Cover

Cat Patrick lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Seattle. So oft es geht, fahren sie ins vier Stunden entfernte Long Beach, um Marshmallows zu grillen und Papierdrachen zu entwirren. An diesem besonderen Ort ist auch Cat Patricks erstes Kinderbuch Tornado im Kopf entstanden.

Der bemerkenswerten Adiline M. gewidmet –
einer wahren Naturgewalt

Prolog

Fake: Tornados ziehen immer nach Nordosten

Früher haben die Leute geglaubt, Tornados würden bloß in eine Richtung ziehen, nämlich nach Nordosten, aber das stimmt nicht. Manchmal ziehen sie auch nach Südwesten. Und manchmal berühren sie die Erde nur kurz und werden gleich wieder in den Himmel gesogen. Das ist enttäuschend. Manchmal geht es auch hin und her und her und hin. Tornados sind unberechenbar.

Ginge ein Tornado in die Schule, würden ihn die Mitschüler sicher schief ansehen. Der Schulpsychologe würde sein Verhalten als »sprunghaft« bezeichnen. Und seine Mutter würde versuchen, ihn in die gleiche Richtung zu drängen wie die anderen Tornados, damit er nicht aus der Reihe tanzt. Aber vielleicht macht es dem kleinen Tornado gar nichts aus, anders zu sein als die anderen, auch wenn er dann kaum Freunde findet.

Das kann ich gut nachvollziehen, denn ich hatte auch bloß eine Freundin und jetzt habe ich gar keine mehr. Ziemlich komplizierte Geschichte.

Wir haben uns während eines Tornados kennengelernt.

Und zwar in der ersten Vorschulwoche. So ganz gut kann ich mich nicht mehr erinnern, schließlich war ich noch klein und mein Gehirn tickt ohnehin ein wenig anders, aber so in etwa muss es gewesen sein: Alle waren draußen beim Freispiel. Ich bin immer wieder um den Spielplatz herumgelaufen und habe an Achterbahnen gedacht, von denen ich damals ganz besessen war, dabei habe ich mich an der Absperrkette entlanggehangelt, weil ich die Finger so gerne in die Kettenglieder stecke und auch den Metallgeruch an der Hand mag. Die meisten mögen ihn nicht.

Manchmal fällt mir gar nichts auf und manchmal fällt mir alles Mögliche viel zu sehr auf. An dem Tag sprang mir das Windrad hinterm Spielplatz ins Auge, weil es sich nicht mehr drehte. Bei uns in Long Beach, Washington, ist es immer windig – so windig, dass jedes Jahr im August ein internationales Drachenfest stattfindet. Aber als das Windrad plötzlich still stand, war es anders. Und wenn irgendwas anders ist, fällt es mir gleich auf. Die unheimlichen graugrünen Wolkenmassen dahinter waren ebenfalls anders. Trichterwolken mit so einer Form nennt man eine Mesozyklone. Ein tolles Wort.

Ob auch eines der anderen Kinder beobachtet hat, wie aus diesem wirbelnden Wolkenschlauch ein Tornado wurde, weiß ich nicht. Wahrscheinlich habe ich als Einzige in den Himmel geschaut, statt Schwingball zu spielen oder Schweinebaumel an der Turnstange zu machen. Wenn ich kopfüber hänge, wird mir immer schwindelig.

Vor meinen Augen berührte der wirbelnde Wolkenschlauch die Erde und kam auf uns zugerollt, ließ Dinge durch die Luft fliegen, die wie Käfer aussahen, aber in Wirklichkeit Mülleimer waren. Als dann die Sirenen ertönten, musste ich mir die Ohren zuhalten. Die anderen Kinder rannten sofort nach drinnen, aber ich nicht. Ich lief in aller Seelenruhe … auf den Tornado zu. Sobald ich die Hände von den Ohren nahm, hörte ich Zuggeräusche, erst aus der Ferne und dann immer lauter. Der schmale Hals des Tornados wurde dicker, während er alles mögliche Zeug schluckte, kleine Bäume ausriss und durch die Luft schleuderte und sogar einen Strommast nach oben saugte, der wie ein Feuerwerk Funken spie.

Ich wurde auch aufgesaugt – von einem Erwachsenen. Der riss mich hoch und rannte mit mir zum Gebäude. Dabei sah ich noch, wie der Tornado den Zaun um den Spielplatz verschlang. Wahrscheinlich das Coolste, was ich jemals beobachtet habe.

»Hast du sie nicht mehr alle?«, brüllte mir der Erwachsene ins Ohr.

Ein Audiologe hat mir mal gesagt, dass ich besser hören kann als der Durchschnitt, deswegen tat es echt weh. Falls ihr nicht wisst, was ein Audiologe ist, das ist ein Mediziner, der sich mit Gehörverlust und Gleichgewichtssinn befasst. Mit beidem habe ich keine Probleme, aber ich bin trotzdem bei so einem Audiologen gewesen, außerdem bei vielen anderen Medizinern, die alle mit -ologe enden.

