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© 2019 Dr. Volker Himmelseher
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7494-8989-3

Inhalt

Vorwort

Wie du mir, so ich dir, oder auf Kölsch Butz widder Butz ist eine gängige Maxime der Menschheit. Sie zieht sich durch diesen Roman und macht vor seinen Helden nicht Halt.

Im Wilhelminischen Kaiserreich erleben wir in Köln-Ehrenfeld eine Arbeiterfamilie, die Opfer- und Tätergene in sich hat. Der Erste Weltkrieg und seine Nachwirkungen bis in die Weimarer Republik werden zum Nährboden für ihre Anlagen.

Butz widder Butz sehen sie oftmals als einzige Antwort.

In Hitlerdeutschland setzt sich dieses Verhalten drastisch fort. Einzelne Familienmitglieder entscheiden sich, selbst Unrechtstaten auszuführen. Butz widder Butz, denken sie zu ihrer Entschuldigung.

Andere trifft der Tod im Krieg oder der politische Mord durch das Unrechtregime. Sie werden Opfer. Auch hier bestimmt Butz widder Butz ihren Lebensweg.

Junge Menschen, die in trotzigem Übermut unbedacht und mit Unrecht gegen den Nazistaat opponieren, werden zu Tätern und Opfern. Sie nennen sich Edelweißpiraten.

Die Strafmaßnahmen des NS-Regimes treffen sie umso härter, je deutlicher der von ihm angezettelte Krieg einer Niederlage entgegen rast. Viele und vieles bleiben auf der Strecke. Butz widder Butz!

Die dem Tod entkommen, finden in der Bundesrepublik, die sich Rechtsstaatlichkeit auf die Fahne geschrieben hat, keine schnelle Rehabilitation. Sie werden lange Zeit weiter als Kriminelle eingestuft und behandelt.

Einer der Geächteten sucht Gerechtigkeit nicht auf dem langen Instanzenweg der Jurisdiktion, sondern stillt seinen Rachedurst durch weiteres Unrecht. Es soll sein letztes Butz widder Butz werden. Er wird zum Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungen und glaubt bis zum Schluss, dass er ohne Schuld ist und sich nur sein Recht genommen hat.

Die Hauptpersonen und der Gesamtplot sind frei erfunden. Inspirierend waren allerdings wahre Vorbilder und Begebenheiten. Zeitpersonen gehören zum Handlungsrahmen.

Der Leser erlebt das Leben und Leiden der Protagonisten, ihre Taten und deren Folgen. Er muss selbst entscheiden, ob ihnen Recht geschah. …

1900 bis 1914 –
vom Wechsel des Jahrhunderts
bis zum Ersten Weltkrieg

Im Jahr 1900

Ehrenfeld war bis 1888 eine kleine, eigenständige Industriestadt. Erst in diesem Jahr wurde sie nach Köln eingemeindet.

Die Arbeiterfamilie Felten wohnte damals schon dort, und zwar in der Heliosstraße. Mitten zwischen vielen Industriebetrieben fühlte sie sich unter ihresgleichen gut aufgehoben und wohl. Andere Gesellschaftsklassen blieben Fremdkörper im Viertel.

Ihre Nachbarschaft bestand überwiegend aus Großfamilien. Nicht nur die eigenen Kinder, sondern Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen lebten als »klebrige« Sippe zusammen. Familie Felten war hingegen über die Jahre durch Wegzug, Schicksalsschläge und Kinderlosigkeit geschrumpft.

Inzwischen lebten nur noch Hanna und Oskar Felten in einer kleinen Dreizimmerwohnung im ersten Stock unter der Hausnummer 39 zur Miete.

Das Wohnen war beengt. In der Küche stand eine solide Holzabseite mit dem geringen Bestand an Geschirr und Besteck. Ein Holztisch, auf dem meist der große blecherne Kochtopf seinen Platz hatte, bildete mit vier Stühlen, von denen jeder anders zusammengeschreinert war, den Essplatz und füllte den Raum auf einer Seite bis zum Fenster.

Auf der anderen Seite stand der Herd, der mit Koks beheizt wurde. Er war gleichzeitig Kochstelle und wärmte die Wohnung.

Damit für das Kochen nicht zu viel Kohle verbraucht wurde, nahm Hanna immer die eisernen Ringe mit einem Herdeisen aus der Abdeckung des Herdes, damit die Flammen direkt unter dem Kochtopf leckten und alles schneller gar wurde. An den Herd fügten sich wie Perlen auf der Schnur ein steinernes Waschbecken, eine Leiter und ein meist mit Wäsche behängtes Reck an.

Die Gardinen am Fenster waren fadenscheinig und fleckig, die Lampe an der Decke vom Kochen mit fettigem Schmand bedeckt, der nur selten weggewischt wurde. Es gab einfach zu viel zu tun.

Im Schlafzimmer standen ein Elternbett und eine Klappliege für das herbeigesehnte Kind.

