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eISBN 978-3-7917-6195-4 (epub)
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Der Gardasee – Ein Sehnsuchtsort mit Geschichte
Mildes Klima, fruchtbarer Boden: Der Mensch entdeckt den Gardasee
Die Geschichte vor der Geschichte: »Ötzi« am Gardasee / Von Anemonen, Gletschern und Pfahlbauten: Die Urgeschichte / Die Pfahlbauten am Ledrosee / Gekommen, um zu bleiben: Die Kelten am »Lacus Benacus«
Luxus und Lebensstil: Oberitalien wird Teil des Römischen Imperiums
Auf gepflasterten Straßen in alle Welt: Roms Sprung zur Großmacht / Römische »Hotspots« nahe dem See: Brescia und Verona / Die »Grotten des Catull« / Unruhige Grenzregion: Rom und die Alpenstämme / Römischer Villenbau
Unruhige Zeiten, wechselnde Herrscher: Die Völkerwanderungszeit
Sturm aus dem Norden: Völker auf Achse / Von der Verfolgung zur Verehrung: Das Christentum in Norditalien / Vigilius von Trient: Missionar in der Gardasee-Region / Aggressoren, Herrscher und Mäzene: Die Zeit der Langobardenkönige / Der Untergang der Langobarden
Das blanke Schwert der Kaiser: Die Franken kommen
Koexistenz und Kulturaustausch: Langobarden im Frankenreich / Besiedelung und Verteidigung: Die Sicherung der Gardasee-Region / Fluchtburgen um den Gardasee: Die Ricetti / Dem Ansturm nicht gewachsen: Das Ende der fränkischen Herrschaft / Mutig und charmant: Adelheid von Burgund
Zeiten des Umbruchs: Zwischen Kaiserglanz und Kontrollverlust
»Schlüsselloch« Etschtal: Der Aufstieg Trients / In engem Kontakt zur Krone: Bischöfe und Adel der Gardasee-Region / Der Aufstieg der Kommunen: Die Staufer im Abstiegskampf / Liebesgeschichte von Weltformat: Romeo und Julia
Die neuen Herren des Sees: Die Scaligeri
Berühmt, berüchtigt, kaisertreu: Die Stadttyrannen von Verona / Der »tollwütige Hund«: Cangrande II. / Selbstverliebt und generös: Die Scaligeri und die schönen Künste
Im milden Glanz der Lagune: Unter der Herrschaft der Serenissima
Wein, Papier und Oliven: Handel in venezianischer Zeit / Bittersüße Delikatesse: Die Zitrone / Kunst und Ordnung: Neue Strukturen und Baustile um den See
Von den Musen wach geküsst: Der Einzug der Renaissance am See
»Schönster Ort der Welt«: Die Punta San Vigilio / Eine Frau mit Geschmack und Vermögen: Isabella d’Este Gonzagas Ambitionen am See / Isabella d’Este und Leonardo da Vinci
Gestrenger Herr in den Alpen: Der Fürstbischof von Trient
Gelehrter, Mäzen und Vertrauter des Kaisers: Bernhard von Cles / Aufsteiger aus dem Lokaladel: Die märchenhafte Karriere des Bernhard von Cles / Bauten und Bildprogramm: Cles als Meister der Repräsentation / Die Welt zu Gast in den Bergen: Das Konzil zu Trient
Weckruf der Freiheit: Im Bann der Französischen Revolution
Der Korse am Gardasee: Napoleons Italienfeldzug 1796/97 / Ende einer Ära: Der letzte Doge dankt ab / Blutiger Kampf nahe dem See: Erste Schritte zur Einigung Italiens / Die Schlacht von Solferino
Kriege, Schlachten, Diktatoren: Der Gardasee im 20. Jahrhundert
Phantastereien für eine »auserwählte Nation«: Gabriele D’Annunzio / Lebensabend eines politischen Freibeuters: D’Annunzios Vittoriale degli Italiani / Hitler-Deutschland am See: Die Republik von Salò / Straßenbau am Gardasee
»Man zählte die Stunden nicht«: Tourismus am See
Ein elitäres Vergnügen: Zur Kur am Gardasee / Bequem über die Alpen: Die Anbindung des Sees / Adel, Unternehmer, Millionäre: Der Gardasee wird en vogue / Paul Heyse und seine »Novellen vom Gardasee« / Fluch und Segen: Massentourismus am »Lago di Monaco«