Wieder hielt ich mir die Ohren zu, hörte den Mann aber trotzdem noch brüllen: »Du musst tun, was man dir sagt! Du hättest tot sein können!«

»Ist nicht meine Schuld«, schrie ich zurück. »Mir hat niemand was gesagt.«

Während ich auf dem Arm des Erziehers auf und ab hüpfte, drehte sich unser Windrad wieder, und zwar rasend schnell, bis es in einer ungestümen Tornado-Umarmung verschwand und nicht mehr zu sehen war. Der Erzieher stürmte mit mir ins Haus und weiter durch den Flur in die Cafeteria. Ohne die Ablenkung durch den Tornado spürte ich den schmerzhaften Griff des Erziehers an Beinen und Rücken. Ich machte mich steif und rutschte ihm vom Arm. Als wir endlich in der Cafeteria ankamen, wo sich alle anderen Kinder und Erzieher unter den Tischen versteckten, hielt er mich unter den Achseln, während meine brettsteifen Beine in der geblümten Caprihose wie ein Pendel hin und her schwangen. Mir taten die Achseln weh, als er mich schließlich neben einem Tisch mitten im Raum absetzte.

»Hab sie gefunden«, sagte er zu meiner Erzieherin. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, ich mochte sie auch nicht besonders.

»Komm hier runter, Frances«, rief sie. »Setz dich zu mir. Brauchst keine Angst haben.«

»Ich heiße Frankie.« Damit kroch ich unter den Tisch. »Und das weiß ich selbst.«

»Du hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt, Frankie«, sagte sie und strich mir übers Haar. Mal ehrlich, ich weiß echt nicht, warum die Leute glauben, das wäre beruhigend.

»Fass mich nicht an«, fauchte ich und rückte so weit wie möglich von ihr ab. Erst sah sie mich überrascht an, dann verzog sie das Gesicht und wandte sich dem Mann zu, der mich getragen hatte.

»Ich wollte doch nur gucken«, sagte ich leise zu mir selbst.

»Was wolltest du gucken?«, fragte ein Mädchen neben mir. Ihr kupferrotes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten und mit roten Schleifen verziert, sie hatte unfassbar viele Sommersprossen auf Stirn und Wangen und sah verängstigt aus.

»Ich habe den Tornado gesehen!«

»Ich will zu Mami«, jammerte sie, bevor sie den Daumen in den Mund steckte. Nun sah sie aus wie ein Baby. »Holt er uns?«, fragte sie. Mit dem Daumen im Mund war sie schlecht zu verstehen. »Sterben wir? Ich will nicht sterben. Ich will Sängerin werden. Wollen wir uns an den Händen halten?«

Auf keinen Fall wollte ich ihre Hand halten, die sie gerade im Mund hatte. Ihre Fragen türmten sich bei mir im Kopf.

»Was?« Fragend blinzelte ich sie an.

»Ich heiße Colette«, antwortete sie.

»Das wollte ich gar nicht wissen.«

»Wie heißt du?«

»Frankie.«

»Ich hab Angst«, sagte sie.

Ich bekam erst Angst, als das Zuggeräusch so laut wurde, dass die Scheiben klirrten. Da klammerte sich Colette an mich und ich ließ es einfach geschehen. In seiner berechenbaren Unberechenbarkeit drehte der Tornado im letzten Moment nach Südwesten ab, bevor er zurück in die Wolke gesogen wurde, was wir da natürlich noch nicht wissen konnten. Später hieß es auch, dass er auf der Erweiterten Fujita-Skala eine F3 war, was als »stark« gilt. Was ich da ebenfalls noch nicht wusste.

Klar war mir bloß, dass auch ich Angst hatte. Ich presste meine Wange an Colettes und schlang die Arme um sie. Wahrscheinlich war sie der erste Mensch außerhalb meiner Familie, den ich umarmte.

»Lass uns Freundinnen werden, wenn wir nicht sterben«, sagte Colette.

»Okay.«

Wir starben nicht und so wurden wir Freundinnen.

1. TEIL

Frei-ta-ta

1. Kapitel

Fakt: In manchen Teilen der USA haben Schulen extra Tornado-Schutzräume.

Colette verschwand am zweiten Freitag im April gegen Ende der siebten Klasse. Siebeneinhalb Jahre nach dem Tornado in der Vorschule. Da waren wir seit zwei Monaten keine Freundinnen mehr.

Bevor ihr Verschwinden überhaupt bemerkt wurde, war es ein stinknormaler Morgen. Mom stand um halb sieben in meiner Tür. Ich bekam fast einen Herzinfarkt, als ich die Augen aufschlug und sie da stehen sah.

»Du weißt, dass ich das nicht leiden kann!«, murrte ich.

»Guten Morgen, Frankie«, flötete Mom. »Du musst dich für die Schule fertig machen.«

Ich schloss die Augen wieder. Abends hatte ich nicht einschlafen können, weil mir so viele Dinge gleichzeitig im Kopf herumschwirrten, und wenn mein Kopf so voll ist, kann ich irgendwann gar nicht mehr abschalten. Außerdem hatte ich vergessen, die Vitamine zu nehmen, die mir beim Einschlafen helfen sollen. Und dann bin ich nachts noch zweimal aufgewacht, einfach so, einmal um halb drei und einmal um fünf. Ich schlafe dann ganz schwer wieder ein. Insgesamt hatte ich vielleicht vier Stunden Schlaf bekommen.

Ich rieb mir die Augen und verkroch mich unter der Decke, in der Hoffnung, Mom würde sich verziehen. Doch die Gerüche, die sie mitgebracht hatte, verzogen sich nicht: leckeres Shampoo und ekliger Kaffee. Ich stellte mir die beiden als Comicfiguren vor, Kaffee-Geruch stürzt sich auf Shampoo-Geruch, der setzt sich aber zur Wehr und stößt Kaffee-Geruch von sich und …

»Bist du wach, Frankie?«, fragte Mom.