Die Bettdecken und Kissen waren dick und verschossen, hatten aber reinliche Bezüge. Eine Uhr mit einem Messingpendel gab an, wann es aufzustehen galt. Wenn Feltens abends todmüde ins Bett fielen, störte sie das laute Ticken der Uhr nicht beim Einschlafen.

Der Deckenleuchter erhellte mit drei schwachen Birnen unter weißen Glasschirmen den Raum nur dürftig.

Drei gerahmte romantische Drucke, Landschaftsbilder vom alten Vater Rhein, waren der einzige Schmuck an der Wand.

Das zweite Zimmer war Wohnzimmer und Arbeitszimmer in einem und hatte noch ein weiteres Bett, in das der Nachwuchs später ausquartiert werden sollte. Bis dahin stand es für Besuch zur Verfügung, auch wenn der äußerst selten Station machte.

Für das Bad, immer am Wochenende, wurde in diesem Raum eine Zinkwanne aufgestellt. Über die Woche wusch man sich am Becken in der Küche. Am Badetag wurde auch die Wäsche gewechselt. Sie musste dann für eine ganze Woche halten.

Die Toilette war ein Plumpsklo draußen im Flur und für die gesamte Etage bestimmt. Ein Stall mit Kaninchen stand im Hof. …

Oskar war in Festanstellung Elektriker bei der Helios AG.

Hanna war zurzeit ohne Arbeit, sie war endlich schwanger geworden. Das Kind sollte Mitte nächsten Jahres auf die Welt kommen. Oskar wollte, dass sie sich schonte.

Die Helios AG war das Flaggschiff unter den örtlichen Industriebetrieben. Sie wurde 1882 gegründet und etablierte sich bald europaweit für elektrisches Licht und Telegrafenanlagenbau nicht nur als Pionier, sondern später auch als Marktführer.

Die Geschäftsleitung wusste über viele Jahre hin ihren Arbeitern einzubläuen, dass ohne Helios die Elektrifizierung von Industrie, öffentlichem Raum und Verkehrstechnik nicht in diesem rasanten Tempo stattgefunden hätte. Das machte die Beschäftigten stolz und motivierte sie. Ihr Arbeitsplatz fühlte sich sicher an. Beide Seiten waren im Gleichklang.

Auch optisch war der Betrieb ein Vorzeigeobjekt.

Das Helioshaus als Verwaltungsgebäude war repräsentativ und nach dem neusten Stand der Technik erbaut. Das galt auch für die großen Fertigungshallen.

Auf der anderen Straßenseite sorgten Eisenbahnwaggons werksnah für den schnellen Abtransport der Produktion.

Als Wahrzeichen von Helios hatten die Eigentümer einen 44 Meter hohen Leuchtturm errichten lassen. Der überragte weithin sichtbar das Gelände.

Der Turm hatte zwar nie einen in Not geratenen Seemann sicher nach Hause geleitet, war aber für die Ehrenfelder mit seinem nächtlichen Licht ein Symbol der Heimat geworden.

In den Jahren 1901 bis 1906

Am 15. Juni 1901 kam Willi Felten mit Beistand der Hebamme des Viertels in der Felten-Wohnung auf die Welt. Es war üblich, zu Hause zu gebären.

Willi war ein gesunder und kräftiger Junge. Er hatte von Geburt an einen unruhigen Geist und bescherte seinen Eltern in seinem ersten Lebensjahr fast nur schlaflose Nächte.

Möglicherweise entschieden sich Hanna und Oskar deshalb für nur einen Nachkömmling.

Ein Freund, dem sie von ihrer Not erzählten, bestärkte sie in diesem Entschluss: »Bei uns war der Zweite wie euer Willi. Wäre er zuerst gekommen, hätten wir mit ihm auch beim Kinderkriegen Schluss gemacht.« …

Klein Willi konnte die Blütezeit der Helios AG nicht bewusst miterleben. Schon mit der Jahrhundertwende hatte eine Schwächung der Nachfrage nach deren Produkten eingesetzt.

Die Geschäftsleitung stellte deshalb notwendige Investitionen zurück. Das Unternehmen trudelte langsam, aber sicher in die Schieflage.

Doch der Leuchtturm hatte anscheinend weit genug Notsignale ausgesandt und brachte fürs Erste Hilfe.

Die Berliner Allgemeine Elektricitäts Gesellschaft (AEG) übernahm die Helios AG und versuchte, sie vor dem Untergang zu retten. Ihre Bemühungen waren jedoch nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt. Schon 1905 leitete AEG notgedrungen die Liquidation ein.

Für Familie Felten blieb dieser Schritt nicht ohne Folgen. Oskar Felten, der so viel auf seine Firma gegeben hatte, wurde plötzlich arbeitslos. Der Stolz und Dünkel, Helios sei Weltmarktführer, verflog wie Schall und Rauch.

Der tüchtige Elektriker war verbittert und entwickelte sich politisch extrem. Waren seine Familienmitglieder schon immer stramme Sozialdemokraten gewesen, so liebäugelte Oskar nunmehr mit radikalerem linkem Gedankengut. Butz widder Butz!