Anhang
Literatur / Register / Bildnachweis
»Es war erst Ende April. Aber in den Gärten am westlichen Ufer des Gardasees von Salò bis Gargnano standen die Rosen schon in voller Blüte. Der Monat, der nördlich der Alpen als wetterwendisch verrufen ist, bewährt in diesem windstillen Winkel unter dem Schutz der hohen Berge Pizzocolo und Monte Baldo seinen Ruhm als Mai Italiens. Veilchen, Anemonen und Gentianen waren längst an den sonnigen Stellen der Reben- und Olivenhalden aufgeblüht, und neben den hier heimischen lachsfarbenen Gardonerosen mit der röthlichen Glut in der Tiefe des Kelchs dufteten an den Spalieren längs der Häuser die Marschall Niel in üppiger Fülle, während die kleinen gelben Bangsia-Röschen schon bis an die Dachsimse hinaufkletterten.«
Mit diesen poetischen Worten begann der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger von 1910, Paul Heyse, seine Novelle »San Vigilio« (1900) und beschrieb damit jenen Zauber eines keimenden Frühlingstages, der bis heute an den Ufern des Gardasees so zu erleben ist. Zugleich brachte er damit den zeitlosen Charme der ganzen Gegend mit ihren Besonderheiten treffend zum Ausdruck: ein mildes Klima mit sonnenreichen Tagen, das jenem nördlich der Alpen weit vorauseilt; eine mediterrane Vegetation mit vielen endemischen Pflanzenarten, die zu Entdeckungen geradezu einlädt; eine Landschaftsszenerie aus kombinierter See- und Bergkulisse, angesiedelt zwischen mediterranem Süden und herb-alpinen Impressionen, bei deren Anblick das Auge zur Ruhe kommt, sich Gelassenheit und Unbeschwertheit fast von allein einstellen.
Paul Heyses Novellen-Helden kommen denn auch an den Gardasee, um zu genesen und ihre Alltagssorgen und -leiden hinter sich zu lassen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, doch der Anblick des glitzernden Sees und die milden Sonnentage versprechen ihnen Heilung von psychischen wie physischen Erkrankungen. Genauso erging es dem Autor selbst, der aus gesundheitlichen Gründen seit der Jahrhundertwende die Wintersaison am liebsten nicht im rauen Klima nördlich der Alpen in seiner von vielen Gästen und Freunden aufgesuchten Münchner Villa, sondern in seinem viel stiller gelegenen Haus im milden Gardone Riviera verbrachte.
Fand zu Paul Heyses Zeit in der Regel nur die soziale Elite ihren Weg an den Gardasee und in die mondänen Unterkünfte seines Westufers, so haben sich heute die Verhältnisse so stark demokratisiert, dass jedes Jahr Millionen von Besucherinnen und Besuchern aus allen Schichten und Nationen an den Gardasee strömen, ihn zu einem der beliebtesten Reiseziele Italiens machen und angesichts der damit verbundenen Belastungen die Frage nach den Grenzen des Massentourismus aufwerfen. Die Motivation für die Reisenden ist indes die gleiche geblieben: die Sehnsucht nach einem milden Klima, nach unberührter Natur, nach Erholung und Ruhe.
Seit römischer Zeit haben viele Dichter die Reize des Gardasees besungen. Die Oberschicht erbaute sich prächtige Villen und Landhäuser, um hier unbeschwerte Ferientage zu verbringen. Doch der Eindruck einer beschaulichen Idylle trog zu allen Zeiten. Der Gardasee zeigt ein ambivalentes Gesicht: So wie die Winde über dem Wasser häufig und rasch wechseln, so stürmisch und wechselhaft fiel auch die Geschichte des Sees aus.
