Dr. med. Ulrich Selz

Migräne ADE!

Das neue Migräneverständnis nach Dr. Selz

Dieses Buch widme ich

meiner Frau Susan und meinen Eltern.

Vielen Dank für die jahrelange Unterstützung.

Danksagung

An meiner fachlichen Entwicklung waren viele bewundernswerte Ärzte und Ärztinnen mit außergewöhnlichen fachlichen Fähigkeiten beteiligt. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Ebenfalls waren in frühester Jugend viele haupt- und ehrenamtliche Helfer des Rettungsdienstes und der Feuerwehr wegweisend für mich. Sie leisten einen beachtlichen und unschätzbaren Beitrag für unser Gemeinwohl. Ihre jahrzehntelangen Erfahrungen und ihre Bereitschaft, diese zu lehren, haben mich reifen lassen.

Mein besonderer Dank gilt einigen Personen, die an meiner persönlichen Entwicklung maßgeblich beteiligt waren: Ich danke Herrn Prof. Dr. Thomas M. Scalea, dem Chefarzt des R. Adams Cowleys Shock and Trauma Center, University Maryland für seinen knappen, aber bedeutungsvollen Satz während meines Aufenthaltes in seiner Notaufnahme: “You are not here to read textbooks, you are here to write textbooks.“

Weiterhin gilt mein Dank Herrn Boris Grundl samt seinen Mitarbeitern der Leadership Akademie Dr. Stefan Kerkemeier und Hr. Andreas Schlatter. Die Transformation seines Schicksals und seine Bereitschaft sich in den Dienst lernbereiter Menschen zu stellen, ist beispiellos. Seiner Inspiration ist es zu verdanken, dass dieses Buch entstanden ist.

Vielen Dank für die Unterstützung aller am Buch beteiligter Personen.

Inhalt

1     

Mein Leben mit Migräne

1.1     

Wie ich als Kind eine Migränekranke leiden und genesen sah

1.2     

Experiment im Studium – Migränepatient für 10 Tage

1.3     

„Ich kümmere mich um die Migränepatienten, Herr Professor!“

2.     

Migräne allgemein

2.1     

Was genau ist Migräne?

2.2     

Typische Symptome

2.3     

Ursachen und Verlauf

2.4     

Diagnose

2.5     

Behandlungsmöglichkeiten

2.6     

Grenzen und Kritik

3     

Migräne ganzheitlich verstehen

3.1     

Mein Verständnis von Migräne

3.2     

Was heißt „ganzheitlich“?

3.3     

Ganzheitliche Diagnose und Therapie

3.3.1     

Hormone und Hormonstörungen

3.3.2     

Innere Organe und ihre Schwächen

3.3.3     

Ernährung

3.3.4     

Gestörte Funktionskreise und blockierte Energiemeridiane

3.3.5     

Muskelverspannungen und Gelenkprobleme

3.3.6     

Zahn- und Kieferstörungen

4     

Nachwort

1       Mein Leben mit Migräne

Einer der schönsten und besten Augenblicke als Mediziner ist es, Menschen bei akuten und chronischen Schmerzen erfolgreich zu behandeln. Wenn man als Notarzt oder zuständiger Dienstarzt im Krankenhaus zu einem Schmerzpatienten gerufen wird, verspürt man sofort eine tiefe innerliche Zufriedenheit, wenn binnen weniger Momente die Schmerzfreiheit hergestellt werden konnte. Der Patient und das Umfeld danken es einem sehr. Aber wie sieht es aus, wenn ein Behandlungsbedürftiger nur eingeschränkt oder gar nicht auf typische Schmerzbehandlungen reagiert? Was bedeutet das für den Arzt, wenn einem der Patient sagt, dass er aufgrund von anderen Begleiterkrankungen beispielsweise keine Schmerzmittel mehr nehmen kann? Oder was ist, wenn die einst gute Wirksamkeit eines Schmerzmittels nach einigen Jahren der Einnahme nicht mehr besteht? Nachdem ich einige Jahre als Notfallmediziner, Narkosearzt und Schmerztherapeut tätig war, verließ ich die Akutmedizin und wurde Assistenzarzt in einer Rehabilitationsklinik für chronisch kranke Patienten. Gerade bei den Migränepatienten wurde ich mit den obigen Fragen konfrontiert. Was kann ich als Arzt für einen Betroffenen tun, bei dem die Standardtherapien keine Verbesserungen bringen und sämtliche Untersuchungen nur Normalwerte zeigen? Die Not meiner Patienten und meine fachliche Neugier trieben mich an, nach Antworten und Lösungen zu suchen.

Ein neuer Migränepatient – Einblicke in die Gedanken eines Arztes

Während Ärzte ihren Patienten Fragen stellen, laufen beim Arzt parallel zum Patientengespräch komplexe Denkprozesse ab. Je nach Fachdisziplin, Art und Dringlichkeit der Situation betrachtet der Arzt die medizinischen Details aus unterschiedlichen Blickwinkeln. So macht er sich ein Bild des gesundheitlichen Problems und sucht während des Gesprächs nach einer Lösung. Zu den Überlegungen zählen u. a. folgende Fragen: Welche Krankheiten lassen sich vermuten oder ausschließen? Welche Untersuchungen sollten angefordert werden? Welche Therapiekonsequenzen sind abzuleiten?

Das folgende Gespräch zwischen einer Patientin und mir hat tatsächlich stattgefunden. Es soll Ihnen als Einstieg in die Thematik dienen und Ihnen helfen, sich auf die Komplexität der Migräne einzustellen. Meine Gedanken, die ich während des Gesprächs hatte, sind kursiv dargestellt.

Das Anamnesegespräch

Der Monitor meines Computers verriet mir zu meiner neuen Patientin nur wenige Stichwörter meiner Arzthelferin: „Schwere Migräne, hat schon alles ausprobiert, nichts hilft“. Als ich Annika, eine Mittvierzigerin, im Wartezimmer abholte, bemerkte ich bei ihr ein leicht hängendes Augenlid. Gleich nach der Begrüßung fragte ich: „Haben Sie jetzt gerade Migräne?“. „Leider ja, wie jeden zweiten Tag.“, entgegnete mir Annika.