Nach längerer Suche fand er in der Nähe des Westfriedhofs auf einer Großbaustelle Beschäftigung in Schwarzarbeit. Sie brachte ihm weniger ein als zuvor, doch noch gerade genug, um die kleine Familie über Wasser zu halten. Einschränkungen war man gewohnt.

Das Helios-Gelände wurde sich selbst überlassen. Der mannshohe Maschendrahtzaun, der ungewünschte Besucher abhalten sollte, hatte schon bald an vielen Stellen Schlupflöcher und war kein Hindernis für neugierige Eindringlinge mehr.

Das Areal und die Gebäude wurden verbotenerweise zum Spielplatz der Kinder, so auch für Willi.

Gespielt wurden sowieso meist im Freien, die Wohnungen waren bei allen Nachbarn zu eng.

Bald waren das Gejohle und Lachen der Kinder auf dem stillgelegten Werksgelände unüberhörbar und gaben dem Gebäudekomplex eine neue Daseinsberechtigung.

Besonders beliebt war die große Kokshalde von Helios.

Die Rabauken bildeten gern zwei Gruppen und bekämpften sich mit den schwarzen, glänzenden Kohlebrocken, die dort herumlagen. Jeder Treffer wurde mit Jubelgeschrei, aber auch mit Schmerzensgeheule begleitet.

Willi Felten sorgte, wenn immer möglich, dafür, dass der gleichaltrige Ernst Müller zu seinen Gegnern gehörte.

Das schuldete er seinem Vater, denn der hatte von dessen Familie eine gefestigte Meinung:

»Halt dich von denen fern, mein Junge«, hatte er gesagt. »Die haben nicht unseren Stallgeruch. Die gehören zur Zentrumspartei, praktizieren politischen Katholizismus!«

Willi zeigte seine Antipathie gegen Ernst deshalb oft mit krassen Worten: »Du bist eine miese Ratte. Aber ich habe keine Angst vor dir. Wenn du dein Maul zu voll nimmst, dann mache ich dich alle.«

Willi sah schnell, dass er mit solchen Drohungen etwas bewirken konnte. Ernst war nämlich ein Feigling. Er blieb auf solche Beschimpfung ohne Gegenwehr stumm, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.

Willi hatte aber früh gelernt, unter Feinden galt der Satz: Butz widder Butz. Deshalb blieb er gegenüber Ernst wachsam.

Wenn Ernst nach einem tätlichen Zusammenstoß mit Blessuren nach Hause kam, fand sein Vater kritische Worte für ihn: »Junge, wenn du schon zu schlapp bist, um gegen solchen Pöbel als Sieger vom Platz zu gehen, dann merk dir wenigstens, dass du noch eine Rechnung offen hast. Irgendwann kommt immer der Tag, wo sie beglichen werden kann.«

Ernst nickte und murmelte mürrisch vor sich hin: »Ja, ich weiß, wie du mir, so ich dir. Butz widder Butz, sagt dieser Pöbel.«

Nicht die Kinder und auch nicht ihre Eltern konnten sich vorstellen, dass aus den kindlichen Kriegsspielen in Ehrenfeld bald echter Krieg werden sollte.

Fürs Erste war Krieg spielen einfach nur viel interessanter als Verstecken und Nachlaufen. …

In den Jahren 1907 bis 1913

Als Willi in die Volksschule kam, bekam er den Ernst des Lebens zu spüren. Sein erster Lehrer hieß Toni Alzbach und regierte die Klasse mit dem Holzlineal.

Ohne jegliche Erklärung, immer wenn er glaubte, dass es Not tat, schlug er den Schülern mit dem Holz auf die Finger.

Als weitere Strafe kannte er das »in die Ecke stellen«.

Später, als die Schüler lesen und schreiben konnten, kam das Schönschreiben von zig Seiten Lesefibel als Bestrafung hinzu.

Willi war als einer der Hauptsündenböcke für alle Strafen prädestiniert. Er ertrug sie wie ein Indianer. – Indianer weinten eben nicht, nicht mal aus Wut.

Der Lieblingsspruch von Toni Alzbach war: »Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und eure Dummheit.«

Nach der Schulzeit begann Willi, wie einst Vater Oskar, eine Lehre als Elektriker. Man hielt bei Feltens etwas auf Familientradition. …

Willi kannte das Nachbarmädel Grete Meier schon damals flüchtig. Gretes Familie wohnte drei Häuser weiter ebenfalls in der Heliosstraße. Sie war zwei Jahre jünger als Willi und damit ein anderer Schuljahrgang. In der Schule gingen Jungen und Mädchen sowieso in getrennte Klassen. Das Interesse der beiden Geschlechter aneinander war noch nicht geweckt.

So blieb es für längere Zeit noch bei dem flüchtigen Kennen. Aber es gab ja die Liebe auf den zweiten Blick. …

Etwas änderte sich mit Willis Eintritt in das Lehrverhältnis.

Die beiden jungen Menschen befanden sich in der Pubertät und verspürten auf einmal Gefühle für das andere Geschlecht, besonders für einander.

