Larry lebt gemeinsam mit seinem Vater ein eintöniges Leben in Montana – bis eines Tages Doris, die Schwester seiner Mutter, mitsamt ihrem rosa Cadillac vor der Tür steht. Gemeinsam brechen Tante und Neffe zu einer langen Reise in Richtung Seattle auf. Dort lebt Larrys Mutter, die ihn und den Vater vor einiger Zeit verlassen hat. In der Eisenbahnerstadt Shelby geraten sie in eine Schießerei, die jemanden das Leben kostet. Beklemmend klar beschreibt Richard Ford den Zerfall einer Familie und erinnert daran, welche Spuren Menschen in den Leben anderer hinterlassen können.
Hanser E-Book
Eifersüchtig
Eine Novelle
Aus dem
Amerikanischen
von Fredeke Arnim
Hanser Berlin
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Jealous in Women with Men: Three Stories bei Alfred A. Knopf, New York
ISBN 978-3-446-25526-5
© by Richard Ford 1997
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016
Cover: Peter-Andreas Hassiepen, München
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Kristina
In den letzten Tagen, während ich bei meinem Vater in seinem Haus unterhalb des Teton-Flusses lebte, las er mir vor. Nach der Arbeit am Küchentisch sitzend oder frühmorgens, während ich mich vor ihm am Ofen anzog, las er mir laut aus den Regionalzeitungen von Havre und Conrad vor oder aus Zeitschriften – Life und Geographic – oder aus alten Schulbüchern, die mit Kordel zusammengebunden und von irgendwelchen vorangegangenen, unbekannten Familien in den Nebenräumen unseres Hauses hinterlassen worden waren, Familien, die Dinge zurückließen, die sie nicht mitnehmen konnten.
Wir waren dort allein. Es waren die Monate, nachdem meine Mutter uns das erste Mal verlassen hatte, und wir lebten seit Anfang des Schuljahrs außerhalb Duttons. Meine Mutter war im Sommer gegangen, am Ende einer langen Zeit des Streitens zwischen den beiden, und beinahe sofort danach kündigte mein Vater seinen Job in Great Falls und zog mit mir in ein kleines Haus außerhalb Duttons, wo er sein Geld mit der Reparatur von Landmaschinen verdiente. Er hatte immer gern ein wenig getrunken, meine Mutter auch, und sie hatten Freunde gehabt, die tranken. Aber in Dutton hörte er ganz damit auf, hatte keinen Whiskey mehr im Haus, und er arbeitete bis abends in der Stadt und trainierte dann seine Vorstehhunde, und so sah unser Leben aus.
Natürlich kann es sein, daß er auf irgendein wichtiges Ereignis wartete, darauf, daß ihn plötzlich irgendeine Nachricht erreichte – ein Zeichen. Vielleicht wartete er, wie man so sagt, darauf, daß ihn der Blitz träfe, und er wollte an irgendeinem Ort und in der richtigen geistigen Verfassung sein, um eine klare Entscheidung zu treffen, wenn der Augenblick käme. Es kann sein, daß er mir vorlas, um mir damit zu sagen – »Wir wissen nicht alles, was es zu wissen gibt, Larry. Es gibt mehr Ordnung im Leben und mehr zu lernen, als es scheint. Wir müssen jetzt besser aufpassen.« Es war einfach eine andere Art zu sagen, daß er ratlos war. Er war einundvierzig, und er war sein Leben lang verheiratet gewesen, und er hatte einen Sohn, und all das schien jetzt schnell zu verschwinden. Er war nie ein Mann gewesen, der einfach nur dastand und zusah, wie die Ereignisse ihn niederzwangen. Er war ein Mann, der handelte, ein Mann, dem es wichtig war, das Richtige zu tun. Und ich wußte selbst an jenem Tag, an dem diese Ereignisse stattfanden – er hatte begriffen, daß der Moment zu handeln gekommen war. Und nichts von all dem würde ich ihm vorwerfen.
Am Tag vor Thanksgiving regnete es vor Tagesanbruch eine Stunde, während ich allmählich aufwachte, regnete dann während des ganzen Nachmittags, bis die Temperatur fiel und es zu schneien anfing und die Berge in einem bläulichen Nebel verschwanden, so daß man zehn Meilen weiter in Dutton die Getreidsilos nicht mehr erkennen konnte.
Mein Vater und ich warteten auf die Schwester meiner Mutter, die mich nach Shelby, Montana, zum Zug bringen sollte. Ich war auf dem Weg nach Seattle, um meine Mutter zu besuchen, und meine Tante wollte mich begleiten. Ich war damals siebzehn Jahre alt. Es war neunzehnhundert-fünfundsiebzig, und ich war nie zuvor Zug gefahren.
Mein Vater war früh nach Hause gekommen, hatte gebadet, sich ein frisches Hemd und eine saubere Hosen angezogen und saß dann mit einem Stapel Newsweek aus der Bibliothek am Küchentisch. Ich selbst war schon angezogen, und meine Tasche war gepackt, und ich schaute durch das Küchenfenster nach dem Auto meiner Tante.
»Weißt du eigentlich, wer Patrice Lumumba ist? Oder – war?« sagte mein Vater, nachdem er kurze Zeit gelesen hatte. Er war ein großer, breitbrüstiger Mann mit kräftigem schwarzem Haar und kräftigen Händen und Armen, und der Tisch vor ihm wirkte klein.