Jetzt schon.

In letzter Zeit hatte ich mir Mühe gegeben, mich gut zu benehmen, deshalb riss ich mich zusammen und schrie sie nicht an, sie solle verschwinden, damit ich in Ruhe aufwachen konnte. Nicht brüllen, sagte ich mir ganz laut im Kopf. Pass dich ihrer Stimme an.

Ich öffnete die Augen und sah sie aus der Waagerechten an, denn ich lag auf der Seite.

»Hi«, knurrte ich. Meine mürrische, müde Stimme klang so gar nicht wie ihre. Doch das schien sie nicht zu stören.

»Heute ist Freitag!«, verkündete sie. »Oder weil du heute früher Schluss hast, sollte ich vielleicht sagen: Frei-ta-ta!«

Freitags kamen wir schon um 11.25 Uhr aus der Schule, das machte drei Stunden und fünf Minuten oder drei Unterrichtsstunden, von denen die erste auch noch Stillarbeit im Klassenzimmer war, es sei denn, man war ein Superstreber und kam davor noch zur Frühstunde, das war aber viel zu früh für mich.

»Hhmm«, brummte ich und drehte mich herum. »Ich bin wach, du kannst gehen.«

»Du kennst die Regel«, antwortete Mom. »Ich gehe erst, wenn du aufgestanden bist.«

Das ist die dämlichste Regel überhaupt!, schrie ich im Kopf. Es nicht laut herauszubrüllen, bereitete mir fast körperliche Schmerzen, aber ich dachte an meinen Vorsatz, mich gut zu betragen, zählte bis zehn und schaffte es, nicht zu brüllen. Ich schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett, vornübergebeugt, mit geballten Fäusten und gerunzelter Stirn. Aber ich stand.

»Bitte schön«, sagte ich.

»Danke«, antwortete Mom, was mich nervte.

Damit ihr das nicht in den falschen Hals bekommt, sollte ich an dieser Stelle wohl mal sagen, dass ich meine Mutter liebe. Sie ist auch nicht fies oder so. Bloß … mich bringen Dinge immer ganz schnell auf die Palme. Oder sie berühren mich gar nicht. Entweder ganz oder gar nicht, fast nie in der Mitte. Deshalb bin ich wohl auch manchmal unglücklich. Weiß nicht genau. Egal.

Als meine Mutter endlich ging, zog ich meine weichste Skinny Jeans an, die ich mindestens zweimal die Woche trug. Heute hatte ich aber das Gefühl, dass mir die Nähte in die Oberschenkel schnitten, deshalb wechselte ich die Jeans. Ich zog meinen schwarzen Hoodie mit den Daumenlöchern an, spürte einen Moment lang nach, fand es okay. Die Nähte von den anderen Jeans störten mich auch, deshalb schlüpfte ich in ein Paar Leggings. Die hatten zwar ein Loch im Knie, waren aber sonst in Ordnung. Mit dem Fingernagel bohrte ich in dem Loch herum, bis es noch größer war.

Dann stopfte ich die halb fertigen Hausaufgaben in den Rucksack und ging mir die Zähne putzen. Im Spiegel war ein Mädchen, das mich anstarrte: wildes, kinnlanges Haar, ein viel zu langer Pony, braune Augen mit dunklen Ringen und aufgesprungene Lippen. Als ich nach meiner Zahnbürste griff, entdeckte ich ein Haar. Ich schmiss sie weg und suchte im Schrank nach einer neuen. Dabei fand ich ein Haarband, das ich früher ständig getragen hatte. Aus Spaß band ich es um und hätte Colette gerne ein Foto davon geschickt, weil es so bekloppt aussah, aber das ging ja nicht, weil wir nicht mehr befreundet waren. Nachdem ich im Bad fertig war, ließ ich das Haarband einfach fallen.

Ich zog mir die Kapuze über die wirren Haare. Aus dem Minikühlschrank in meinem Zimmer nahm ich mir Milch und kippte Getreideflocken in eine Schale, die einzige Sorte, die ich mag. Ich checkte meine Tornado-App und las von einem Tornado der Kategorie EF2, der letzte Nacht in Birmingham, Alabama, gewütet hatte. Social Media schenkte ich mir, weil ich nicht die ganzen Bilder von Colette und ihren Freunden sehen wollte.

Ich zog mir die Jacke an und stiefelte los. Ich wäre zu gerne auf meinem Lieblingsfahrrad, einem gelben Beach Cruiser, zur Schule gefahren, aber es war nicht da, wo es hätte sein sollen, deshalb musste ich laufen. Nach ein oder zwei Minuten summte mein Handy.

MOM

Hast du deinen Rucksack dabei?

Ich lief zurück, um ihn zu holen. Mom stand in der Tür, den Rucksack in der einen und einen Proteinriegel in der anderen Hand. Ihr dunkles Haar war zu einem straffen Knoten gebunden, was schmerzhaft aussah. Unwillkürlich fasste ich mir an den Hinterkopf.