Er war ein Sehnsuchtsort zu allen Zeiten, aber noch lange kein sicherer Zufluchtsort. Nie befand er sich gänzlich im Abseits weltpolitischer Entwicklungen, weder in der Antike noch im 20. Jh. Seine Lage zwischen Alpenkamm und Po-Ebene brachte es vielmehr mit sich, dass er zu einem bedeutenden Schauplatz der Geschichte wurde und Kriege, Invasionen, Teilungen, Armut und Not erlebte. Von Norden, aus den Alpentälern, drohten nicht nur kalte Winde, sondern ebenso Invasionen keltischer und germanischer Stämme, die sich bis an seine Ufer ergossen. Die Kämpfe oberitalienischer Stadtstaaten im Mittelalter ließen ihn genauso wenig unberührt wie die Kriege der Napoleonischen Ära oder die des Risorgimento. An seinen Ufern tummelten sich nicht nur Dichter und Künstler, sondern auch Tyrannen und Diktatoren. »Italienisch« war er bis 1919 nie vollständig. Sein Nordufer beherrschte das Fürstbistum Trient, das zum Heiligen Römischen Reich gehörte.
Der Gardasee entstand am Ende der letzten Eiszeit vor rund 10.000 Jahren. Gletschermassen schoben sich durch die engen Alpentäler in Richtung Po-Ebene und hinterließen bei der Schmelze den Gardasee, der sich hinter den Moränenhügeln der Lugana aufstaute.
Die Ruhe, die der Gardasee dem Betrachter gewährt, war ihm selbst in seiner jahrhundertelangen Geschichte nur selten vergönnt. Umso lohnender ist ein Blick auf die bewegte Geschichte des Gardasees, die sich fest eingebunden in die oberitalienische Entwicklung zeigt: Kaiser, Papst und Städtebünde, später das Haus Habsburg und die Republik Venedig treten als bestimmende Machtfaktoren hervor. Das Ergebnis dieser bewegten Geschichte kann sich sehen lassen: eine reizvolle Mischung aus nördlichen und südlichen Kultureinflüssen, die ein Ambiente bieten, das bis heute zum Verweilen am See einlädt.
War bereits »Ötzi« am Gardasee? Hat der »Mann aus dem Eis«, der zwischen 3359 und 3105 v. Chr. im Alter von 46 (+/– fünf) Jahren in einer Senke am Tisenjoch in den Ötztaler Alpen an einem kalten Tag im Frühsommer gewaltsam ums Leben gekommen ist, den zwischen den Alpen und der Po-Ebene gelegenen See aufgesucht, vielleicht sogar sein mildes Klima genossen? Man weiß es nicht, wird es auch nie erfahren. Zwar ist die älteste erhaltene Feuchtmumie der Welt, die am 19. September 1991 von einem Nürnberger Ehepaar bei einer Wanderung zur Similaunhütte zufällig im aufgetauten Eis des Gletschers entdeckt wurde, mittlerweile auch die wahrscheinlich bestuntersuchte Leiche der Welt, die eine Vielzahl an Informationen über das Leben der Menschen in der späten Jungsteinzeit und der frühen Kupferzeit geliefert hat, doch die Umstände seines eigenen Lebens bleiben für alle Zeit ein Geheimnis.