Scheint interessant zu werden. Sie hat jeden zweiten Tag einen Migräneanfall. Der Ort des Schmerzes und ihre ganze Krankengeschichte seit der Kindheit verraten mir sicherlich gleich mehr über die Zusammenhänge.

Im Arztzimmer angekommen, erzählte sie mir ihre Leidensgeschichte. Sie litt seit dem 17. Lebensjahr unter einem linksseitigen Migränekopfschmerz. Der Schmerz tritt seitdem nirgendwo anders am Kopf auf. Sämtliche Untersuchungen beim Neurologen (Fachspezialist für Nervenerkrankungen), bei den Röntgenärzten und in den Kliniken waren ohne Befund. „Sie müssen mit ihrer Migräne leben.“, haben ihr die Ärzte gesagt. Sie kannte jedes Schmerzmittel und nahm seit Jahren jeden zweiten Tag ein sehr starkes Migränemittel. Damit konnte sie den Schmerz nur minimal abdämpfen. „Richtig helfen tut es bei mir nicht.“, berichtete sie mir voll Kummer. Es war das einzige Medikament, das wenigstens etwas helfen konnte. Alle anderen gängigen Schmerzmittel schlugen überhaupt nicht an.

Aha. Wir haben es bei ihr mit einer hormonellen Mitbeteiligung zu tun, weil sie den Schmerz in der Zeit der Hormonumstellung von Kind auf Erwachsene bekommen hat. Außerdem ist ungewöhnlich, dass ihr die starken Schmerztabletten nicht helfen. Erfahrungsgemäß müssten bei ihr noch weitere Diagnosen zu finden sein. Migräne ist Ausdruck einer Organschwäche. Es wäre also interessant, mehr über ihre Organsysteme zu erfahren.

Sie bestätigte mir, dass die Migräne früher alle drei Wochen regelmäßig vor ihrer Periode für einige Tage am Stück auftrat. Seit den Wechseljahren hat sich dieses periodische Auftreten verloren. Dafür ist eine andere Form der Regelmäßigkeit eingetreten: Jeden zweiten Tag hat sie einen Anfall. Die Wechseljahre zogen sich über eine Zeit von ca. sieben Jahren. Sie berichtete über Schwitzattacken, die nur durch die Gabe von hochdosierten Hormonen einigermaßen in den Griff zu bekommen waren.

Das Hormonsystem hat die Umstellung von Kind auf Erwachsene schlecht mitgemacht, deshalb kam die Migräne zum ersten Mal mit 17 Jahren. Wenn die hormonelle Störung so lange anhielt, dann ist es auch kein Wunder, dass der Wechsel so dramatisch verlaufen ist. Sie hat bestimmt immer noch eine Störung im Hormonhaushalt, auch wenn der Wechsel schon stattgefunden hat. Ich werde eine Hormonuntersuchung in Auftrag geben.

Ich fragte nach möglichen migräneauslösenden Lebensfaktoren (Trigger). Erstaunlicherweise konnte Annika mir keine nennen.

Interessant: Sie hat über 30 Jahre Migräne und bisher keinen einzigen Triggerfaktor gefunden. Das könnte ein Hinweis auf eine Beteiligung des Darms sein und außerdem mit einer schlechten Entgiftungsleistung der Leber zu tun haben. Mal sehen…

Annika holte bei meiner Frage nach ihrer Verdauung und der Darmtätigkeit weit aus: Seit mehreren Jahren hätten sie unklare Bauchschmerzen im vorderen Unterbauch geplagt. Diese sind zeitweise so schlimm geworden, dass sie sich hinlegen musste, um den Schmerz über einige Stunden ertragen zu können. Sie hat schon sämtliche Untersuchungen über sich ergehen lassen. Der einzige Befund, der festgestellt werden konnte, war eine Divertikulose, eine altersbedingte Schwäche des Darmbindegewebes. Die Ärzte sagten allerdings, dass das nicht die Ursache für die Schmerzen sein könne. Annika hatte zudem immer Schmerzen beim Sitzen. Allerdings konnten keine Hämorrhoiden, Bandscheibenvorfälle oder andere Auffälligkeiten in diesem Bereich festgestellt werden.

Aha! Ich hatte Recht mit dem Darm. Er ist wahrscheinlich mittlerweile die Ursache für eine Störung im Leber-Gallenblasensystem, die wiederum den typischen Migräneschmerz an der Kopfseite bewirkt. So steht es in den chinesischen Lehrbüchern. Vielleicht stecken noch Parasiten dahinter. Ich werde mal fragen, ob sie auf dem Land mit vielen Tieren aufgewachsen ist und unter unklaren Schwächeattacken leidet.

Annika bestätigte mir, dass sie unter minutenlangen Schwächeattacken leide. Sie erzählte mir dazu eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Bei einer Heuernte durfte sie mit vielen anderen Kindern auf dem Pferdewagen inmitten des Heuberges nach Hause fahren. Währenddessen hatte sie eine unklare Schwächeattacke, so dass sie als ganz junges Mädchen schon Angst hatte, sie müsse sterben. Nach diesem Ereignis hat sich hohes Fieber entwickelt. Die Ärzte rätselten, was der Auslöser gewesen sein könnte. Man hat ihn nie gefunden. Erst durch die Gabe von starken Medikamenten konnte ihr das Leben gerettet werden. Seitdem wachte sie morgens mit Bauchschmerzen auf. Einige Jahrzehnte später hat sie etwas Ähnliches erlebt: Nach einem Urlaub mit der ganzen Familie hatte sie einen ähnlichen Schwächeanfall. Diesmal entwickelte sich kein Fieber, sondern die ganze Familie hatte über Monate mit unerklärlichen Erstickungsanfällen zu tun. Alle Untersuchungen brachten keine Ergebnisse. Die Familie probierte verschiedene Medikamente aus, die im Wesentlichen keine Verbesserung des Zustands brachten. Alle besuchten mehrere Ärzte und mussten häufiger ins Krankenhaus.

Das könnten tatsächlich Parasiten gewesen sein. Das Aufwachen mit Bauchschmerzen vor dem Frühstück wäre typisch dafür! Das werde ich im Labor testen lassen.

Eigentlich müsste sie dann auch noch eine Schlafstörung haben, falls die Entgiftungsleistung der Leber durch Parasitengifte herabgesetzt ist. Und sie wird sich leicht über Dinge ärgern; das schreiben die chinesischen Ärzte zu den Leberentgiftungsstörungen.