Grete interessierte der kräftige Junge, der nun schon in der Berufsausbildung stand und bei sonntäglichen Jugendtreffen überzeugend Wortführer war. Er berührte etwas in ihr, und sie wollte dieses Gefühl nicht missen, gestand sie sich ein.

Sie träumte manche Nacht von ihm.

Eines Sonntags traf Willi wie ein Faustschlag ein ähnliches Gefühl. Was er bisher nie bemerkt hatte, stand plötzlich glasklar vor seinem inneren Auge.

Sein Blick hakte sich an Grete fest. Sie war ein schlankes, gut proportioniertes Mädchen, eigentlich sogar eine Schönheit. Das rothaarige, zarte Ding, was so bestimmt auftrat und mit resoluter Stimme Anweisungen gab, bewegte auch irgendetwas in ihm. Er fühlte einen Drang, ihr näher zu kommen.

Grete schaute auf, als hätte sie seine Gedanken gespürt.

Ihre hellen Augen sahen ihn forschend an.

Willi konnte und wollte sich nicht dagegen wehren, dass diese Augen ihn gefangennahmen. Erahnte sie etwa, was er verspürte?

Mit einem schmalen Lächeln senkte Grete den Blick. Sie griff sich, wie gedankenverloren, an die dünne Silberkette mit dem Kreuz, die sie um den Hals trug.

Auf Willi wirkte das erotisierend. »Sie hat jedenfalls nichts gegen mich«, dachte er erleichtert. »Ich werde mich um sie bemühen.« Er schaute über die anderen Jungen hin und sah unter ihnen keinen ernstzunehmenden Rivalen. »Sie wird mir gehören«, befand er voll Überzeugung. Er war gewohnt, zu bekommen, was er wollte. …

Grete zierte sich noch einige Wochen. Dann hatte Willi sein erstes Rendezvous. Das verwaiste Helios-Gelände kam ins Spiel. Sie verabredeten sich für abends halb acht vor dem Schlupfloch im Zaun, das sie beide gut kannten.

Mit dem dürren Strahl einer Taschenlampe suchten sie sich vorsichtig den Weg. Sie kannten die Umgebung gut genug, um in der Düsternis nicht die Orientierung zu verlieren.

Sie wollten auf den Leuchtturm hinauf.

Für die Verliebten sollte er künftig ein Fixpunkt werden, auch wenn sein Besteigen verboten war.

Sie waren in der Höhe so herrlich allein und hatten einen wunderbaren Blick über die nächtliche Stadt und in den Sternenhimmel. …

Schon beim ersten Mal rang Willi Grete einen Kuss ab. Ihre vollen runden Lippen luden förmlich zum Küssen ein.

Sie wehrte sich nicht sehr. »Hab ein bisschen Geduld«, flüsterte sie nur.

»Ich bin doch gerade mit dir so ungeduldig, und Ungeduld ist ein Hemd aus Brennnesseln«, antwortete Willi grinsend.

Sie nahm seine rechte Hand in die ihre und zog mit dem Zeigefinger seine Lebenslinie zart nach. Dann schaute sie ihn liebevoll an und ging mit ihrem Mund nahe an sein Ohr.

Sie flüsterte: »Ich glaube, wir werden die heutige Nacht wohl doch gemeinsam verbringen.«

Willi fühlte, wie er erigierte. Er schwamm in Begehrlichkeit.

Bald darauf fanden seine Hände unter ihren Wollpullover.

Rot war er gewesen, rot wie die Farbe der Liebe, erinnerte er sich später immer gern und flüsterte es ihr des Öfteren ins Ohr.

Es war kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als sie da oben auf der Plattform des Turms zusammenlagen.

Diesen Moment wollten sie nie mehr vergessen.

Sie schworen sich, für immer ein Paar zu sein.

Wie lange würde das »Immer« wohl währen?

Willi war noch ganz von seinen Gefühlen überrollt, als er sie zum Abschied fragte: »Wann sehen wir uns wieder?«

»So schnell es geht«, erwiderte sie ohne Zögern.

In den Jahren 1914 bis 1918 –
die Zeit des Ersten Weltkriegs

Im Jahr 1914

Permanentes Hochrüsten des Wilhelminischen Reichs und diverse Kolonialstreitigkeiten hatten die Nationengemeinschaft schon des Öfteren an den Rand eines Krieges gebracht.

Irgendwann musste das Fass auch dieses Mal überlaufen.

Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni in Sarajewo glaubten nur noch die größten Optimisten, der Ausbruch eines Weltkrieges sei zu verhindern.

Butz widder Butz war auch unter den Oberen gang und gäbe …

Gegen einen Krieg wurden im gesamten Reich, vor allem von den Sozialdemokraten, Protestkundgebungen durchgeführt.

In der Severinstraße fand mit 10.000 Teilnehmern die größte Arbeiterkundgebung für den Völkerfrieden statt.

Oskar und Hanna Felten waren mit ihrem Sohn Willi und seiner Grete dabei. Doch sie kehrten verbittert nach Hause zurück. Es hatte keinen geschlossenen Richtungsentscheid unter den Linken gegeben.

