte beispielsweise. September neunundsiebzig. Der hatte Vollgas gegeben, war mit dem Auto in den Abgrund gerast. Die Feuerwehr musste ihn aus dem Blech schweißen. Ein halbes Jahr lag er im Krankenhaus. Da haben sie ihn zusammengeflickt. Kaum war er wieder auf den Beinen, ist er los und hat sich vom höchsten Felsen hinabgestürzt. »Wozu dann die ganze Mühe?«, fragte Ubaldo, ebenso ratlos wie vor vierzig Jahren.

Oder die Hausfrau, die das Wasser für die Pasta aufgesetzt hatte, ihrem Mann einen Zettel mit den Worten schrieb, die Soße sei im Kühlschrank, ihren besten Mantel anzog, das Haus verließ, ein paar Freundinnen zuwinkte und wenig später in den Abgrund sprang. »Die war doch verrückt«, warf Tiziana ein, die sich aus der Tiefe ihres Ladens zur Gruppe gesellt hatte, »die hat jahrelang im Manicomio gearbeitet … kein Wunder, dass die Verrückten da im Irrenhaus auf sie abgefärbt haben.«

»Und? Wer hat damals nicht im Manicomio gearbeitet?«, gab Ubaldo zurück.

Bis auf die Filmleute, die es nicht wissen konnten, nickten alle: »Eben.«

Der Junge vom Schreiner, den sie vor Jahren am Grund der Schlucht gefunden hatten. Gerade noch rechtzeitig. Nur weil ein Jäger sich weit in die Balze hineinverirrt hatte. Sonst wäre er einfach verschwunden, für immer und ewig. Vermutlich hätte nie einer herausbekommen, was mit ihm geschehen war.

»Den kannst du nicht mitzählen«, bemerkte Tiziana, »das war ein Unfall … er ist da rumgeklettert und ausgerutscht …«

»Einen Arm hat er verloren«, nickte Ubaldo. »Dabei hatte sein Vater drauf gesetzt, dass er einmal die Werkstatt übernimmt. Aber mit einem Arm. Wie willst du das machen, als Schreiner?«

Die Filmleute sahen sich mehr als einem halben Jahrhundert Stadtgeschichte gegenüber … in Gestalt von Tiziana, der temperamentvollen, sorgsam frisierten Zeitungsfrau, und dem runden Ubaldo, einem der letzten Nobili hier, beide an die achtzig. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, hatten beide um dieselbe Zeit geheiratet … Ubaldo eine gebildete Mailänderin, Tiziana einen großherzigen Faschisten … waren zu Instanzen der kleinen alten Stadt geworden, kannten einander fast auswendig und waren sich doch nie wirklich grün.

Der letzte Selbstmörder sei übrigens der von der Versicherung gewesen, bemerkte einer aus der Gruppe. Zwei kleine Kinder. Geldsorgen. Ganz enorme. Wegen der Villa, die er sich kaufen musste. War das denn nötig?

Und jetzt der Eremo. Unbegreiflich. So ein froher Mensch. Hatte man immer gedacht. Wo kam er eigentlich her?

»Von woanders«, schnitt Tiziana das Gespräch ab. »Ciao Angel, die Repubblica? Wenn du in einer Stunde nochmal reinschaust, kannst du auch gleich die Spalletta mitnehmen. Alles zum Nachlesen, schwarz auf weiß.«

»So schnell?«, wunderte sich Angel.

»Massimo Grandini von der RAI«, stellte sich der sonnenbebrillte Herr neben ihr vor. »Wir haben unsere Drohnenaufnahmen gleich zur Verfügung gestellt … samt Kurzbeschreibung, wie wir ihn gefunden haben … sehr gute Fotos, selbst aus höchster Höhe. Es geht eben nichts über die Qualität der Technik. Und wir bei der RAI …« Sein Mund lächelte sie an. »Hätten Sie nicht Lust, als Komparsin bei den Dreharbeiten für die nächste Staffel der Medici dabei zu sein? Wir bräuchten noch ein paar reizende Ladies für Lorenzo Il Magnifico.«

Angel nickte bissig. »War er es nicht, der diese Stadt hier in Schutt und Asche gelegt hat?«

»Vor fünfhundertfünfzig Jahren. Sind Sie so nachtragend?« Grandini schob die Sonnenbrille in die Stirn.