Nachdem ich meinen Verdacht wegen der Parasiten geäußert hatte, erzählte mir Annika, dass schon einmal ein Arzt dies vermutet habe. Die Spur wurde allerdings nicht weiter verfolgt, weil der Arzt plötzlich verstarb und es einige Zeit brauchte, ehe sie einen neuen Arzt gefunden hatte. Überprüft wurde dies also bislang nicht. Annika bestätigte mir, dass sie nachts zwischen ein Uhr und drei Uhr wach liege und keine Chance habe, wieder einzuschlafen. Erst ab drei Uhr ginge es ihr wieder besser.

Auf mein Nachfragen bestätigte sie, dass sie sich mit Ärger oft innerlich über Stunden beschäftigen könne. Früher kannte sie das nicht, aber in den letzten Jahren habe sie diese Tendenz oft an sich bemerkt.

Vielleicht hat sie weitere Giftstoffe aufgenommen, die jetzt das Problem verschlimmern. Eines der wichtigsten und häufigsten Gifte ist Quecksilber aus Amalgamfüllungen. Ohne medikamentöse Ausleitungstherapie verbleibt es über Jahrzehnte im Körper.

Annika erzählte mir, dass sie vor 20 Jahren ihre Amalgamfüllungen entfernen ließ. Eine Entgiftungstherapie hat bis heute aber nicht stattgefunden. Die weitere Befragung ihrer Krankheitsgeschichte brachte keine weiteren Auffälligkeiten. Deshalb entschloss ich mich, nach der körperlichen Untersuchung noch einige zusätzliche Laboruntersuchungen bei ihr durchzuführen, um weitere Informationen über den Zustand der inneren Organe zu bekommen.

Folgendes wurde durchgeführt:

–   eine Untersuchung des Stuhls hinsichtlich der bakteriellen Zusammensetzung ihrer Darmflora, um die Verdauungsprobleme bzw. Bauchschmerzen korrigieren zu können

–   Untersuchung einiger Leber-Blutwerte, die nicht im Standardlabor abgenommen werden, um die Leistungsfähigkeit der Leber hinsichtlich der Entgiftung zu messen

–   zusätzlich ein ausführliches Hormon-Labor, weil die Hormonstörungen eines der markantesten Merkmale ihrer Krankengeschichte waren

–   außerdem sollten die Parasiten über eine Stuhl- und Blutuntersuchung getestet werden

Was hat das alles mit Migräne zu tun? Darmflora, Parasiten, Entgiftungsleistung der Leber … der Schmerz sitzt doch im Kopf! Aber nur weil er dort sitzt, muss die Ursache noch lange nicht im Kopf zu finden sein. Wie all dies miteinander zusammenhängt und eine völlig neue Sichtweise auf die Migräne erfordert, möchte ich Ihnen in diesem Buch erklären.

1.1       Wie ich als Kind eine Migränekranke leiden und genesen sah

Mein Bruder und ich machten mit unseren Eltern einen Urlaub und kamen gerade aus diesem zurück. Wir saßen auf der Rückbank des Autos und hatten großen Hunger. Mein Vater wollte uns etwas Gutes tun und plante den Stopp an einem Imbiss, um uns mit Bratwürsten zu versorgen. Meine Mutter äußerte sich skeptisch; hatte ihr der Arzt doch kurz zuvor geraten, wegen ihrer Migräne auf Schweinefleisch zu verzichten. Sie wollte lieber in ein Restaurant gehen und einen Salat essen, was aber nicht in den Zeitplan meines Vaters passte. Das Gespräch zwischen den beiden wurde intensiver. Was denn ein Stück Fleisch mit Kopfweh zu tun habe, fragte mein Vater mit leicht sarkastischem Unterton. Die Diskussion brach jäh ab, als vor uns am Straßenrand ein Bratwurststand auftauchte. Meine Mutter war rasch durch angewandte „Kinderpsychologie“ überstimmt und unsere Mägen waren gerettet.

Was dann geschah, sollte sich bis heute in unser aller Gedächtnis einprägen und meinen weiteren Lebensweg maßgeblich bestimmen. Meine Mutter verspürte schon beim zweiten Bissen eine heftige Übelkeit und zog sich sofort ins Auto zurück. Binnen weniger Minuten baute sich ein schwerer Migräneanfall mit massivem Erbrechen auf. Mein Vater wurde hektisch. Er kannte die Problematik und bemühte sich, kaltes Wasser für den Kopf meiner Mutter zu besorgen. Wir waren noch einige Stunden von zu Hause entfernt und die Rückfahrt in einem Auto bei praller Hitze und gleißendem Sonnenlicht im Hochsommer verstärkte den Migräneanfall meiner Mutter. Dieser dauerte ganze drei Tage und konnte selbst durch starke Medikamente nicht unterbrochen werden. Es war das erste Mal, dass ich als Kind meine Mutter als schwer krank erlebte. Ihr Arzt hatte Recht gehabt! Die Wurst aus Schweinefleisch verursachte einen sofortigen Migräneanfall. Diesen Zusammenhang zweifelte keiner mehr von uns an. Ganz im Gegenteil. Wir verteidigten unsere Mutter gegen die gut gemeinten Worte von Freunden und Bekannten, dass deren Essen bestimmt keinen Anfall bei ihr auslösen würde.

Im Laufe des Größerwerdens musste ich meine Mutter noch oft in diesen Zuständen erleben. Häufig lag sie für drei Tage im dunklen Schlafzimmer mit einem kalten Waschlappen auf dem Gesicht und bemühte sich, trotz des Schmerzes, uns Kinder zu versorgen. Sie litt über Jahrzehnte an massiven Migräneattacken, die mehrere Tage andauerten. Die Zeit verging, die Migräne blieb.