»Nein, Sir«, sagte ich. »War sie eine Sängerin?«
»Nein«, sagte mein Vater. Er blickte durch die untere Hälfte seiner Lesebrille, als versuche er, etwas Kleingedrucktes zu entziffern. »Er war der Schwarzafrikaner, den Eisenhower 1960 vergiften wollte, jedoch seine Chance verpaßte. Seine anderen Feinde haben ihn vorher in die Luft gejagt. Wir fanden das damals alle ziemlich rätselhaft, aber es war wohl doch nicht so rätselhaft.« Er nahm seine Brille ab und rieb die Gläser an seiner Manschette. Einer unserer Setter bellte im Zwinger. Ich beobachtete, wie er zum Zaun in der Ecke beim Getreideheber lief, durch den Draht schnüffelte und dann durch den dunstigen Schnee zu seiner Hütte zurückkehrte, wo seine Schwester in der Tür stand.
»Die Republikaner haben immer Geheimnisse«, sagte mein Vater und sah durch seine Brillengläser.
»Es passiert eine ganze Menge, bevor man das Leben wirklich bewußt sieht.«
»Das weiß ich«, sagte ich.
»Aber man kann nichts dagegen tun, also soll man’s nicht so schwer nehmen«, sagte er.
Durchs Fenster sah ich den großen rosa Cadillac meiner Tante plötzlich auf der Straße am Horizont auftauchen. Er raste vor einer Schneewolke her, noch etwa eine Meile entfernt.
»Was wirst du deiner Mutter über das Leben hier draußen erzählen – den ganzen Herbst lang so von allem abgeschnitten?« sagte mein Vater. »Daß ein dunkler Schleier des Geheimnisses über der offenen Prärie liegt?« Er sah zu mir auf und lächelte. »Daß ich deine Erziehung vernachlässigt habe?«
»Ich hab noch nicht viel drüber nachgedacht«, sagte ich.
»Na, dann denk mal drüber nach«, sagte er. »Im Zug wirst du Zeit dazu haben, wenn deine Tante dich in Ruhe läßt.« Er schaute wieder in die Newsweek, jetzt ohne Brille. Sie lag auf dem Tisch. Ich hatte gehofft, meinem Vater etwas sagen zu können, bevor meine Tante ankam, etwas über meine Mutter. Wir hatten nicht viel darüber geredet.
»Was denkst du so über Mutter?« sagte ich.
»In welcher Hinsicht?«
»Glaubst du, sie kommt nach Thanksgiving hierher zurück?«
Er trommelte leise mit den Fingern auf dem Metall der Tischplatte, dann drehte er sich um und schaute auf die Uhr am Herd. »Willst du sie danach fragen?«
»Nein, Sir«, sagte ich.
»Tja. Kannst du ruhig. Du kannst es mir erzählen.« Er sah zum Fenster neben mir, als schaue er nach dem Wetter. Ich hörte einen der Hunde in seiner Hütte bellen, und dann bellte der andere.
Manchmal kam ein Koyote aus den Weizenfeldern in den Hof, und sie schlugen sofort an. »Manchmal verschwindet einfach das ganze Geheimnis aus einer Geschichte«, sagte er. Er klappte die Newsweek vor sich zu und legte die Hände darauf. »Wer ist zur Zeit dein bester Freund? Ich bin nur neugierig.«
»Nur die Freunde in Falls«, sagte ich.
»Aber wer ist jetzt dein bester Freund? Hier oben?«
»Ich hab jetzt keinen«, sagte ich.
»Mein Vater setzte die Brille wieder auf. »Das ist schade. Ist aber deine eigene Schuld.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich.
Ich beobachtete, wie das Auto meiner Tante in unsere Straße einbog und die blassen Lichter der Scheinwerfer durch die blasse verschneite Luft brannten.
Eine Meile weiter die Straße hinunter stand ein großer blauer Trailer auf einem Weizenfeld, ohne jeden Schutz vor Wind. Er gehörte dem Farmer aus der Stadt, dem auch unser Haus gehörte, und er hatte ihn der Staatskundelehrerin der High-School vermietet. Joyce Jensen hieß sie. Sie war in den Zwanzigern und korpulent, und mein Vater hatte im letzten Monat einige Nächte bei ihr unten geschlafen. »Yoyce Yensen« nannte er sie und lachte. Ich konnte ein Auto vor dem kleinen Trailer parken sehen, ein rotes neben ihrem dunklen.
»Was siehst du da draußen?« sagte mein Vater.
»Siehst du deine Tante Doris?«
»Ja, Sir«, sagte ich, »da draußen auf der Straße.«
»Tja«, sagte mein Vater, »dann bist du weg, bist bloß noch nicht zur Tür raus.« Er griff in seine Hemdtasche und zog eine kleine Rolle Geldscheine hervor, um die ein Gummiband gewickelt war.
»Kauf deiner Mutter irgendein Geschenk, wenn du in Shelby ankommst«, sagte er. »Sie wird’s nicht erwarten. Es wird sie freuen.«
»Okay«, sagte ich.
Er hielt mir die kleine Rolle hin, und ich nahm sie. Dann stand er auf und beobachtete, wie meine Tante vors Haus fuhr. »Jetzt, zu dieser Tageszeit, vermisse ich immer meinen Drink«, sagte er und sah mit mir aus dem Küchenfenster. Er legte mir seine schwere Hand auf die Schulter, und ich konnte die Seife auf seiner Haut riechen. »Das ist natürlich Teil meines alten Lebens. Jetzt sind wir auf dem Weg in ein neues Leben. Unter den Auserwählten.«
Meine Tante hupte, als sie durch die Hecken auf den Hof fuhr. Meine Tante hatte einen Eldorado Cadillac, ein 69er Modell, blaßrosa mit einem weißen Kunststoffdach. Sie hatte wegen des Schnees die Scheibenwischer an, und die Fenster waren beschlagen. Sie hatte schon einmal in Great Falls ihr Auto vor unserem Haus geparkt, und ich hatte es damals genau untersucht.