»Vergiss bitte nicht, zu essen!«

»Bestimmt nicht.« Damit wandte ich mich zum Gehen um. Ständig ermahnte sie mich zu essen. Das machte sie mit anderen doch auch nicht, nur mit mir. Wahrscheinlich musste man mich manchmal tatsächlich daran erinnern, aber es nervte trotzdem.

»Ich will nicht, dass du eine Hungerlaune bekommst«, sagte sie.

Dafür gibt es im Englischen ein eigenes Wort, wusstet ihr das? Hangry. Aus angry, wütend, und hungry, hungrig. Ehrlich wahr. Ich hab’s nachgesehen.

»Ich bin alt genug, um zu wissen, wann ich essen muss«, maulte ich.

»Ja, mit dreizehn bist du alt genug«, antwortete sie, als wollte sie auf irgendetwas anderes hinaus. »Hast du dir die Zähne geputzt?«

»Ja.« Hatte ich das wirklich? Ganz sicher war ich mir nicht. »Tschau.«

»Viel Spaß, Frankie. Ich hab dich lieb!«

Knurrend zog ich wieder los, nahm den Weg am Strand entlang, damit ich notfalls im Wind rumschreien konnte. Heute war mir zwar nicht danach, aber ich finde es gut, mehrere Möglichkeiten zu haben. Ich entscheide nämlich gerne selbst, was ich tue und lasse, dabei habe ich das Gefühl, alle wollen mich ständig rumkommandieren. Bloß dauert der Strandweg länger als der direkte Weg. Aus einer geraden Linie von A nach B wird ein stumpfwinkliges Dreieck.

Wisst ihr, was das ist? Geometrie. Super Sache, und die mag ich.

Ich komme so oft zu spät zur Schule, dass die Fluraufsicht nicht mit der Wimper zuckte. Ich verstaute ein paar Bücher und den Proteinriegel in meinem Spind, den ich mir mit niemandem teilen muss, weil ich es hasse, wenn fremde Bücher meine berühren. Auf dem Weg zum Klassenzimmer hinterließ ich auf dem Flur eine Sandspur, so wie die Brotkrümel bei Hänsel und Gretel. Es läutete schon zum Unterricht, doch Mrs Garrett sagte nichts, als ich zu spät eintrudelte.

Alle anderen saßen bereits auf ihren Plätzen, die meisten unterhielten sich mit ihren Nachbarn. Darin bin ich nicht so gut, ich mag dieses Gequatsche nicht. Weder das Wort noch die Tätigkeit.

Ich setzte mich an meinen einsamen Tisch am Fenster und checkte noch mal die Tornado-App. Leider keine neuen Infos.

»Alle Handys vom Tisch, sonst kassier ich sie ein«, sagte Mrs Garrett. Auch wenn einige stöhnten, ließen alle ihre Handys verschwinden. Natürlich nicht wortwörtlich. Ich gehe ja nicht auf die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei.

Mrs Garrett redete weiter. »Keine Müdigkeit vorschützen. Wir wollen ja was schaffen. Anna und Daphne, ihr seid auch gemeint. Marcus! Hör endlich auf zu kramen.«

Im Klassenzimmer wurde es still. Jeder widmete sich seinen Hausaufgaben. Ich schlug Ruf der Wildnis auf, das von einem Hund namens Buck handelt, der im eisigen Yukon lebt. Oft gefallen mir Bücher nicht, die ich lesen muss, aber dieses mochte ich, obwohl ich es mir nicht freiwillig ausgesucht hatte.

Auf einmal steckte Mrs Faust den Kopf ins Klassenzimmer, eine Expertin, die mich in der Schule immer im Blick behält. Wahrscheinlich ist sie ganz in Ordnung, bloß bin ich die Einzige, die von jemandem überwacht wird, deshalb tat ich so, als würde ich sie nicht bemerken. Irgendwann verzog sie sich wieder. Mrs Faust wurde mir zugewiesen oder so, jedenfalls ist es ihr Job, nach mir zu sehen, aber das war nicht mein Problem. Ich wollte sie einfach nicht in meiner Nähe haben.

Nachdem ich schon ein paar Kapitel gelesen hatte, spürte ich plötzlich Mrs Garretts knochige Hand auf meiner Schulter. Ich schreckte zurück und biss mir auf die Zunge, damit mir nichts rausrutschte, was sie womöglich unhöflich fand. Ich hatte nämlich keine Lust, dass sie meine Mutter anrief. Schnell fasste ich mir an die andere Schulter, um wieder ausgeglichen zu sein, und schaute auf meine Notizen. Während des Lesens hatte ich ein paar winzige Tornados gezeichnet.

»Tut mir leid, Frances«, sagte sie und sah beschämt drein.

»Ich heiße Frankie«, rutschte es mir heraus. Zum Glück ging sie nicht weiter drauf ein.

»Ich entschuldige mich nochmals. Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn man dich anfasst, aber du hast nicht reagiert, als ich dich angesprochen habe.« Ich verrenkte mir fast den Hals, um zu ihr hochzuschauen, denn Mrs Garrett ist wolkenkratzermäßig groß (ich übertreibe schamlos). Sie redete immer noch. »Ähm, mir ist aufgefallen, dass du das Buch für Englisch liest, was großartig ist, aber ich wollte sichergehen, dass du auch deine Mathehausaufgaben fertig hast. Uns bleiben nur noch ein paar Minuten und Mr Hubble bat mich, darauf zu achten. Er meinte, dass du gestern …«

»Sind in meinem Rucksack«, warf ich ein. Das war nicht gelogen. Die Hausaufgaben waren wirklich in meinem Rucksack. Aber sie waren erst halb fertig.