Jahre später war ich es, der durch Zufall den Anstoß für ihre Heilung gab. Ich war immer noch im Kindesalter. Es war spät nachts und wir kamen von einer Familienfeier zurück. Beim Betreten des Hauses sagte meine Mutter, dass sie sich noch einen Kaffee machen wolle – kurz vor Mitternacht! Ich schrie sie an: „Mama, du bist kaffeesüchtig!“ Aus meiner kindlichen Sicht heraus, gab es gar keinen Grund dafür, mitten in der Nacht Kaffee zu trinken, das tat man doch nur am Nachmittag! Meine Mutter missachtete meinen Ratschlag und bereute ihre Entscheidung in derselben Nacht: Eine massive Migräne baute sich nur Minuten nach der Einnahme des nächtlichen Genussmittels auf und sie war wieder für drei Tage ans Bett gefesselt. Erneut stellte sie fest, dass ein Lebensmittel einen Migräneanfall hervorgerufen hatte.

Jahre später erzählte mir meine Mutter dieses Erlebnis. Meine Aussage als kleiner Junge hatte sie so getroffen, dass sie beschloss, alles dafür zu tun, um schmerzfrei zu werden. Das Kaffee-Erlebnis war der Auslöser für sie, sich intensiv mit ihrer Ernährung und den Zusammenhängen mit der Migräne auseinanderzusetzen. Sie folgte den Ratschlägen ihres Arztes und änderte einige ihrer Verhaltensweisen in der Ernährung und Lebensführung. Was folgte, klingt wie ein Wunder: Der nächtliche, durch Kaffee ausgelöste Migräneanfall, war der letzte von insgesamt dreien in über 35 Jahren bis zu ihrem Tod. Meine Mutter hatte es also statistisch von mehreren schweren Anfällen pro Monat auf weniger als einen Anfall alle 10 Jahre gebracht.

1.2       Experiment im Studium – Migränepatient für 10 Tage

Ich war im vierten Semester des Medizinstudiums, als wir den Gehirnstoffwechsel lernen mussten. In der Vorlesung erfuhr ich von der Welt der Botenstoffe, der Rezeptoren und der Nervenschaltkreise. Ich überlegte, ob und wie ich dieses neue Wissen hätte nutzen können. Ich wollte meine Lernfähigkeit verbessern – also Hirndoping betreiben. Dabei half mir vor allem das Wissen über den Stoff Glutamat und dessen Rolle bei der Weiterleitung von Nervenreizen. Das war es! Ich hatte die Lösung gefunden und das Experiment konnte beginnen. Ich besorgte mir die Glutaminsäure und begann, täglich mehrere Tabletten einzuwerfen. Gemäß dem Motto „Viel hilft viel!“ überstieg ich die empfohlene Tagesmenge um knappe 500 %. Die Wirkung begann genau 11 Tage nach der Einnahme der ersten Tablette. Erst spürte ich eine leichte Verbesserung meiner Gehirnleistung, dann begann mein Migränetrip. „So muss sie sich anfühlen!“, dachte ich. Ein zerberstender und zermürbender Kopfschmerz traf mich mitten in der Nacht. Ich konnte nahezu kein Licht tolerieren, mir war übel und ich konnte meinen Kopf so gut wie gar nicht bewegen. Jeder Millimeter der Kopfdrehung tat weh. Ich suchte meinen Ausweg in der Badewanne. Gebeutelt von den Symptomen ließ ich kaltes Wasser hineinlaufen und legte mich anschließend in die Wanne. Es war fünf Uhr morgens. Da lag ich also bei stockfinsterer Nacht in kaltem Wasser und mit Waschlappen auf der Stirn; ich verstand die Welt nicht mehr. Nur eine Gruppe von Menschen kann ich seitdem besser denn je verstehen: die Migränekranken.

Ich verstand erstmals, wie schlimm und beeinträchtigend dieser Zustand sein kann. Wie Recht doch meine Mutter immer hatte, als sie ihn als „hässlich“ und „grässlich“ beschrieb. Wie unrecht und diskriminierend wirken vor diesem Hintergrund die Sketche der 1980er Jahre im Fernsehen mit dem Dauerbrenner „Meine Frau hat Migräne“. Mein Doping-Experiment habe ich bitter bereut. Dadurch, dass ich tiefgreifend und dilettantisch in den Gehirnstoffwechsel eingegriffen hatte, halfen keine Schmerzmittel. Nach zehn Tagen war der Spuk aber vorbei, der Stoff war abgebaut und ich hatte keine Schmerzen mehr. Die Erfahrung fühlt sich noch heute äußerst qualvoll an, denke ich nur an jene Momente im dunklen Badezimmer zurück. Ich bin aber auch dankbar für dieses Experiment. Hatte ich doch am eigenen Leib erfahren, wie schlimm sich die Migräne anfühlt, wie schnell sie sich aufbaut und wie schwierig es ist, sie wieder los zu werden. Das Experiment sollte meinen beruflichen Weg maßgeblich beeinflussen.

1.3       „Ich kümmere mich um die Migränepatienten, Herr Professor!“

Ich war am Ende meines dritten Ausbildungsjahres als Anästhesist und hatte mich dazu entschlossen, meine Ausbildung in einer der größten Naturheilkundekliniken Europas fortzusetzen. An der Universität machte ich einige Erfahrungen in der speziellen Schmerztherapie. Diese Erfahrungen sollte ich auf Anweisung des Professors für eine weitere Aufgabe nutzen. Er konnte es kaum erwarten, sie mir zu präsentieren. Als er sie mir jedoch vorstellte, wusste ich bereits, dass mich diese Aufgabe überhaupt nicht befriedigen würde. Er wollte, dass ich Daten von Krankenakten sammeln sollte, was normalerweise eine beliebte Tätigkeit für Studierende ist. So suchte ich bereits während des Gesprächs nach einem Ausweg. Einerseits wollte ich meinen neuen Chef nicht enttäuschen, andererseits wollte ich aber etwas Sinnvolles tun und keine langweiligen Statistiken erstellen. Das hatte ich im Studium schon viel zu oft getan. Ich brachte allerhand Ausreden hervor. Schließlich fragte er mich, was ich als Alternative tun wolle. Von meinen Kollegen hatte ich erfahren, dass in der Klinik jede Woche viele Migränepatienten aufgenommen würden. Also purzelte es aus mir heraus: „Ich kümmere mich um die Migränepatienten, Herr Professor!“