Darüber, was zu tun war, war die Meinung gespalten geblieben. Alle Anstrengungen, den Krieg noch abzuwenden, blieben erfolglos. Die Stimmung kippte zu Gunsten der Kriegsenthusiasten um. …

Am 4. August brach der Krieg aus.

An die Häuserwände wurde geschrieben: Jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuss ein Russ!

Kölns gerne zelebrierte Nähe zu Frankreich war auf einmal vergessen.

Der deutsche Kaiser sah dies mit hoheitlichen Worten genauso. Zunächst fing er die opponierenden Parteien ein:

»Ich kenne in meinem Volk keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche.«

Wilhelm II!

Die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag verhielt sich entsprechend und stimmte geschlossen den Kriegskrediten zu. Für Rosa Luxemburg, die gebildete Jüdin polnischer Herkunft, die damals noch Sozialdemokratien war, wollte sich vor Unverständnis eine Kugel durch den Kopf schießen. Trotzdem sollte es noch bis 1917 dauern, bevor sie aus der Partei austrat und sich den Kommunisten anschloss.

Mit flammenden Worten wandte sich der Kaiser sodann an sein Militär:

»An das Deutsche Heer und die deutsche Marine:

Nach 33-jähriger Friedenszeit rufe ich die deutsche wehrfähige Mannschaft zu den Waffen. Unsere heiligsten Güter, das Vaterland, den eigenen Herd gilt es gegen äußeren Überfall zu schützen!

Feinde ringsum! Das ist das Kennzeichen der Lage. Ein schwerer Kampf, große Opfer stehen uns bevor. Ich vertraue, dass der alte kriegerische Geist noch in dem deutschen Volke lebt, jener gewaltige kriegerische Geist, der den Feind, wo er ihn findet, angreift, koste es, was es wolle – der von jeher die Furcht und der Schrecken unserer Feinde gewesen ist.

Ich vertraue auf euch, ihr deutschen Soldaten!

In jedem von euch lebt der heiße, durch nichts zu bezwingende Wille zum Siege.

Jeder von euch weiß, wenn es sein muss, wie ein Held zu sterben.

Gedenkt unserer großen ruhmreichen Vergangenheit! Gedenkt, dass ihr Deutsche seid!

Gott helfe uns!

Berlin, Schloss, den 6. August 1914

Wilhelm II.«

Seinen Wünschen wurde Folge geleistet. Mit Blumen und Fahnen wurde am Wegesrand gejubelt, als die Soldaten aus der Stadt marschierten. …

Die deutschen Militärs hatten von Anfang an damit gerechnet, dass sich der Krieg auf Dauer zu einem Zweifrontenkrieg gestalten würde. Der Generalstab hatte deshalb den so genannten Schlieffen-Plan entwickelt. Der ging davon aus, dass die russischen Truppen länger brauchten als die Westmächte, um gegen Deutschland kampfbereit zu sein.

Deshalb wollte man zunächst über Belgien und Luxemburg mit einer Blitzoffensive nach Nordfrankreich vordringen und ganz Frankreich überrennen.

In der zweiten Phase sollten die im Westen siegreichen Truppen in den Osten abgestellt werden und einen Sieg gegen Russland folgen lassen.

Die Stadt Köln wurde der logistische Knotenpunkt für die Westfront. Mit etwa 600.000 Einwohnern gehörte sie zu den größten Städten im Reich und lag besonders nah am Kampfgebiet. Die Stadt glich schnell einem Heereslager.

Etwa 440.000 Soldaten machten während der Mobilmachung in Köln Station. Viele Industriebetriebe wurden auf Rüstung umgestellt. Die Produktion von normalen Bedarfsgütern ging rapide zurück. Viele ausländische Märkte blieben Deutschland auf einmal verschlossen. Beide wurden alsbald Gründe für Mangelerscheinungen.

Oskar Felten wurde direkt zu Kriegsbeginn eingezogen und der 1. Armee Kluck für die Westfront zugeteilt.

Der Auszug der Truppen aus der Kölner Garnison wurde frenetisch beklatscht. Seine Hanna verspürte allerdings große Ängste. Aber sie wusste die zu verbergen.

Willi und Grete gaben sich der allgemeinen Euphorie hin.

Der Jugend gehörten schließlich die Welt und die Zukunft. Viele Soldaten wurden am Gereons-Bahnhof auf Güterzüge verladen und in das Kampfgebiet gefahren.

Auf dem Marsch dorthin ging eine Militärkapelle vorneweg. Nicht nur die Kinder hatten Freude daran und rannten mit rot-weißen Fähnchen lachend nebenher. …

Der Vormarsch verlief zügig. Man führte wirklich einen raschen Bewegungskrieg aus. Alles rollte planmäßig ohne Unterbrechung. Täglich wechselte der Etappenhauptort.

Der August war sehr warm und staubig. Oskar Felten und seine Kameraden sahen bald aus wie Müller.

Warmes Essen fassen und Wasser abkochen erledigten sie am Straßenrand. Am 20. August marschierten sie vor bis Mons.

Die belgische Stadt wurde für Oskar schon die Endstation.