»Verstehe.« Mrs Garrett legte den Kopf schief, so wie es unsere Hündin manchmal tut.

Hinter Mrs Garrett schielten die Schüler in den normalen Reihen neugierig zu uns herüber. Tess lächelte mit dem Mund, aber nicht mit den Augen, ein aufgesetztes Lächeln, das ich verwirrend fand. Kai lächelte mich mit Mund und Augen an, ein echtes Lächeln, das mich aus anderen Gründen verwirrte; und Mia lächelte gar nicht, sondern starrte bloß, was mich kein Stück verwirrte. Ich funkelte alle böse an, bis sie sich wieder abwendeten.

Mrs Garrett wollte gerade noch was sagen, vielleicht mich bitten, ihr die Mathehausaufgaben zu zeigen, doch da ertönte das Klingelzeichen für die Lautsprecherdurchsage. Total unerwartet, sonst gab es die Durchsagen immer dienstags und heute war ja nicht Dienstag. Und wenn, dann auch zu Beginn der Stunde und nicht am Ende.

»Achtung, Achtung«, erscholl die Stimme der Schulsekretärin. »Alle Schüler und Lehrer werden gebeten, sich in der Aula einzufinden. Unverzüglich, aber ruhig und geordnet. Direktorin Golden wird eine Ansprache halten. Vielen Dank.«

Mrs Garrett sah mich ein paar Sekunden lang völlig entgeistert an, doch dann bat sie alle, aufzustehen und sich in die Aula zu begeben. Kai verließ das Klassenzimmer mit seinen Freunden und lächelte mich dabei die ganze Zeit wieder so an wie vorhin. Verwirrt wartete ich, bis alle draußen waren, und trat erst dann in den Flur.

Kai lief, als würde er vor Lachen gleich zusammenbrechen. Er klopfte sich auf die Schenkel, als Dillon ihm von einem überehrgeizigen Touri erzählte, der sich im Skaterpark hingelegt hatte. Kai trug dunkelblaue Skatershorts und Sneakers mit Schachbrettmuster zum Reinschlüpfen; sein glänzendes schwarzes Haar wirkte besonders interessant, so als wäre eine Windböe von hinten reingefahren und dann wäre es so festgefroren. Über dem linken Ellbogen hatte er eine verschorfte Stelle, die ich eklig fand.

Ihre Unterhaltung wurde leiser, dann drehte sich Dillon zu mir um. Sofort wandte ich den Blick ab.

Übrigens finden die meisten Leute, dass unsere Schule, die Ocean View Middle School, extrem seltsam aussieht. Vor etwa fünf Jahren, als die Schule allmählich baufällig wurde, wurde sie nicht abgerissen und neu gebaut, sondern einfach angebaut. Der vordere Teil mit den Büros, der Cafeteria, den Mathe- und Englischsälen ist hell und sauber, doch der hintere Teil mit der Aula, dem Kunstatelier und den Musikräumen ist dunkel und müffelt nach alten Turnschuhen.

Im Flur strecke ich gerne die Hände zu den Seiten aus und fahre an den Wänden entlang, denn ich mag nicht, wenn andere neben mir gehen, weil sie mich manchmal anrempeln. Genau das tat ich auch, als Tess neben mir auftauchte.

Spindeldürr und groß, allerdings nicht so groß wie Mrs Garrett, wobei Tess ein wenig krumm geht, als wollte sie sich kleiner machen. Ihr glattes schwarzes Haar war seitlich gescheitelt. Um Blickkontakt aufzunehmen, musste sie den Haarvorhang hinters Ohr klemmen. Blickkontakt war mir unangenehm.

»Hast du Ärger bekommen?«, fragte sie leise und zog ihre akkuraten Augenbrauen in die Höhe. Fasziniert betrachtete ich sie. Augenbrauen sind schon was Seltsames. Sie sind nie genau gleich. Immer gibt es …

»Frankie?«

»Hhmm?«

»Ich habe gefragt, ob du Ärger bekommen hast?«

»Wofür?«

»Weil du die Hausaufgaben nicht gemacht hast?« Nun flüsterte sie quasi. Tess sprach so superleise, als wollte sie nicht, dass einer mithörte. Ich verstand sie kaum.

»Ich habe sie doch gemacht.« Was nicht direkt gelogen war. Ich hatte einen Teil gemacht. Und außerdem ging das Tess auch überhaupt nichts an. Irgendwie gelang es mir, den Gedanken für mich zu behalten. Obwohl ich immer hungriger wurde, benahm ich mich heute soweit ganz gut. Außer, als ich Mrs Garrett vorhin angeranzt habe. Doch da sie es mir anscheinend nicht übel genommen hat, zählte das nicht.

»Ach so«, meinte Tess. »Dann ist ja gut.«

Mia stieß sie an, um ihr was auf dem Handy zu zeigen. Daraufhin kicherten beide, Mia laut und Tess leise. Ich war bloß froh, dass Tess wegen den Hausaufgaben nicht weiter nachbohrte.