Gleichwohl spricht manches dafür, dass »Ötzi« den Gardasee zumindest gekannt hat. Bei der Untersuchung seiner Knochen und seines Zahnschmelzes ermittelten Forscher im Jahr 2003, dass der Mann aus dem Gletscher in den Tälern und Bergen bis zu 60 km südlich seines Todesortes zuhause war und im heutigen Südtirol sein Leben verbracht hatte. Als Kind – so das Ergebnis einer Analyse des Sauerstoffanteils in einem Eckzahn, die Aufschluss gab über das Wasser, das er als Drei- bis Fünfjähriger getrunken hatte – wuchs er im heutigen Feldthurns im Eisacktal auf, 8 km südlich von Brixen. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er dann aber im unteren Vinschgau, im Tal der Etsch, zwischen zehn und 20 km oberhalb von Meran. Von da bis zum Nordufer des Gardasees sind es gerade einmal 150 km, für einen geübten Läufer drei oder vier Tagesmärsche. Und »Ötzi« war ein geübter Läufer, der viel unterwegs war: Die Analyse seiner Schienbeinknochen ergab, dass diese im Vergleich mit 139 anderen prähistorischen Funden deutlich stärker ausgebildet waren, was als Folge von häufigen und weiten Wanderungen über raues und unbefestigtes Terrain interpretiert wird. Auch sein letzter Weg sollte ihn wahrscheinlich quer über den Alpenhauptkamm vom Vinschgau ins Ötztal bringen, vielleicht weiter ins Inntal oder ins damals vergleichsweise dicht besiedelte nördliche Alpenvorland. Im Vergleich zur mühsamen Alpenüberquerung war der Weg an den Gardasee, der weitestgehend der Etsch (und damit dem Verlauf der heutigen Brennerautobahn) folgte, eine harm-lose Wanderung.
Intensive Kontakte zwischen »Ötzis« Heimat im Vinschgau und der Gardasee-Region gab es in jedem Fall. Denn in seinem Gepäck befand sich ein Beil, aus reinem Kupfer gefertigt, das der Remedello-Kultur zugerechnet wird. Sie ist benannt nach dem oberitalienischen Gräberfeld »Remedello Sotto« 25 km südöstlich von Brescia in der Po-Ebene. Diese Kultur hatte ihr Hauptverbreitungsgebiet in der Emilia-Romagna, der Lombardei, der Toskana und in Venetien. Zudem trug »Ötzi« einen Dolch mit einer (abgebrochenen) Klinge aus Feuerstein bei sich, dessen Herkunft Forscher exakt lokalisieren konnten. Im Stein fanden sich winzige Fossilien, die in dieser Zusammensetzung nur in den Gruben aus den Monti Lessini östlich des Gardasees und der Etsch nördlich der Linie Verona–Vicenza vorkommen, insbesondere im Abbaugebiet um Ceredo in der heutigen Gemeinde Sant’Anna d’Alfaedo. Dort befand sich damals ein Zentrum des Feuersteinabbaus, wovon große Mengen von bearbeiteten Feuersteinabfällen und -geräten zeugen, heute ein beliebtes Weinanbaugebiet. Beide Artefakte weisen auf funktionierende Handelsrouten in der späten Jungsteinzeit und der Kupferzeit hin, denn zur Ausstattung einer Nekropole in Remedello (Grab 102) gehörten ebenfalls ein Kupferbeil, ein Feuersteindolch und Pfeilbewehrungen in fast identischer Ausführung zu den Gegenständen, die »Ötzi« bei seinem letzten Gang mit sich trug.