Mein Chef reagierte überschwänglich und freute sich, mir meinen neuen Arbeitsplatz zu zeigen. Seine Reaktion sollte ich in den kommenden Wochen und Monaten aus tiefstem Herzen zu verstehen lernen. Ich hatte mich ungeschickterweise in dieser Sekunde zum „Migränespezialisten“ der Klinik befördert und damit zu einem gefragten Mann. Was dann folgte, war der intensivste Sommer meines Lebens: Alle neu aufgenommenen Migränepatienten wurden mir zugewiesen. Alle Migräneanfälle während der Rehabilitation durfte ich behandeln. Alle als unheilbar eingestuften Migränepatienten fragten mich um Rat. Das Problem: Ich hatte viel zu wenig Antworten. Es waren austherapierte Migränepatienten, die teilweise keine Medikamente mehr nehmen wollten oder sie nicht mehr vertrugen. Sie kamen aus ganz Deutschland und waren schon an den Universitäten diagnostiziert und erfolglos therapiert worden. Sie hatten fast alles ausprobiert und mehrfach die Ärzte gewechselt. Kurzum: Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen. Dafür musste ich jedoch als erstes die Migräne verstehen.

2.      Migräne allgemein

Migräne ist eine häufig vorkommende und äußerst komplexe Erkrankung. Etwa zehn Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden unter ihr. Bei den Kindern und Jugendlichen beträgt das statistische Vorkommen ungefähr vier bis fünf Prozent. Zwischen dem 35. und dem 45. Lebensjahr ist das Auftreten der Erkrankung am häufigsten. In dieser Lebensphase haben Frauen ca. dreimal öfter Migräneanfälle als Männer.

2.1       Was genau ist Migräne?

Unter Migräne versteht man einen intensiven und heftigen Kopfschmerz, der typischerweise als Attacke auftritt. Der Schmerz tritt stark pulsierend auf nur einer Seite des Schädels auf und kann während eines Anfalls auf die andere Seite wechseln. Bei ca. 30 % der Betroffenen schmerzt der gesamte Kopf. Die Intensität des Schmerzes kann während der Attacke unterschiedlich stark sein und von Minute zu Minute schwanken. Die Schmerzdauer kann einige Stunden bis zu drei Tagen dauern. Beim „status migraenosus“ überschreitet die Anfallsdauer die 72-Stunden-grenze. Die Selbstmedikation mit Tabletten reicht dabei oft nicht mehr aus, um den Migräneanfall zu unterbrechen. In den Arztpraxen oder Kliniken können in diesem Fall Infusionen mit stärker wirksamen Schmerzmitteln oder Cortison verabreicht werden.

2.2       Typische Symptome

Bei einem Zehntel aller Migränekranken kündigt sich die Schmerzattacke einige Zeit vorher mit Ausfällen des Nervensystems an. Diese Störungen können vielfältigster Natur sein und werden als „Aura“ bezeichnet. Dazu zählen Sehstörungen wie Gesichtsfeldausfälle oder Schlieren- bzw. Schleihersehen. Weiterhin können Sprachstörungen, Schwindelgefühle oder Lähmungen der Gesichtsmuskeln auftreten. Außerdem kann es in den Händen oder Armen kribbeln oder ebenfalls zu Lähmungserscheinungen kommen. Die Besonderheiten bei Migräne sind neben dem Schmerzgeschehen das Auftreten von weiteren Symptomen. Dazu zählen bei fast allen Betroffenen der Appetitverlust bzw. ein gesteigerter Appetit vor oder nach der Schmerzattacke. Ca. 80 % der Erkrankten leiden unter Übelkeit und fast die Hälfte unter Erbrechen. Diese beiden Symptome müssen allerdings nicht bei jedem Anfall auftreten. Über die Hälfte der Migränebetroffenen leidet unter einer begleitenden Empfindlichkeit gegenüber Licht und Lärm, vereinzelt auch gegenüber Gerüchen. Deshalb wird ein ruhiger und abgedunkelter Raum während der Schmerzphase als angenehm empfunden.

2.3       Ursachen und Verlauf

Bislang wurde von der medizinischen Wissenschaft die Ursache von Migräne noch nicht entdeckt. Es gibt zahlreiche Beschreibungen und Erklärungen zu Phänomenen, die vor und nach der Migräneattacke im Gehirn auftreten, aber die eigentliche Ursache ist bislang nicht gefunden. Fest steht: Es gibt mehrere Faktoren, die eine Migräne auslösen. Es wird davon ausgegangen, dass bei Migränepatienten die Reize im Gehirn anders verarbeitet werden als bei Menschen, die nicht unter Migräne leiden. Das Gehirn steht bei Migränepatienten unter „Hochspannung“ und bestimmte Faktoren können dann migräneauslösende Prozesse in Gang setzen und so das Fass zum Überlaufen bringen. Wie bei einer langen Reihe aus Dominosteinen reicht ein kurzes Antippen des ersten Steins und die gesamte Reihe fällt um. Zu Beginn der Migräneattacke werden plötzlich Neurotransmitter (Botenstoffe) im Gehirn ausgeschüttet. Das Serotonin, welches als Glückshormon bekannt ist, wird schnell und in zu großen Mengen freigesetzt. Die Wirkstoffspiegel anderer Neurotransmitter gesellen sich dazu und das Ergebnis ist ein Migräneanfall mit allen seinen typischen Symptomen.

Bei manchen Betroffenen kommt es nach der starken Erregung von Gehirnzellen zur Umkehr der Situation und die Zellen zeigen nur noch eine geringe Aktivität. Wie eine langsam aufziehende Wolkenfront durchzieht dieses Geschehen das Gehirn. Die betroffenen Zellen werden schlechter durchblutet und es kommt zu einer Verschiebung im Magnesiumhaushalt des Gehirns. Dadurch reagieren viele Schmerzrezeptoren empfindlicher und es werden Entzündungsbotenstoffe ausgesendet. Durch das Mikrozirkulationssystem erreichen diese viele verschiedene Gehirnabschnitte. Eine Schmerzattacke mit neurologischen Symptomen (Migräne mit Aura) baut sich auf. Erst wenn sich das System wieder beruhigt hat, verschwindet der Schmerz. Es dauert einige Zeit, bis die verbrauchten Botenstoffe wieder nachgebildet sind und das Gehirn sich von der Attacke erholt hat. In dieser Zeit ist das Gehirn des Betroffenen noch nicht voll leistungsfähig.