In der Aula lief ich hinter Tess und Mia durch den Mittelgang. Tess war einen halben Kopf größer als Mia, dafür war Mias Hintern eine halbe Backe breiter. Tess in Skinny Jeans und grauem T-Shirt mit einer deckenartigen Strickjacke darüber lief ganz normal wie alle Teenager. Mia hingegen ließ die Hüften in ihrem elastischen Jumpsuit hin- und herschwingen und ihre langen blonden Locken wurden davon angesteckt. Ich setzte mich hinter die beiden ganz an den Rand. Als ich mich umschaute, konnte ich Kai nirgends entdecken.

Dafür lächelte mir Mrs Faust von ihrem Stehplatz hinten an der Wand schon wieder aufmunternd zu. Musste sie immer zu mir sehen?

»Rutsch mal rüber!«, sagte ein Fiesling namens Alex. Ständig brüllte er die Leute an, sogar die Lehrer. Ich hab ja vielleicht Aggressionen, aber das ist nichts im Vergleich zu Alex. »Mach endlich Platz.«

»Ich war zuerst da.« Mein Bedürfnis, am Gang zu sitzen, war größer als der Wunsch, nicht angeschrien zu werden. Ich sitze nicht gern so eingequetscht. »Da«, sagte ich und nahm die Knie zur Seite, sodass er an mir vorbeikonnte.

»Was soll’s.« Kopfschüttelnd drängte er sich vorbei und trat mir auch noch auf den Fuß.

»Aua!«, rief ich laut. Statt sich zu entschuldigen, verdrehte Alex bloß die Augen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und rutschte tiefer in den Sitz.

Es dauerte eine Weile, bis sich alle 323 Schüler gesetzt hatten. Na ja, an dem Tag waren es bloß 322, aber das wussten wir da noch nicht. In der Aula herrschte eine Stimmung wie kurz vor einem Gewitter am Strand, als könnte es einen jeden Moment erwischen. Das ist bildhafte Sprache – Vergleiche, Metaphern und so. Ich versuche, das mehr einzubauen, denn wenn man sich immer zu wörtlich ausdrückt, wird man ausgelacht.

Auf der Bühne hielt Direktorin Golden die Hand hoch, Mittel- und Ringfinger berührten den Daumen, Zeigefinger und kleiner Finger erhoben: der Kojote, das Zeichen, leise zu sein.

»Buh!«, rief Alex laut. Die Direktorin sah ihn an, wie ich nie von ihr angesehen werden möchte, und Alex war sofort still.

Dann schniefte die Direktorin laut ins Mikro.

»Es ist was passiert«, sagte sie. Ihr P machte ein unangenehmes Ploppgeräusch. »Heute Morgen hat es einen Vorfall gegeben. Bislang haben wir keine Einzelheiten, aber eine unserer Schülerinnen wird vermisst.«

Einige Sekunden lang knisterte das Mikro noch, bevor in der gesamte Aula Geflüster losbrach.

»Hat sie vermisst gesagt?«

»Wer kann das sein?«

»Was meinst du, was ist da passiert?«

Wie ein Pingpongball sprangen meine Gedanken von der vermissten Schülerin zu den Aushängen mit den verschwundenen Kindern in der Eisdiele »I Scream for Ice Cream«, in die mein leiblicher Vater mich und meine Schwester bei seinem Besuch letztes Jahr geschleppt hatte, obwohl es mitten im Winter war, in Strömen goss und meine Schwester keine Milchprodukte verträgt. Ich schüttelte den Kopf, um mich wieder auf die Worte der Direktorin zu konzentrieren.

»Die Untersuchung läuft, bislang wissen wir nichts weiter. Die Polizei durchsucht die Schule und möchte auch einzelne Schüler befragen. Statt diesen ohnehin kurzen Schultag mit weiteren Unterbrechungen zu stören, hat sich die Leitung entschlossen, den Unterricht für heute ausfallen zu lassen. Wenn ihr mit dem Schulbus gekommen seid, wendet euch bitte an Mrs Taylor aus dem Sekretariat, die hilft euch …«

Mit einem Schlag standen alle auf und redeten drauflos, außer mir: Ich blieb auf meinem Platz und wartete, bis sich die Aula geleert hatte. Weil ich den Weg zum Gang blockierte, musste die gesamte Reihe zur anderen Seite raus, sogar der fiese Alex. Zum Glück, denn sonst wäre er mir womöglich wieder auf den Fuß getrampelt.

Es war 9.40 Uhr. Um diese Zeit hätte sonst die zweite Stunde angefangen, Englisch, doch stattdessen sollte ich mich auf den Heimweg begeben. In meinem Bauch rumorte es. Veränderungen ertrug ich nicht.

»Sie geht nicht ans Handy.«

Im Gang steckten Tess und Mia die Köpfe zusammen und flüsterten. »Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?«

»Gestern vorm Abendessen«, sagte Mia und drehte den Ring an ihrem Mittelfinger. »In der Frühstunde war sie nicht. Dachte, sie hat verschlafen.«

»Das sieht ihr aber nicht ähnlich.« Tess knabberte an ihrer Lippe herum. »Ihre Tasche ist nicht in unserem Spind.« Ich beugte mich vor, um Tess besser zu verstehen, dabei fragte ich mich, ob es sie nicht störte, dass Mias Locken ihre Hand berührten. Reflexartig wischte ich mir über die Hand, als hätten sie meine berührt. »Ob sie krank ist?«

Sie sahen sich mit großen Augen an. Sofort musste ich an eine ganz bestimmte Katze aus einem Comic denken; Mias Augen waren blau wie an einem Sonnentag und die von Tess grün-grau wie an einem bedeckten Tag. Vielleicht spürten sie meinen Blick, denn sie sahen gleichzeitig zu mir herüber.