War »Ötzi« gar ein »Handelsvertreter« für Feuerstein? Besuchte er regelmäßig das Abbaugebiet in den Lessinischen Bergen und »exportierte« danach die begehrte Ware vom Gardasee über die Alpen? Diese These stellte der Geologe Alexander Binsteiner vom Landesamt für Denkmalpflege in Landshut auf. Zum einen spricht aus seiner Sicht dafür, dass »Ötzis« Bandscheiben reichlich abgenutzt und seine Gelenke verschlissen waren – er trug wohl über längere Zeiträume schwere Lasten auf seinem Rücken; dagegen wiesen seine Hände keine Schwielen auf. Hart arbeiten musste er demnach nicht. Zum anderen fanden sich in Süddeutschland mehrfach Flintsteine aus den Monti Lessini, obwohl es in Arnhofen bei Kelheim und Baiersdorf bei Landshut große eigene Bergwerke gab, wo schon ab etwa 8000 v. Chr. der scharfkantige Stein für die Anfertigung von Sicheln, Dolchen, Klingen und Pfeilspitzen abgebaut wurde. So wurden bei Landshut drei Dolche gefunden, die nicht nur der Waffe von »Ötzi« gleichen, sondern deren Klingen ebenfalls von den Lessinischen Bergen stammen. Zudem fanden sich Steine vom Gardasee unter anderem in Siedlungen am Chiemsee, am Starnberger See, an der Donau, der Isar und am Lech. Und auch in den Pfahlbauten am Federsee und am Bodensee waren Dolche mit Klingen aus den Südalpen in Benutzung. Mit den Steinen kamen auch Pflanzen wie Dill, Petersilie, Schlafmohn, Zitronenmelisse, Sellerie sowie Nacktweizen, die nur südlich der Alpen wuchsen, in den Norden, wie Samenfunde in den Pfahlbau-Siedlungen am Bodensee belegen. Im Gegenzug für die Steine bekamen die Händler Tiere und Felle sowie den begehrten Bernstein aus dem Ostseeraum. Die mächtigen Gipfel der Alpen waren für »Ötzi« und seine Zeitgenossen vor mehr als 5000 Jahren zwar eine Barriere, aber schon lange kein Hindernis mehr. Mit ihrer Bekleidung und ihrer Ausrüstung waren sie auch für schlechtes Wetter und Schneefall in den Bergen gerüstet.
Der Gardasee war, als »Ötzi« möglicherweise an seinen Gestaden weilte, gerade erst entstanden. In der letzten Eiszeit, der Würm-Eiszeit, die von 115.000 bis rund 10.000 v. Chr. andauerte, bedeckte eine 2000 bis 3000 m dicke Schicht aus Schnee und Eis den gesamten Alpenraum auf einer Fläche von 150.000 km2, nur die höchsten Gipfel ragten aus dem gewaltigen Eis-Meer hervor. Dies galt auch für den bis zu 2218 m hohen und über 30 km langen Bergrücken des Monte Baldo, der sich wie ein Riegel zwischen das Ostufer des Gardasees und das Etschtal schiebt. Weil nicht nur seine Felsengipfel, sondern auch fruchtbare Hochflächen über der Eisgrenze lagen, weist er bis heute eine einzigartige voreiszeitliche Flora und Fauna auf; heimisch wurden nicht nur die im Tertiär zugewanderten Tiere und Pflanzen, sondern auch jene, die in den warmen Zwischeneiszeiten aus dem Mittelmeerraum kamen. Etliche Pflanzen wurden erstmals auf dem Monte Baldo gefunden und beschrieben, weshalb sie den wissenschaftlichen Beinamen »baldensis« erhielten, so die Baldo-Anemone oder die sehr seltene Monte-Baldo-Segge, aber auch Insekten wie die Monte-Baldo-Gebirgsschrecke.
Wo heute die Etsch vom Reschenpass durch den Vinschgau bis Bozen fließt, lag der Etschgletscher, auch Rätischer Gletscher genannt, mit einer Länge von 350 km das größte Gletschersystem der Alpensüdseite, der mit den Gletschern aus den Seitentälern der Ötztaler und der Ortler-Alpen verbunden war und sich mit dem Eisack- und dem aus dem Pustertal kommenden Rienzgletscher vereinigte. Bis Sirmione reichten die Eismassen, an ihrem Ende türmten sie mehrere Kilometer breite und bis zu 40 m hohe Moränen aus Geröll und Gestein auf und schufen die sanfte, hügelige Landschaft im Vorfeld der schroffen Alpen. Als es wärmer wurde und die gewaltigen Eismassen zu tauen begannen, versperrten die Endmoränen den Abfluss, hinter der natürlichen Barriere staute sich das Schmelzwasser.
So entstand auch der Gardasee, ein Geschenk der Eiszeit, mit einer Länge von 51,6 km, einer maximalen Breite von 17,2 km und einem Volumen von 49,3 km3 der größte See Italiens, der das Tal der Sarca füllte, an seiner tiefsten Stelle 346 m tief. Im Norden liegt er noch mitten in den Alpen, schroff und steil steigen auf beiden Seiten wie in einem Fjord die Felsen in die Höhe, im flachen Süden öffnet er sich zur Po-Ebene, wo schließlich der Mincio bei Peschiera den Abfluss bildet und nach weiteren 75 km in den Po mündet.