Migräneanfall – Ausschüttung der Neurotransmitter

Triggerfaktoren – die Migräneauslöser

Unter Triggerfaktoren versteht man Auslöser, die einen Migräneanfall hervorrufen können. Sie sind von der Ursache der Migräne zu unterscheiden, weil ein Auslöser zwar die Symptome hervorruft, nicht aber die Krankheit als solche verursacht. Über die eigentliche Ursache gibt es bisher nur Vermutungen, die Triggerfaktoren hingegen sind dagegen gut untersucht. Um bei dem Bild mit der Reihe aus Dominosteinen zu bleiben: Der erste Stein entspricht einem Triggerfaktor.

Wenn sich der Körper oder die Psyche in kurzer Zeit auf eine neue Situation anpassen muss, dann spricht man im streng wissenschaftlichen Sinne von Stress. Bei dieser Reaktion kommt es im Körper zu einer Veränderung von Botenstoffen (Hormone und Neurotransmitter). Diese Veränderung kann einen Migräneanfall auslösen.

Infobox

Beispiele für Triggerfaktoren

–  Veränderungen im Tagesablauf

–  Schlafentzug

–  Alkohol- und Drogengenuss

–  Stress

–  Lärm

–  veränderte Klimabedingungen (z. B. Föhnwetterlagen oder Luftdruckänderungen)

–  Nahrungsmittel und Genußmittel

–  Veränderungen im Hormonhaushalt

–  Medikamente*

–  Hormone

–  körperliche und psychische Erschöpfung

–  unregelmäßige Essenszeiten bzw. Auslassen von Mahlzeiten

* Diese Medikamente können Migräne auslösen:

–  Östrogene (enthalten in der Pille, Spirale und in Wechseljahresmedikamenten)

–  Dipyridamol (ein Blutverdünnungsmittel)

–  Mutterkornalkaloide (die Ergotamine werden als Migräne- und Blutdruckmittel eingesetzt. Paradoxerweise können sie trotzdem Kopfschmerzen und Migräne verursachen)

–  Nifedipin und Respertin (Medikamente zur Blutdrucksenkung)

–  Koffein (einige Grippe -und Aufputschmedikamente enthalten Koffein, den anregenden Bestandteil des Kaffees)

2.4       Diagnose

Bei der Diagnose „Migräne“ müssen die typischen Symptome und Besonderheiten dieser Erkrankung erfüllt sein. Zusätzlich darf die Untersuchung des Nervensystems keine anderen auffälligen Befunde aufweisen. Sollten weitere Symptome auftreten oder es Auffälligkeiten bei der Untersuchung des Nervensystems geben, sind weitere Untersuchungen notwendig, um schwerwiegendere oder andere Erkrankungen auszuschließen. Die Fachärzte für Neurologie entscheiden über die weiteren Untersuchungsmaßnahmen, die zum Teil auch stationär durchgeführt werden.

Über die Sonographie (Ultraschall) der Kopfgefäße können die Mediziner Durchblutungsstörungen diagnostizieren. Geht man von der Hypothese aus, dass Veränderungen am Durchmesser von Arterien und die Dicke der Blutgefäße sowie Aussackungen der Arterien die Ursachen für Kopfschmerzen oder Migräne sein können, dann lassen sie sich mit der Sonografie erkennen. Weiterhin können die Gehirnstrommessung (EEG) und die beiden bildgebenden Verfahren Magnetresonanztomographie (MRT) und Computertomographie (CT) andere Krankheitsursachen für die Migräne zeigen.

Darüber hinaus gibt es noch weitere Spezialuntersuchungen, wie z. B. die computertomographische Angiographie (Angio-CT). Dabei wird ein Kontrastmittel in den Blutkreislauf verabreicht, um die Blutgefäße erkennen und darstellen zu können. Die moderne Medizin hält mittlerweile zahlreiche Untersuchungsmöglichkeiten bereit, damit gravierende Krankheitsursachen gefunden bzw. ausgeschlossen werden können.

2.5       Behandlungsmöglichkeiten

Die wissenschaftlichen Empfehlungen zur Therapie der Migräne können in den „Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (www.dgn.org) nachgelesen werden. Die Leitlinien fassen die aktuelle Studienlage zusammen und geben Empfehlungen für Ärzte nach wissenschaftlichen Kriterien weiter. Die Empfehlungen werden nach unterschiedlichen Empfehlungsgraden kategorisiert. Abhängig von der Menge der vorliegenden Studien und der Eindeutigkeit der Studienlage werden die Empfehlungen gewichtet. Anhand der Gewichtung kann sich der Arzt ein Urteil bilden, mit welcher Chance die Maßnahme erfolgreich sein wird, die er ergreift. Zusätzlich kann er ablesen, mit welchem wissenschaftlichen Hintergrund er seinen Therapievorschlag durchführt. In den Leitlinien tauchen auch „empirische Empfehlungen“ auf. Diese sind Behandlungsempfehlungen, die seit langem bekannt sind, aber noch nicht in Studien bewiesen wurden.

Gerade Studien sind in der Medizin ein heikles Thema. Als Laie oder Experte sollte man sich stets klar darüber sein, dass Studien eine Unmenge Geld verschlingen. Bis auf die Gelder für die Grundlagenstudien muss daher stets die Frage gestellt werden, wer verdient an den Ergebnissen von Studien und wie viel verdient er, damit die immensen Kosten gedeckt und Profit gewonnen werden kann.

Die Therapieempfehlungen in den erwähnten Leitlinien enthalten überwiegend pharmakologische Ansätze – also Behandlungsmethoden mit Medikamenten. In den Untersuchungen an Migränekranken haben sich manche Wirkstoffe als besonders wirksam herausgestellt. Jedes Medikament mit guten Wirkungen hat allerdings auch seine Schattenseiten, nämlich die Nebenwirkungen, welche unter Umständen zu großen Belastungen werden können. Die moderne Pharmakologie erlaubt den Patienten die Selbstmedikation mit diesen wirksamen Mitteln. Hier ist der Patient zur besonderen Verantwortung sich selbst gegenüber verpflichtet, die Medikamente korrekt einzunehmen. Im Idealfall tut der Betroffene alles dafür, erst gar keine Migräneattacke zu erleiden. Dafür ist jedoch ein umfassender Blick auf die Migräne notwendig, der über die reine Behandlung mit Medikamenten hinausreicht.