»Hast du mit Colette gesprochen?«, fragte Tess auf ihre zaghafte Art.

»Klar habe ich mit Colette gesprochen.«

»Ich meine, in letzter Zeit«, fügte Tess hinzu. »Hast du zum Beispiel gestern mit ihr gesprochen?« Mittlerweile knabberte sie nicht mehr an ihrer Lippe, jetzt zerrte sie richtig daran. Mich lenkte das total ab. Warum ließ sie ihre Lippe nicht endlich in Ruhe?

»Nein«, antwortete ich, bloß um was zu sagen. Nein zu sagen, fällt mir nicht schwer.

»Das ist eine ernste Sache.« Mia neigte sich vor wie mein Therapeut manchmal. Dann senkte sie die Stimme. »Was, wenn sie es nun ist?«

»Was, wenn sie was ist?«, fragte ich.

Mia stöhnte. »Warum bist du nur immer so abgedreht?«

Tess sah sie vielsagend an und klärte mich auf. »Wir fragen uns, ob Colette vielleicht die vermisste Schülerin ist.«

Wortlos starrte ich sie an, denn für mich ergab das keinen Sinn, denn da wusste ich ja noch nicht, dass die vermisste Schülerin wirklich Colette war, und außerdem hatte ich mit dem seltsamen Gefühl zu kämpfen, dass ich doch gerade erst in die Schule gekommen war und nun schon wieder nach Hause sollte. Das war nicht mein normaler Ablauf.

»Los, komm.« Mia zog Tess am Arm. »Vielleicht brauchen die Lehrer ein wenig Unterstützung.«

2. Kapitel

Fake: Zwillingstornados sind extrem selten.

Psychiater sind die, die einem den Stempel aufdrücken.

Mom sammelte meine Klamotten, Bücher und Hefte vom Boden auf, während ich, statt in der Schule zu sein, faul auf dem Bett lag und so tat, als wäre sie nicht da. Mir passte es gar nicht, dass sie meine Sachen anfasste, aber wenn ich ausflippte, würde sie mich nachher wieder zum Psychiater schicken.

Wir hatten eine Abmachung getroffen: Solange ich meine Wut im Griff hatte, musste ich keine Medikamente nehmen. Und Medikamente wollte ich am liebsten nie wieder nehmen, denn davon wurde ich schläfrig, hungrig, benebelt, aufgedunsen, weinerlich, vergesslich oder zappelig, manchmal auch alles zusammen, je nachdem. Nur wegen dieses Stempels bekam ich ja überhaupt Medikamente, und wie gesagt, dafür sind Psychiater zuständig.

Mir haben sie den Stempel in der vierten Klasse verpasst. Ich habe auf dem Schreibtisch meiner Mutter nach Kleber gesucht. Stattdessen fand ich etwas, das nach einem Test aussah, bloß, dass es bei den Fragen nicht um Mathe, Geschichte oder Biologie ging, sondern um Verhalten.

In den Anweisungen stand, man sollte die Kreise ankreuzen, die am ehesten zutrafen. Dabei sollte man unterscheiden, ob eine Aussage nie, selten, oft oder immer zutraf.

Das Kind bleibt nicht bei einer Aktivität, sondern springt willkürlich zur nächsten.

Das Kind hat Schwierigkeiten, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen.

Das Kind blickt oder starrt ins Leere.

Das Kind wird häufig gehänselt.

Das Kind läuft zwischen zwei Personen hindurch, die sich unterhalten.

Das Kind tröstet andere, wenn sie traurig sind.

Dem Kind machen Veränderungen mehr zu schaffen als anderen Kindern.

Insgesamt gab es 75 Aussagen. Noch waren die Kreise leer. Oben auf dem Bogen stand mein Name.

Eine Woche lang habe ich mich jede Nacht aus dem Bett geschlichen, um nachzusehen, ob die Kreise ausgefüllt waren, notierte mir sogar Wörter, die ich nicht kannte, um sie nachzuschlagen. Ich wollte wissen, ob meine Mutter fand, dass ich nie, selten, oft oder immer ziellos umherwanderte, statt bei einer Aktivität zu bleiben. Ob sie fand, dass ich nie, selten, oft oder immer Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen hatte. Ob ich nie oder immer ins Leere schaute. Ob ich nie zwischen Leuten durchging, die sich unterhielten. Ob ich oft gehänselt wurde.

Ob das Kind mehr Probleme mit Veränderungen hatte als andere Kinder.

Ich wollte wissen, was meine Mutter von mir hielt. Doch ich habe es nie herausgefunden, denn an einem Abend waren die Kreise leer und am nächsten spurlos verschwunden. Beim Psychiater tauchten sie dann wieder auf, doch keiner wollte sie mir zeigen. Ich weiß noch, wie sauer ich damals war. Auch auf den Psychiater, weil er Begriffe benutzte, die ich nicht verstand und später im Internet recherchieren musste, Begriffe, mit denen ich gemeint war: »neurologische Störung«, »Aufmerksamkeitsdefizit« und »schwache kognitive Kontrolle«! Im Internet gab es haufenweise Artikel, in denen betroffenen Eltern erklärt wurde, wie sie mit diesen Kindern »fertigwurden«. Bis man mir diesen Stempel aufdrückte, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich jemand war, mit dem meine Mutter »fertigwerden« musste. Bis man dir diesen Stempel aufdrückte, wusste ich nicht, dass ich »Probleme« hatte.

