Zsolnay E-Book
Veit Heinichen
Tod auf der Warteliste
Roman
Paul Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-05621-3
Alle Rechte vorbehalten
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2003/2012
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Vielerlei Wesensarten und ebenso viele Gesichter
Gibt es. Wer klug ist, der paßt zahllosen Typen sich an,
Und so wie Proteus verflüchtigt er bald sich zu fließendem Wasser,
Bald ist er Löwe, bald Baum, borstiger Eber dann bald.
Diese Fische hier fängt man mit Wurfspießen, jene mit Haken;
Die schleppt, gezogen am Seil, fort das geräumige Netz.
Ovid
Ein eisiger Ostwind fegte über die Hafenstadt am Schwarzen Meer. Anfang März hatte es in Constañta noch einmal heftig geschneit, und der Schnee knirschte unter den Sohlen. Er trat von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten. Wenn er erst einmal an Bord des Frachters war, gab es hoffentlich einen geschützten Platz, an dem er bis Istanbul verweilen konnte. Später dann, auf dem anderen Schiff, das ihn nach Triest bringen sollte, würde er, wie man ihm versprochen hatte, ohnehin besser untergebracht werden. Zuvor aber mußte er ohne Paß aus Rumänien ausreisen.
Es war kein großes Problem gewesen, unbemerkt auf das hellbeleuchtete Freigelände des Hafens zu kommen. Im Schatten der haushoch aufgestapelten Container warteten sie schweigend auf das Signal, das Punkt zwanzig Uhr dreißig von dem Schiff an der Mole kommen sollte, auf das hin Dimitrescu so schnell er konnte das Fallreep hinaufrennen mußte. Am Ende der Reise würde er zehntausend Dollar bekommen – abzüglich der Kosten seines Begleiters, der bereits vom Vorschuß fünfhundert einbehalten hatte. Zehnmal soviel wie das durchschnittliche Monatseinkommen, das man in dieser Zeit in Rumänien verdienen konnte – wenn man Arbeit hatte.
Sie hatten sich erst vor kurzem kennengelernt. Der Vermittler, ein öliger Typ in einem billigen Anzug, hatte nicht lange gebraucht, um ihn von dem Geschäft, wie er es nannte, zu überzeugen. Er wußte nicht, daß Dimitrescu schon seit Tagen nach ihm gesucht hatte. Eine Niere, so hatte der Vermittler erklärt, sei belanglos für einen Menschen, der über zwei gesunde verfügt, aber unendlich wertvoll für einen anderen, der an zwei kranken leidet. Die Ermittlung der Blutgruppe und der immunologische Test waren schnell gemacht. Der Vermittler war auf Dimitrescu angesetzt worden, nachdem dessen Zwillingsbruder Vasile von seiner Reise nicht zurückgekommen war.
Die Familie hatte Vasile schon längst zurückerwartet und jeden Tag gehofft, er würde endlich wieder den Treppenaufgang des zugigen und schlechtbeheizten Plattenbaus am Stadtrand von Constañta heraufkommen, ein bißchen müde vielleicht, aber lachend, mit einem Bündel Dollarscheine in der Hand in die Wohnung treten, in der die beiden Familien der Zwillinge wohnten und aus der er seine Frau und die drei Kinder endlich herausholen wollte. Jedesmal, wenn sie Schritte im Treppenhaus hörten, flackerte Hoffnung auf, und die anschließende Sorge, daß ihm etwas zugestoßen war, wurde täglich größer. Nie zuvor hatte er sie ohne Nachricht gelassen, wenn er länger fort war, um Geld in einer anderen Stadt zu verdienen. Vasile hatte nicht einmal seiner Frau verraten, warum er weggefahren war. Nur Dimitrescu hatte er eingeweiht. Dessen Versuch, ihm die Sache auszureden, scheiterte. Der Verdienst war hoch, und Vasile sah darin den einzigen Ausweg, der desaströsen Situation zu entkommen. Viele hatten vor ihm die Reise nach Istanbul gemacht, wo die Eingriffe vorgenommen wurden. Dort gab es eine illegale Klinik neben der anderen, die häufig ihren Standort wechselten, bevor die nicht besonders aktiven Behörden sie entdecken und ausheben konnten. Das Geschäft war lukrativ, und gutausgebildete, skrupellose Spezialisten versorgten die Kundschaft aus dem Westen oder dem Nahen Osten schnell und zuverlässig.