Die wichtigsten Empfehlungen und Erkenntnisse im Überblick Therapie der Migräneattacke

1.  Die Auswahl des „richtigen“ Schmerzmittels wurde ausgiebig untersucht. Dabei haben die Forscher herausgefunden, dass die Schmerzmedikamente aus der Gruppe der Triptane (Arzneistoffe zur Akutbehandlung der Migräne und des Cluster-Kopfschmerzes) im Durchschnitt die beste Wirksamkeit haben. Das Medikament greift in den Serotoninstoffwechsel ein und kann dadurch den Schmerz positiv beeinflussen.

2.  In der langen Liste der Schmerzmittel wurden noch zwei weitere Medikamente als wirksam bewertet. Es handelt sich um die Gruppe der nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR). Fast jeder Erwachsene hat schon einmal ein schmerzstillendes Medikament dieser Sorte einnehmen müssen. Es wird bei Rückenschmerzen, Zahnschmerzen, Kopfweh, Prellungen, Stauchungen, Brüchen oder Kopfschmerzen verschrieben. Bekannte Vertreter dieser Gruppe sind Aspirin, Ibuprofen, Naproxen und Diclofenac.

3.  Ergotamin (Hauptalkaloid des Mutterkorns) ist ein Klassiker der Migränetherapie. Die Wirksamkeit ist in Studien allerdings schlecht belegt. Da sich der Stoff schon lange Zeit auf dem Markt befindet und die Wirksamkeit hinreichend bekannt ist, gibt es zum eigentlichen Nachweis der Wirksamkeit nur wenige Studien.

4.  Die Kombination eines Triptans mit anderen Schmerzmitteln ist wirksamer als ein einzelnes Mittel.

5.  Für die Behandlung der Übelkeit und des Erbrechens während des Anfalls sind alle in der Apotheke verfügbaren Medikamente gleich wirksam. Im Gegensatz zu den Schmerzmitteln gibt es ohnehin ein viel kleineres Angebot.

6.  Die Wirksamkeit von Therapieverfahren ohne Medikamenteneinsatz ist für die Akuttherapie kaum untersucht. Deswegen gibt es für diesen Bereich keine offiziellen Empfehlungen.

Vermeidung bzw. Reduzierung der Häufigkeit von Migräneattacken

1.  Bei häufig vorkommenden Attacken mit sehr schwerer Symptomatik sollten sogenannte Prophylaxemedikamente eingenommen werden. Diese dienen zur Vorbeugung von Migräne. Dabei muss es sich hinsichtlich des Wirkmechanismus‘ nicht zwingend um Schmerzmittel handeln.

2.  Die Stoffgruppe der Beta-Blocker (hemmt die Wirkung des „Stresshormons“ Adrenalin und des Neurotransmitters Noradrenalin) ist zur Prophylaxe geeignet. Normalerweise wird dieses Mittel bei Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen verschrieben, weil es auf die Gefäße und das Herz wirkt.

3.  Ähnlich verhält es sich bei den Epilepsiemitteln (Antiepileptika). Weil diese Medikamente in den Hirnstoffwechsel eingreifen können, haben sich einige auch zur Anfallsprophylaxe bei Migräne bewährt. Dies gilt auch für die Depressionsmedikamente aus der Stoffgruppe der trizyklischen Antidepressiva. Sie finden weltweit häufigen Einsatz bei chronischen Depressionen. Als einzige Schmerzmittel zur Vorbeugung werden das Amitriptylin und das Naproxen empfohlen.

Nicht-medikamentöse Therapieverfahren zur Migränetherapie

1.  Akupunktur
Überraschenderweise wird in der Leitlinie ein nicht-schulmedizinisches Verfahren empfohlen, die Akupunktur. Diesbezüglich gibt es eine interessante Studie. Die Forscher verglichen die Wirksamkeit der Akupunktur mit einem Schmerzmittel aus der Triptangruppe (Sumatriptan), also aus der wirksamsten Schmerzmittelgruppe. Dabei gab es nur einen geringen Nachweis, dass die Akupunktur wirksam genug sei. Bei den akuten Schmerzen war das Schmerzmittel der Akupunktur überlegen. Eine Überraschung gab es in der Langzeitbetrachtung bei der Vermeidung bzw. der Prophylaxe von Migräne. Da waren das Medikament und die Akupunktur gleich wirksam.

2.  Psychologische Verfahren
Durch Entspannungstherapie und Verhaltenstherapie können die medikamentösen Therapien unterstützt werden. Als besonders wirksam haben sich die progressive Muskelentspannung nach Jacobson, das thermale Fingerfeedback und das Muskelfeedback herausgestellt.

3.  Ernährung
Positive Effekte auf die Reduktion der Migräne konnte die Vermeidung von Nahrungsmittelallergenen zeigen, die vorher individuell getestet wurden.

4.  Physiotherapeutische Behandlung der Kaumuskulatur Untersuchungen legen nahe, dass es zwischen der Migräne und der Craniomandibulären Dysfunktion (CMD) Zusammenhänge gibt. Die CMD umfasst sämtliche funktionellen, strukturellen, biochemischen und/oder psychischen Fehlsteuerungen der Muskel- und Gelenkfunktionen der Kiefergelenke. CMD-typische Symptome sind Kiefergelenksbeschwerden, Verspannungen der Kaumuskeln sowie Schmerzen bzw. Spannungen in der Schulter-Nackenmuskulatur. Eine CMD kann Kopfschmerzen, insbesondere Migräne, verschlimmern. Mithilfe der Physiotherapie können die Muskelverspannungen gelöst werden. Spezialisierte Zahnärzte können Kiefergelenks- und Bissvermessungen vornehmen und Bissschienen anfertigen. Durch das Tragen der Schienen kann eine Korrektur der Kiefergelenksprobleme erreicht werden. Sowohl der Physiotherapeut als auch der Zahnarzt müssen dafür speziell ausgebildet werden. Die Korrektur und Behandlung ist fachlich anspruchsvoll und sollte nur durch Spezialisten erfolgen.