Im Pfahlbaumuseum von Molina di Ledro am Ledrosee lassen sich Eindrücke vom Leben in der Bronzezeit sammeln. Vier nachgebaute Hütten stehen im Freilichtbereich des Museumsgeländes.
Immer wieder ärgerten sich die Fischer am kleinen Ledrosee westlich von Riva del Garda, der rund 500 m über dem Gardasee liegt, weil sich ihre Netze in zahllosen Baumpfählen unter der Seeoberfläche verfingen. Als im Jahre 1929 der Wasserspiegel sank, weil in Riva ein Elektrizitätswerk in Betrieb genommen wurde, das mit Wasser aus dem Ledrosee gespeist wurde, kamen auf einer Fläche von etwa 4500 m2 mehr als 10.000 tief in den schlammigen Seegrund gerammte Baumpfähle zum Vorschein, die sich rasch als prähistorische Relikte einer bedeutenden bronzezeitlichen Pfahlbausiedlung erwiesen. Bestätigt wurde dies, als im unmittelbaren Umfeld der Pfähle auch unzählige Gebrauchsgegenstände zum Vorschein kamen, darunter Vasen, Krüge, Dolche, Keulen und Schmuck sowie ein aus der Zeit um 1600 v. Chr. stammender Einbaum, ein 4,50 m langes und 75 cm breites Boot aus dem Stamm einer Tanne. Weitere Funde belegten, dass die Holzhäuser mit Lehm und Brettern verkleidet waren. Wie die Menschen zu jener Zeit lebten, kann anschaulich in mehreren originalgetreu rekonstruierten Hütten im Pfahlbaumuseum in Molina di Ledro an der Südost-Seite des Sees erlebt werden. Dort gibt es das rekonstruierte 20 m2 große Haus des Häuptlings, in dem sich nicht nur das Dorfoberhaupt mit seinen Bewohnern traf, sondern auch gekocht, gewebt und das Korn gemahlen wurde. Des Weiteren sind die Hütte der Handwerker, in der Äxte, Bogen und Pfeile hergestellt wurden, sowie die Hütte der Bauern, Fischer und Jäger mit Pflügen und Fischernetzen zu sehen. Zudem sind die prähistorischen Fundstücke ausgestellt. Weitere Gegenstände sind im Museo Alto Garda in Riva zu besichtigen. Seit 2012 gehört die archäologische Stätte am Ledrosee zum UNESCO-Welterbe »Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen«, die insgesamt 111 Siedlungen in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Italien, Österreich und Slowenien umfasst. Die bekanntesten Stätten in Deutschland befinden sich in Unteruhldingen im Bodensee und bei Bad Buchau im Federsee, beide in Baden-Württemberg.
Das milde Klima und die fruchtbaren Böden lockten bald schon Menschen an, erst mittelsteinzeitliche Jägergruppen, die in den Tälern, Wäldern und im Hochgebirge Hirsche und Rehe, Steinböcke, Gämsen und Murmeltiere erlegten, schließlich um 4000 bis 3500 v. Chr. die jungsteinzeitlichen Bauern, die über das Mittelmeer aus dem Vorderen Orient einwanderten, Getreide und andere Nutzpflanzen anbauten sowie Wildtiere domestizierten. Im gesamten Alpenraum siedelten die Menschen bevorzugt in kleinen Siedlungen mit mehreren Häusern in den flachen Uferzonen der Alpenseen. Die Zeit »Ötzis« war die Zeit der Pfahlbauten. Das Leben im Wasser bot Schutz vor den wilden Tieren, die in den dichten Wäldern hausten, sowie Nahrung im Überfluss.