Weil ich so sauer war, dass man mir die Kreise nicht zeigte, mich vom Gespräch ausschloss und in einer ekligen Weise über mich sprach, trat ich gegen den Schreibtisch des Psychiaters. Als daraufhin meine Mutter sauer wurde, stachelte mich das noch weiter an, und ich trat noch heftiger gegen den Schreibtisch. Schließlich rutschte ich vom Stuhl und trat mit voller Wucht wieder und wieder gegen den Schreibtisch. Meine Mutter und der Psychiater verließen den Raum, bis ich mich wieder eingekriegt hatte. Aber ich weiß noch, dass Mom geweint hat. Daran denke ich nicht gerne.

An manche Dinge erinnere ich mich gar nicht mehr und an andere überdeutlich. Diese Sache würde ich am liebsten vergessen.

»Frankie?« Mom hielt einen Stapel Bücher in der Hand und sah mich fragend an. Über ihrer Nase hatten sich zwischen den Augenbrauen Falten gebildet, die wie verkehrt herum gesetzte Klammern aussahen. »Hast du mich gehört? Ich habe dich gefragt, ob wir nicht Gabriel anrufen und einen Termin machen sollen? Du warst schon lange nicht mehr bei ihm. Und gerade jetzt, wo so viel passiert, wäre das sicher eine gute Idee.«

Gabriel ist mein Therapeut, was tausendmal besser ist als ein Psychiater. Therapeuten lassen sich Zeit, reden mit einem und machen Vorschläge. So genau erinnere ich mich an die erste Sitzung mit Gabriel nicht mehr, nur noch an die vielen Gesellschaftsspiele, Musikinstrumente und die ganzen Spielsachen in seinem Büro. Und Gabriel hat allein mit mir gesprochen, ohne dass meine Mutter dabei war, und hat mir keine Stempel aufgedrückt oder Fragebögen mit Kreisen vor mir versteckt. Und ich durfte Tornados malen, während er mir Fragen stellte.

»Frankie, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Mom.

»Ja!« Ich holte einmal tief Luft. »Du brauchst Gabriel nicht anrufen. Ich muss nicht wegen jeder Kleinigkeit zur Therapie rennen.« Dabei gab ich mir Mühe, ruhig zu klingen. »Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen.«

Oft ging es mir nach einem Gespräch mit Gabriel besser. Trotzdem wollte ich keinen Termin machen, denn ich wollte zeigen, dass ich allein klarkam. Auch auf diese seltsame Mrs Faust, die mir in der Schule ständig zulächelte, konnte ich verzichten. Ich wollte ein stinknormales Mädchen sein, das zurechtkam, ohne dass ihm alle naselang jemand half.

Und mir ging es gut, solange alles seinen gewohnten Gang ging. Doch dann war Colette plötzlich verschwunden – wobei ich da ja noch nicht genau wusste, dass sie es war –, und ihre derzeitigen besten Freundinnen, Tess und Mia, hatten mir Fragen gestellt, die ich nicht ganz wahrheitsgemäß beantwortet hatte, und ich war zu Hause, obwohl ich eigentlich Englisch haben sollte, also ging nichts seinen gewohnten Gang.

Mom legte die Bücher ab und trat ganz nah ans Bettende, als wollte sie sich setzen, was ich gar nicht wollte. Ich kann es nicht haben, wenn sich Leute auf mein Bett setzen, nicht mal Leute, die ich liebe wie meine Mutter.

»Das ist ja wohl keine Kleinigkeit, Frankie …«

Wehe, du setzt dich auf mein Bett, dachte ich.

»Wenn ein Mädchen vermisst wird, ist das eine große Sache.«

Lehn dich nicht so dagegen, sonst willst du gleich sitzen!

»Gabriel hat da vielleicht ein paar Tipps für …«

Sie setzte sich.

»Mom! Nicht!« Ich hatte mich nicht mehr im Griff und brüllte sie an. »Die Schülerin ist sicher längst tot. Damit müssen wir uns eben abfinden.«

»Frances Vivienne Harper!« Mom rang nach Luft.

Uups.

»Das meinte ich nicht so.« Ich ruderte schnell zurück. »Das hab ich bloß gesagt, weil ich hungrig bin.«

»Steh sofort auf!« Mom sprang stocksauer auf und lief zur Tür, dabei knackten ihre Knie. In letzter Zeit knirschte es bei ihr überall. »Wir gehen spazieren und danach essen wir was. Basta. Keine Diskussionen.« Ihre Stimme hatte nichts mehr von einer lieben Mama. Sie klang herzlos.

»Ich will nicht spazieren gehen«, jaulte ich. »Können wir nicht einfach Mittag essen? Ich sterbe vor Hunger.«

»Das überstehst du schon.« Ihrem Tonfall nach zu urteilen, war sie noch immer geladen.

Auf den Tonfall zu achten, lernt man beim Therapeuten. Gabriel nennt es »Hinweise«. Den meisten Leuten muss man das nicht erst beibringen, die verstehen es automatisch.