Die Kämpfe waren heftig. Die Deutschen hatten bereits 3.000 Gefangene, hauptsächlich Engländer, gemacht.

Überall lagen auf Stroh gebettet Schwerverwundete, meist mit Bauchschüssen. Sie starben häufig noch vor dem Abtransport mit Lastkraftwagen. Sanitätswagen waren schon zu Kriegsbeginn nicht genügend vorhanden.

Oskar traf in vorderster Linie ein Schuss in den Kopf.

Er war sofort tot. Sein Schicksal war kein Einzelfall. Schon im Dezember lagen über 9.000 Verwundete in Kölner Lazaretten. Etwa 4.516 Kölner Tote waren zu beklagen.

Hatten viele Menschen in Deutschland daran geglaubt, man könne bereits um Weihnachten den Sieg feiern, so war inzwischen große Ernüchterung eingekehrt.

An der Ostfront lief es ebenfalls nicht rund.

Der verzögerte Eintritt der Russen in den Krieg trat nicht ein.

Schon im August standen die Sowjets in Ostpreußen.

Trotz deutscher Einzelerfolge, wie der Schlacht bei Tannenberg, konnte das deutsche Heer die russischen Truppen nicht überwinden.

Die Front verlängerte sich hingegen ständig.

Schon bald sollte sie über 2.000 Kilometer umfassen und von der Küste der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichen. …

Willi war mit seinen 13 Jahren noch zu jung, um den Vater als Ernährer zu ersetzen. Seine Mutter musste das nun übernehmen. Der Boden rutschte ihr unter den Füßen weg.

So musste sich Treibsand anfühlen!

Hanna wurde Straßenbahnschaffnerin. Sie hatte damit noch Glück. Andere verwitwete Frauen mussten viel schwerere und gefährlichere Arbeitsstellen annehmen, überwiegend in Rüstungsbetrieben.

Zu ihrer Ausrüstung gehörten nun eine Dose mit Butterbroten und eine Aluminiumflasche mit Malzkaffee. In der Familie nannte man den Muckefuck.

Mit den Kriegsjahren nahm die Zahl der Frauen, die Männerberufe ausfüllen mussten, immer weiter zu. Diese Berufe waren ihnen vor Kriegsbeginn noch streng verwehrt gewesen. Hanna wurde an ihrem Arbeitsplatz anfänglich deshalb bestaunt.

Obwohl die Frauen nun 10 bis 14 Stunden arbeiteten, wurden sie nicht gleichberechtigt behandelt und bezahlt. Eine von den Gewerkschaften geforderte Lohnerhöhung lehnten die Unternehmer strikt ab, obwohl sie immer mehr eingezogene Männer durch Frauen ersetzen mussten. Die wiederum mussten die Arbeit annehmen, um ein Auskommen zu haben.

Die Güter des täglichen Bedarfs wurden knapper.

Seit Beginn des Krieges waren die Preise für Nahrungsmittel zudem enorm gestiegen.

Der Krieg zeitigte noch dazu unbekannte Grausamkeiten:

Die gerade erst erfundenen Kampfflugzeuge ermöglichten erstmals Bombenangriffe. Schon 1914 wurden in Düsseldorf und Köln Flughäfen sowie Bahnhöfe von Luftschiffen bombardiert. Ehrenfeld blieb zunächst verschont. Doch man stand ja noch am Anfang. …

Das Weihnachtsfest hatten Feltens wie zahllose Familien ohne den Hausvorstand gefeiert, der, wie viele Soldaten, bereits gefallen war. Am Heiligabend klangen vom Dom her die tiefen Töne der Kaiserglocke über die Stadt.

Hanna konnte Tränen der Trauer nicht zurückhalten.

Sie vermisste die traute Gemeinsamkeit mit ihrem Oskar so sehr. In der ganzen Stadt herrschte gedämpfte Stimmung. Auf den Straßen fehlte die fröhliche Geschäftigkeit der vorangegangenen Jahre. …

Im Jahr 1915

Familie Felten hielt im Kampf ums tägliche Überleben ihr besonderes Augenmerk auf die Entwicklung an der »Heimatfront« gerichtet. Dieser Blickwinkel war auch schon furchterregend genug, denn der Krieg änderte das Leben in der Stadt grundlegend.

Die Preise für Waren des täglichen Bedarfs waren schnell durch die Decke gegangen. Bereits Anfang des Jahres mussten staatlich Höchstpreise festgesetzt werden.

Selbst die waren bei Hanna Feltens kärglichem Einkommen unerschwinglich.

Im März kam für Brot die erste Rationierung. Die Preise für Grundnahrungsmittel und Heizstoffe hatten sich mittlerweile verdreifacht.

Endlich konnte sich Willi ein wenig nützlich machen.

Wenn es dunkel wurde, stöberte er mit seinen Kameraden über das Helios-Areal und klaubte Kohlebrocken zusammen.

Was dort noch lag, war schnell in den Öfen verbrannt.

Für Hamsterfahrten auf die umliegenden Bauernhöfe hatten die Feltens keine Zeit und erst recht kein Geld oder Güter zum Tauschen.