»Ich überleg es mir«, lenkte Angel ein.

»Mach mit, meine Liebe. Ich bin auch dabei«, zwinkerte Ubaldo, »als Knappe, stell dir vor. Dann werden wir uns alle im Fernsehen sehen.«

Massimo Grandini zog ein Lederetui aus der Brusttasche und daraus seine Visitenkarte hervor. »Ich verlass mich drauf.«

Angel ließ das Kärtchen in ihren Shorts verschwinden. »In einer Stunde, Tiziana, ja?«

4

Volterra, eine der Protagonistinnen des etruskischen Zwölfstädtebunds, auf dem Bergrücken hoch über dem Val di Cecina, hatte sich nie mit der Eingliederung ins Herrschaftsgebiet von Florenz und der erzwungenen Abhängigkeit von den Medici abfinden können. Das Herz der Stadt schlägt autonom. Seit Ewigkeiten.

Volterra hatte alles, was es brauchte. Das Territorium war reich. Erze, Kupfer, Silber. Wertvolle Mineralien, die etlichen illustren Volterraner Familien bereits zu ihrem Wohlstand verholfen hatten. Dann wurde 1470 im Val di Cecina ein weiteres Mineral entdeckt. Für die Wirtschaft von strategischer Bedeutung und noch dazu sehr selten in Italien: Alaun. Ein schwefelsaures Salz. Kostbar und schwer zu beschaffen, da es nur in vulkanischem Gestein vorkommt. Unverzichtbar für Wollindustrie, Lederverarbeitung, Papierherstellung und vor allem für die Tuchproduktion, Färberei, Weißgerberei. Alaun lässt alle Farben leuchten.

Die Vorkommen schienen unerschöpflich. Die Medici waren elektrisiert. Mithilfe dieses Minerals könnten sie Italien wirtschaftlich vom Orient lösen, zugleich das Monopol des Papstes über den Mineralienhandel brechen.

Ein wahrer Goldrausch brach los. Die mächtigen Volterraner Familien bekämpften sich gegenseitig und bemerkten zu spät, dass hinter der Gesellschaft, die sich bereits stillschweigend die Schürfrechte gesichert hatte, Verbündete der Medici standen. In unbändiger Wut wieder geeint, stellten die Stadt und die Familien ihre Milizen ab und besetzten die Alaunminen.

Lorenzo de’ Medici reagierte prompt. Er forderte den Abzug der Milizen, umgehend, und die Rückgabe der Minen an die Gesellschaft.

Der gute Bischof Antonio degli Agli versuchte zu vermitteln. Keine Chance. Auf keiner Seite. Lorenzo erkannte die Gefahr, die seinem Machtanspruch durch die kleine renitente Stadt drohte, doch er scheute sich, alleine zu handeln. Er brauchte Verbündete. Er wollte nicht riskieren, durch den Alleingang von Florenz die fragilen politischen Gleichgewichte in Italien zu gefährden, durch deren geschickte Gewichtung er doch in die Geschichte einzugehen gedachte.

Schließlich fand er den richtigen Mann … Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino … der wüste einäugige Condottiere mit der Hakennase … von dem es hieß, er habe sich die Nasenwurzel herausschneiden lassen, um mit dem ihm verbliebenen Auge, dem linken, auch die von rechts heranziehenden Feinde sehen zu können … und dazu Alliierte in Italien. Mehr als gedacht.

1472, im Mai, zog ein Heer aus siebentausend Söldnern und schwerer Artillerie gegen Volterra und belagerte die Stadt. Sie widerstand. Dann war der Vorrat innerhalb der Mauern aufgezehrt. Die Kapitulation unausweichlich. Belagerer und Belagerte unterzeichneten ein Traktat zur friedlichen Übergabe, die Waffen wurden niedergelegt, die Stadttore geöffnet. Was dann geschah … dass einige Bauern nicht aufgeben wollten, dass sie sich der alten Macht der Magnaten nicht wieder unterwerfen wollten, dass sie von allen Ansprüchen befreit sein wollten und ebenso verzweifelt wie wild entschlossen gegen die Besatzer stürmten … war Montefeltro Grund genug, der Soldateska freie Hand zu lassen.