Auch am Gardasee rammten die Menschen schwere Baumstämme in den schlammigen Grund des Sees und errichteten auf den Plattformen ihre Holzhäuser. Am gesamten flachen Südteil des Sees, von Sirmione im Süden bis Salò im Westen sowie Garda, Pai und Malcesine im Osten, finden sich Spuren derartiger Siedlungen. So wurden in Sirmione – mit seiner 4 km weit in den See reichenden flachen Halbinsel wohl schon immer ein leicht zu schützendes und daher bevorzugtes Siedlungsgebiet – Reste eines Wohngebäudes mit einer Feuerstelle freigelegt. Eine der bedeutendsten Pfahlbausiedlungen des Alpenraumes lag am Ledrosee, einem kleinen Bergsee zwischen dem Gardasee und dem Idrosee im Ledrotal. Sie wurde zwischen 2200 und 1350 v. Chr. genutzt und erwies sich als regelrechter Glücksfall für die Archäologen. Durch den Lehmgrund des Sees erhielten sich hier viele Handwerksprodukte pflanzlichen Ursprungs wie Gewebestücke und Netzfragmente, aber auch Bronzeteile wie Haarnadeln, Beilklingen sowie Exemplare des typischen Ledro-Dolches. Die reiche Fundlage gab einen außergewöhnlich plastischen Eindruck vom Alltagsleben in der Bronzezeit, das sich über Jahrhunderte hinweg im Rahmen bäuerlicher Subsistenzwirtschaft vollzog, aber bereits um eine rege Tauschhandelstätigkeit über die Alpen hinweg ergänzte, wovon unter anderem Bernsteinperlen aus dem Ostseeraum künden.
Die Pfahlbaubewohner lebten von Fischfang, Ackerbau und Viehzucht, doch erste Händler zogen schon damals über die Alpen, um begehrte Waren auszutauschen.
Die Gardasee-Region war, wie diese Funde belegen, Teil eines gesamtalpinen Kulturraumes, in dem bereits die Menschen der Jungsteinzeit, der Kupferzeit und der beginnenden Bronzezeit einen intensiven Handel und Austausch betrieben. Die großen Flusstäler der Donau, des Rheins, des Inns, der Rhone waren die Schlagadern des Verkehrs; über die noch heute genutzten Pässe, vor allem die als Saumpfade verwendeten Reschen und Brenner, waren der Süden und der Norden Europas miteinander verbunden, wie bronzezeitliche Funde an beiden Alpenübergängen belegen. Die Alpenregion ihrerseits blühte dank ihrer reichen Salzvorkommen und Kupfererzlagerstätten auf, Wissenschaftler sprechen von der »Industrieregion der Bronzezeit«. Neue Techniken des Bergbaus und der Verhüttung wurden entwickelt, parallel dazu kam es zu einem deutlichen Aufschwung in der Landwirtschaft, im Handwerk und im Handel, es begann die Zeit der Spezialisierung und der Arbeitsteilung, neue Berufe wie Bergleute, Schmiede, Gießer oder Händler entstanden. Ausgedehnte Handelskontakte brachten das für die Bronzeherstellung notwendige Zinn aus Cornwall oder der Bretagne in die Alpen. Im Gegenzug für das begehrte Metall wurden nicht nur Nahrungsmittel wie Öl und Wein, sondern auch Luxusgüter eingetauscht – Bernstein aus dem Baltikum, exotische Muscheln von der Nordsee und dem Schwarzen Meer, Jade aus Frankreich, Bergkristall und Glasperlen aus Etrurien und sogar Keramik aus Mykene.
Ohne weitgereiste Händler ging das nicht, die Menschen waren mobil, wie bereits »Ötzi«, der Wanderer aus dem Vinschgau, belegt. Eine Untersuchung seines Erbgutes förderte Erstaunliches zutage: Seine Mutter gehörte einem lokalen Bergvolk der Alpen an, deren Vorfahren aus dem Nahen Osten und dem Mittelmeerraum eingewandert waren – die Gene des Vaters weisen hingegen auf eine Herkunft aus Sardinien oder Korsika hin. Und das sollte nicht die einzige Einwanderungswelle im Raum zwischen den Alpen und dem Po bleiben.