Willi, mitten in der Pubertät, war in dem Alter, in dem Jungen immer Hunger hatten und ihren Ernährern das Haar förmlich vom Kopf fraßen. Seine Mutter verzweifelte, weil sie ihren Sohn nie richtig satt bekam.

Der hoffnungsvolle Beginn an der Westfront fand ein schnelles Ende. Die Front erstarrte, und der Blitzkrieg wurde ein Stellungskrieg.

Im April, in der zweiten Schlacht von Ypern, setzte die deutsche Armee zum ersten Mal Giftgas ein. Man versprach sich davon, den Feind in den Schützengräben töten zu können, ohne selbst in dessen Trommelfeuer vorrennen zu müssen.

Die Gegner griffen schnell zu den gleichen schlimmen Mitteln. Butz widder Butz!

Bis Ende des Krieges waren über 90.000 Soldaten an Giftgas gestorben.

Die Heeresführung musste eingestehen, dass der Schlieffen-Plan gescheitert war. Zwar hatte das Deutsche Reich bis Oktober Belgien und Luxemburg besetzt und war in Nordfrankreich eingedrungen, doch dort hatte der Vorstoß jäh geendet. Die sich feindlich gegenüberstehenden Heere gruben sich ein. Bald zogen sich von der belgischen Kanalküste bis hin zur Schweiz über 700 Kilometer Schützengräben.

Das Reich musste nun seine Stellungen über die vielen Kilometer mit Gütern versorgen. Bis weit ins Hinterland wurden Versorgungsstellen unterhalten. Depots für Munition, Waffenarsenale, Fuhrparks wurden angelegt. Nahrungsmittel und medizinische Versorgung benötigte man besonders dringend. Die Arsenale waren ein Indiz dafür, dass niemand mehr in der Armeeführung mit einem schnellen Kriegsende rechnete. …

Im Sommer rückten deutsche Truppen weit ins damals russische Gebiet vor. Warschau und Brest-Litowsk wurden eingenommen. Diese Landgewinne waren allerdings sehr klein, wenn man sich das riesige russische Reich vor Augen führte.

Der Heeresführung wurde immer klarer, dass die Weite Russlands schier uneinnehmbar war.

Als Italien auf der Seite der Entente in den Krieg eintrat, kam zur Westfront und Ostfront noch eine Südfront hinzu.

Das Kräfteverhältnis verschob sich weiter zu Ungunsten der Mittelmächte, deren Hauptverbündete das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn waren.

Dass diese inzwischen durch die englische Seeblockade von Lieferungen über das Meer weitgehend abgeschnitten waren, machte sich schmerzhaft bemerkbar.

Deutschland antwortete mit einer Gegenblockade durch die eigenen U-Boote. Es geschah dabei immer wieder, dass andere Schiffe als englische versenkt wurden, besonders amerikanische. Das sollte der Hauptgrund werden, warum Amerika am 6. April 1917 dem Deutschen Reich den Krieg erklärte.

US-Präsident Woodrow Wilson nannte den deutschen U-Boot-Krieg auch gegen den Handelsverkehr einen Krieg gegen die Menschheit und überzeugte den Kongress, in den Krieg gegen Deutschland einzutreten.

Dieser Entscheid läutete die Wende im Kriegsgeschehen ein.

Immer mehr verwundete deutsche Soldaten wurden in die Heimat überführt und beanspruchten dort als zusätzliche Esser die knapp gewordenen Nahrungsmittel.

Die Zukunft sah düster aus …

Im Jahr 1916

Schon zu Beginn 1916 wurde die Rationierung auf alle wichtigen Lebensmittel ausgedehnt. Hunger breitete sich aus und verschonte auch Familie Felten nicht.

Die Lebensumstände wurden gegen Ende des Jahres besonders dramatisch. Den Winter nannte man später Kohlrübenwinter. Die Bevölkerung musste sich von Kohlrüben ernähren, die nur wenig Nährwert hatten.

Konrad Adenauer, ein Beigeordneter der Stadt, trug zu einer kleinen Besserung bei. Er erfand das Kölner Sparbrot. Die Bäckerbrüder Jean und Josef Oebel buken es. Es war ein aus Mais, Reis und Gerste gebackenes Schrotbrot.

Die Brotversorgung schien damit fürs Erste gesichert.

Doch Ende August trat Rumänien in den Krieg ein.

Der Nachschub an Mais als Grundlage für das Sparbrot war von dort gekommen und fiel nun fort.

Auf der Straße und in den Häusern führte man städtische Kriegshilfssammlungen durch. Sammler warben um Spenden für ein kostenloses Schulfrühstück und die Versorgung der mehr als 100 städtischen Kinderkrippen.

Holz und Kohle waren zu Winterbeginn so knapp, dass die Stadt in Schulen und Turnhallen Wärmeräume einrichtete. Hanna, Willi und ihre ganze Nachbarschaft nutzten diese Möglichkeit, so oft sie Zeit hatten und dort noch Platz fanden. Für Willi und Grete wurde das Aufwärmen ein wichtiger Moment, um ein wenig zu kuscheln.