Die Sieger gaben sich wilden Plünderungen hin, es wurde gemordet und vergewaltigt. Und selbst die venezianischen Truppen, die im letzten Moment zur Rettung von Volterra eingetroffen waren, wechselten die Seite, voller Gier, und schlossen sich den Eroberern an. Ihr Wüten erhielt zu allem Überfluss noch durch ein Erdbeben Unterstützung.

Am 18. Juni 1472 war die Republik von Volterra gefallen. Zwei steinerne Löwen flankierten jetzt das Rathaus. Symbole der Herrschaft der Medici. Sie stehen dort noch heute. Entsprechend erodiert. Als Florenz Lorenzos fünfhundertsten Todestag 1992 prachtvoll beging, feierte auch Volterra. Eine Messe für die Opfer.

Angel legte die Broschur auf den Tisch zurück. »Und nun«, sagte sie, »drehen sie hier also den Mythos der Medici. Und alle sind dabei.«

»Das Ganze ist fünfhundert Jahre her. Was sage ich, mehr noch. Bist du so nachtragend?», fragte Piero. »Außerdem war Volterra selbst an der Geschichte beteiligt, das hast du doch gelesen. Ein Kleinkrieg zwischen den Familien statt Geschlossenheit gegen Florenz. Aber was willst du, es ist ja heute nicht anders.«

Weil sie bis zur Auslieferung der druckfrischen Spalletta noch eine Stunde Zeit hatte, war Angel auf die Idee gekommen, bei Piero in der Bibliothek vorbeizuschauen und dort ein Geschichtsbuch aus dem Regal zu ziehen … »Volterra und die Medici«.

Piero hatte es ihr kopfschüttelnd abgenommen … »was willst du denn mit diesem Schinken?« … und ihr dafür eine Schrift von Enrico Fiumi in die Hand gedrückt, dem Stadthistoriker. »Schau hier mal rein. Da hast du das Wichtigste auf ein paar übersichtlichen Seiten.«

Während er schwitzend einen Wälzer nach dem anderen in die Regale räumte, vertiefte sich Angel in den Text.

»Ich wusste gar nicht, dass du dich für diese alte Sache interessierst. Warum liest du das Zeug nicht im Winter?«, ächzte der Bibliothekar. »Ich entstaube dir gerne ein paar von den Bänden hier. Warst du schon am Meer?«

Angel verneinte. Sie dachte an die Figuren in ihrer Werkstatt. Nicht wider Willen, nein. Sie war anscheinend gerade dabei, sich einer Arbeit zu überlassen, die ihr viel zu tun und denken geben würde.

»Ich komme schon noch hin. Spätestens im September.« Piero strich ihr mit feuchter Hand über das Haar. Angel hauchte ihm einen Kuss auf die nicht minder feuchte Wange. »Such du mir doch schon mal das Richtige heraus. Ich schaue dann vor Weihnachten wieder rein«, sagte sie. »Hast du es übrigens gehört?« Piero pustete sacht über ein zerfleddertes Dokument. »Der Eremo. Der mit den hellen grünen Augen. Sie haben ihn heute Morgen in der Balze gefunden, tot.«

»Frag mich nicht, wen sie in den letzten paar Jahrhunderten alles in der Balze gefunden haben, tot«, erwiderte er ungerührt und ließ den Blick über die mit Historienbänden und Nachschlagewerken tapezierten Wände wandern. »Ich kann dir da noch weitere interessante Lektüren empfehlen. Bring einen Koffer mit, vor Weihnachten.«

»Hier. Gerade ausgeliefert.« Mit spitzen Fingern zog Tiziana ein druckfrisches Exemplar vom soeben gelieferten Stapel des Volterraner Stadtanzeigers.