5.  Physikalische Gefäßtherapie
Die Beobachtung, dass eine Minderdurchblutung des Gehirns während des Migräneanfalls vorliegt, scheint einer der Schlüssel für eine erfolgreiche Verhinderung bzw. Unterbrechung eines Anfalls zu sein. Mit der physikalischen Gefäßtherapie kann die Durchblutung in den feinsten Blutgefäßen in den Normalbereich zurück reguliert werden. Bei einer schlechten Durchblutung in den Mikrogefäßen kann die Durchblutung um ca. 30 % gesteigert werden. Dies kann sich äußert günstig auf den Schmerz auswirken.

6.  Wärmetherapien, Massagen und Reizreduktion
Im Anfall selbst kann es für den Betroffenen als sehr angenehmen empfunden werden, wenn Wärme oder Massagen im Schulter-Nacken-Bereich zur Anwendung kommen. Diese Körperteile sind während der Migräneattacke häufig mitbetroffen. Durch eine entsprechende Reizreduktion kann bei vielen Erkrankten eine Verbesserung verzeichnet werden. Ebenso ist es durch stressreduzierende Maßnahmen wie Muskelrelaxation nach Jacobson oder anderen Verfahren möglich, einen aktiven Einfluss auf den Schmerz zu nehmen und zur Linderungen beizutragen. Durch Reizreduktion kann bei vielen Erkrankten eine Verbesserung verzeichnet werden.

2.6       Grenzen und Kritik

Die naturwissenschaftliche Medizin hat sich intensiv mit Migräne beschäftigt. Zahlreiche Triggerfaktoren konnten gefunden, unterschiedliche Erklärungsversuche zu den Ursachen entwickelt und mehrere Behandlungsmöglichkeiten konzipiert werden. Doch der immense Aufwand hat weit mehr Fragen offen gelassen als beantwortet. Löst Glutamat Migräne aus? – „Bisherige Studien konnten keinen Zusammenhang beweisen …“

Gibt es einen hormonellen Zusammenhang? – „Bisherige Studien konnten keinen Zusammenhang beweisen …“

Lösen Zahnprobleme Migräne aus? – „Bisherige Studien konnten keinen Zusammenhang beweisen …“

Die Reihe an Fragen ließe sich bis ins Unendliche fortführen. Am Einzelfall ausgerichtete Diagnostik und Therapie ist selten und würde noch weitere Fragen erfordern, die allesamt beantwortet werden müssten. Vielleicht kennen Sie eine oder mehrere der folgenden Situationen, dann wissen Sie, wie wenig nützlich die theoretischen Erkenntnisse der Medizin sein können.

Sie leiden schon eine lange Zeit unter Migräne, sind Migränepatient und kennen Ihren Körper mittlerweile in- und auswendig. Sie können exakt die Auswirkungen Ihrer Triggerfaktoren vorhersagen. Als Frau hatten sie während der Schwangerschaft keine Migräne, aber vor der Schwangerschaft war sie da und nach ihr ist sie auch wieder da. Sie können zu Hause Rinderbraten mit Knödel essen und wenn Sie das gleiche Essen im Restaurant zu sich nehmen, bekommen Sie Migräne. Sie trinken zu Hause ohne Probleme zwei Gläser Biowein und nach dem Besuch bei Ihren Freunden und dem dortigen Weingenuss liegen Sie für zwei Tage im Bett. Seitdem ihr nörgelnder Zahn entfernt wurde, haben Sie weniger Anfälle.

Wenn Ihnen nun jemand – ein Laie oder ein Experte – sagen würde, dass das, was Sie empfinden, alles wissenschaftlich nicht bewiesen ist, was würden Sie dann empfinden? Brauchen Sie einen auf wissenschaftlichen Standards ruhenden Beweis für Ihren gesundheitlichen Zustand? Oder vertrauen Sie Ihrem eigenen Körper und Ihren Erfahrungen?

Schulmedizinische Untersuchungen nehmen keine Rücksicht auf individuelle Faktoren. Sie lassen keinen Raum für subjektive Empfindungen. In den Studien werden Gruppen von Menschen untersucht, um anschließend Schlüsse zu ziehen, mit denen die Gruppenmerkmale in einen Zusammenhang mit den Untersuchungsergebnissen gesetzt werden. Der Aufbau von manchen Studien ist vielmals unsinnig und führt von vornherein zu fragwürdigen Ergebnissen. Zum Beispiel könnte eine Studie zur Frage, ob Glutamat Migräne auslöst, höchstens das Ergebnis liefern, dass es bei manchen Menschen ein auslösender Faktor ist und bei anderen Menschen nicht. Was ist damit gewonnen? Befragen Sie 100 Migränepatienten, sie werden welche finden, bei denen Glutamat zu 100 % Migräne auslöst, und welche, die problemlos Glutamat vertragen, ohne nur eine Spur von Migräne zu erfahren.

Auch die Klärung der hormonellen Zusammenhänge ist nur schwer in ein Studienkonzept zu bringen. Die Bandbreiten der Hormonspiegel bei Frauen sind unglaublich groß. Manche Frauen mit 22 Jahren haben Hormonspiegel wie Frauen, die weit über 70 Jahre alt sind – dennoch fühlen Sie sich gut und gesund. Sie haben ganz andere individuelle Grenzen. Ein Abfall eines Hormonwertes kann von den einen als dramatische Verschlechterung des Gesundheitszustands empfunden werden. Von den anderen wird ein hormoneller Abfall kaum gespürt, weil die Hormon-Reserven sehr groß sind. Studien können diese Feinheiten nicht erfassen, weil mit ihnen nach pauschalen bzw. pauschalisierbaren Ergebnissen gesucht wird und der Einzelfall mit seinen subjektiven Eindrücken vernachlässigt wird.

Der Satz „Ob ein Zusammenhang besteht, ist unklar.“, bedeutet also nichts anderes, als dass es noch niemand untersucht hat oder die Ergebnisse vorhandener Untersuchungen nicht eindeutig genug sind. Der Satz „Bisherige Studien konnten keinen Zusammenhang beweisen.“, bedeutet nicht, dass ein Zusammenhang unter allen Bedingungen nicht vorhanden wäre. Er bedeutet nur, dass in einem speziellen Studiendesign kein Zusammenhang gefunden werden konnte. Vielleicht würde er sich in einem anderen Studiendesign doch noch beweisen lassen.