Ihre Angehörigen verfolgten ihr Tun mit Wohlwollen.

Die Jugendlichen hatten ja sonst kaum noch Freuden …

1916 sollte für die Westfront das Jahr der großen Schlachten werden.

Die Schlacht an der Somme und die von Verdun gelten als die schlimmsten des Krieges.

Sie wurden immense Materialschlachten, waren äußerst verlustreich und kannten keinen Sieger.

Die Franzosen sahen in der Festungsanlage von Verdun ihr wichtigstes Verteidigungsbollwerk.

Dies wollten die deutschen Soldaten nun knacken und ausbluten, damit ihr Vormarsch wieder in Schwung kam.

Es gelang ihnen jedoch nicht.

Deutsche wie französische Soldaten krepierten erbärmlich im Stellungskrieg. Im Juli zählte man 700.000 Gefallene.

Kurz zuvor hatte in Nordfrankreich an der Somme eine zweite große Schlacht begonnen. Die Entente wollte dort deutsche Truppen binden, um die Front bei Verdun zu entlasten. Zweieinhalb Millionen Soldaten kämpften hier.

Der Fluss wurde ein schlimmer »Leichenfresser« und die Schlacht noch blutiger als die von Verdun.

Man zählte schließlich über eine Million Tote und Verwundete. Darunter waren viele Engländer, Australier und Männer aus anderen Commonwealth-Staaten.

Immer wieder hatten die Artillerien auf die gegnerischen Stellungen geschossen, um sie mürbe zu machen.

Danach stürmten die Soldaten ein über das andere Mal die gegnerischen Schützengräben, um die Front zu durchbrechen. Artilleriebeschuss und ihr Anrennen wiederholten sich endlos ohne durchgreifenden Erfolg.

141 Tage tobte das Gemetzel und endete im November mit einem Patt. Das war zu wenig für das Deutsche Reich.

Mehrere größere russische Offensiven drängten im Osten die österreichisch-ungarischen Truppen zurück. Dies kostete Russland eine Million Tote und Verwundete.

Die russischen Soldaten waren so demoralisiert, dass Russland den gegnerischen Truppen nichts mehr entgegensetzen konnte.

Es gelang den Mittelmächten, Rumänien zu erobern und dessen Ölvorkommen wieder zu kontrollieren.

In der Heimat wurden dirigistische Eingriffe des Staates immer rigider. Die Bürger an Rhein und Ruhr, so auch in Köln, wurden zur Verdunklung ihrer Wohnungen und Häuser verpflichtet, um feindlichen Flugzeugen die Orientierung zu erschweren. Hanna verfluchte diese Arbeit, die abends, wenn sie erschöpft vom Dienst kam, nun auch noch erledigt werden musste. Bald bekam Willi sie aufs Auge gedrückt.

Das am Ende des Jahres verabschiedete Pflichtgesetz berührte Familie Felten nicht, doch es traf viele Nachbarn.

Männer zwischen 17 und 60 wurden zur Arbeit in kriegswichtigen Betrieben verpflichtet, wenn sie nicht in der ebenfalls lebensnotwendigen Landwirtschaft tätig waren.

Im Jahr 1917

Anfang 1917 zeigte die Versorgung der Bevölkerung katastrophale Ausmaße.

Mehr als 40.000 Bürger nahmen inzwischen an den städtischen Massenspeisungen teil, um nicht zu verhungern. Wegen der eisigen Kälte mussten Schulen, Museen, Kinos und Theater geschlossen bleiben. Es gab nicht mehr genügend Brennstoff.

Die Behörden führten weitere Rationierungen ein.

Kinder über sechs Jahre erhielten keine Milch mehr, Willi mit seinem großen Hunger gehörte dazu.

Binnen Wochenfrist sank die Kartoffelration von zehn Pfund auf anderthalb Pfund sowie die Fleischration von 400 Gramm auf 250 Gramm pro Woche.

Wer wie die Feltens auf dem Schwarzmarkt nichts dazukaufen konnte, musste von 1000 bis 1500 Kalorien am Tag leben.

Hanna pflückte zusammen mit Grete auf dem Melaten-Friedhof Löwenzahn und Gänseblümchen. Die gab es gekocht als Gemüse. Grete wollte mit ihrem Dazutun helfen, Willi satt zu bekommen.

Die Stadt förderte sogar den privaten Anbau von Obst und Gemüse auf Friedhöfen und in öffentlichen Anlagen.

Am 17. Mai bildete sich die erste Kölner Ortsgruppe der unabhängigen Sozialdemokraten, USPD. Der Anfang zur Aufsplitterung der Linken war gemacht. Allerdings waren nur 26 Gründungsmitglieder anwesend. Die USPD blieb in Köln bis zum Kriegsende unbedeutend und einflusslos. Hanna Felten traf für sich keine Entscheidung, wohin sie tendieren würde.

Als im Juni die Auslieferung von Kartoffeln ganz eingestellt werden musste und es als Alternative nur noch getrocknete oder eingesalzene