Im ersten vorchristlichen Jahrtausend kam es zu erheblichen Wanderungsbewegungen in Europa und im Mittelmeerraum, die auch die Region um den Gardasee erfasste. Am Übergang von der Kupfer- zur Eisenzeit besiedelten Griechen und Phönizier den gesamten westlichen Mittelmeerraum und gründeten Städte, in Mittelitalien begann der Aufstieg der Etrusker. Keltische Stämme und Gruppen, die sich um 800 v. Chr. in Mitteleuropa von Frankreich über Süddeutschland bis Böhmen und Slowenien angesiedelt und eine eigenständige Kultur entwickelt hatten, pflegten auch Handelskontakte über die Alpen mit den Bewohnern des südalpinen Raumes. So wurden am Lago Maggiore und am Comer See sowie sogar in der Po-Ebene keltische Fundstücke wie Fibeln aus der frühen Hallstatt-Zeit (ca. 800–450 v. Chr., benannt nach einem 1846 entdeckten eisenzeitlichen Gräberfeld in einem Hochtal über dem Hallstätter See im österreichischen Salzkammergut) entdeckt, zudem Grabstelen mit lepontischen Inschriften, einer Variante des Keltischen. In der darauf folgenden jüngeren eisenzeitlichen Latènezeit (400 v. Chr. bis 0, benannt nach Funden in La Tène am Lac de Neuchâtel in der Schweiz) schließlich drangen ab 400 v. Chr. in mehreren Wellen verstärkt keltische Stämme über die Alpen, wo sie auf die einheimischen Ligurer, Veneter und andere italische Völker stießen, aber auch auf etruskische Siedlungen und Kolonien, die sie mit Waffengewalt entweder vertrieben oder keltisierten. Nach einer von Plinius überlieferten Anekdote habe der helvetische Handwerker Helico von einem Aufenthalt in Rom eine Feige, eine Traube sowie Wein und Öl in seine Heimat mitgebracht, was dort Begehrlichkeiten weckte. Tatsächlich dürften neben den lukullischen Genüssen des Südens vor allem handfeste Gründe wie Überbevölkerung, innere Unruhen, Bürgerkriege sowie eine deutliche Klimaverschlechterung nördlich der Alpen die Wanderungen ausgelöst haben. Schon zu Beginn des 4. Jhs. war der größte Teil der Po-Ebene bis nach Ancona von den eingewanderten keltischen Stämmen besetzt.
Im Jahre 387 v. Chr. kam es zum ersten dramatischen Zusammenprall zwischen den keltischen Neusiedlern und der aufstrebenden Macht Rom. Als die keltischen Semnonen immer weiter nach Süden vordrangen und das etruskische Clusium, das heutige Chiusi in der toskanischen Provinz Siena, bedrohten, riefen die Bürger Rom um Hilfe. Der Konflikt eskalierte, am 18. Juli kam es zur Schlacht an der Allia, etwa 20 km vor Rom. Der Tag ging als »dies ater alliensis« (schwarzer Tag an der Aller) in die römische Geschichte ein. Nachdem die Römer eine vollständige Niederlage erlitten hatten, drangen die Kelten in die Stadt am Tiber ein und plünderten sie; der Legende nach verhinderten nur die schnatternden Gänse, dass auch die Burg auf dem Kapitol erstürmt werden konnte. Den Abzug nach siebenmonatiger Belagerung ließen sich die Kelten teuer bezahlen: Sie forderten ein Lösegeld von 1000 Pfund Gold. Als es beim Wiegen zum Streit kam, warf der gallische Anführer namens Brennus sein Schwert als zusätzliches Gewicht auf die Waagschale und rief: »Vae victis!« (Wehe den Besiegten!). Die Demütigung saß tief, die Angst vor den Galliern (»metus gallicus«) wurde zu einem bestimmenden Faktor der römischen Politik – noch in der Kaiserzeit wurde der Jahrestag der Schlacht an der Aller als Staatstrauertag begangen.