Noch bevor Dimitrescu den Mann fand, der Vasile vermittelt hatte, kam die schreckliche Nachricht. Eines Abends tauchte Cezar auf, ein entfernter Verwandter, der als Fernfahrer sein Geld verdiente und viel in der Welt herumkam. Sie hatten ihn lange nicht gesehen, und zunächst wußte keiner, was er wollte, doch irgendwann zog er ein zerknicktes Foto aus der Jackentasche und legte es auf den Tisch. Vasiles Frau schlug die Hände vors Gesicht und stieß einen langen klagenden Schrei aus. Cezar erzählte, daß ein Polizist in Triest ihm das Foto gegeben habe. Vasile war tot. Dimitrescus Hände zitterten, als er das Foto an sich nahm und die Karte des Polizisten, die der Verwandte ihm gab.
Noch eine knappe Viertelstunde mußten sie sich zwischen den Containerreihen verborgen halten. Dimitrescu kramte eine Packung Zigaretten aus der Tasche seiner Jacke aus grobem Filz und bot dem Vermittler eine an. Das ist nur fair, dachte er. Sein Entschluß stand fest. Er gab dem anderen Feuer, der ihm gleich wieder den Rücken zudrehte und zum Schiff hinüberschaute. Sein Atem, vermischt mit dem Rauch, stand in der eiskalten Luft.
Dimitrescu zog die Drahtschlinge mit den beiden Griffen, die er am Nachmittag daran befestigt hatte, aus der Jackentasche. Blitzschnell legte er sie dem anderen um den Hals und zog zu. Arme und Hände des Vermittlers ruderten hilflos ins Leere. Er bekam Dimitrescu nicht zu fassen, der mit einem letzten kräftigen Ruck an der Schlinge riß. Der Mann sank wie ein Sack zu Boden. Dimitrescu warf den Draht weg und umfaßte den Kopf des anderen mit beiden Händen. Die Halswirbel knackten laut, als sie brachen.
Als sein Bruder Vasile und er noch als Kampftaucher von der Marine bezahlt wurden, hatten sie weniger Sorgen. Auch wenn der Sold nicht üppig war, so kam er doch meist regelmäßig – bis der rumänische Staat ihn und viele Berufskollegen nicht mehr bezahlen konnte. Damit begann das Unglück auch für sie. Doch Dimitrescu hatte gelernt, wie man schnell und geräuschlos jemand aus dem Weg räumte. Es ist wie Schwimmen oder Fahrradfahren, hatte er früher manchmal gescherzt: Wer es einmal kapiert hatte, vergaß es nie wieder.
Der Tod seines Bruders würde nicht ungesühnt bleiben. Dimitrescu würde seinen Spuren folgen, bis zuletzt. Der Vermittler hatte die Reise geplant, er war der erste. Dimitrescu durchsuchte flüchtig die Taschen des Mannes und zog ein paar Geldscheine aus einem Portemonnaie, das er achtlos in den Schnee warf. Die Spuren waren ihm egal, es war nicht anzunehmen, daß die Behörden lange ermittelten. Er schaute ein letztes Mal auf den Toten, spuckte aus und schnippte seine Zigarette in die Dunkelheit. Dann sah er das Lichtzeichen über dem Fallreep des Schiffs aufblitzen. Dimitrescu rannte los. Morgen käme er in Istanbul an, einige Tage später dann in Triest. Zwar brauchten Rumänen seit dem Jahreswechsel kein Visum mehr, um nach Westeuropa zu reisen, doch betrug die Wartezeit für einen Paß viele Monate. Die Schiffsreise war der einzige Weg, den Spuren des Bruders zu folgen. Auch wenn die Kontrollen scharf waren, die Hoffnung, bei der illegalen Einreise nicht erwischt zu werden, war größer. Täglich kamen Hunderte von LKWs über die Istanbul-Verbindung nach Triest. Die Organisation hatte die Sache gut im Griff. Dimitrescu machte sich darüber keine Sorgen, er dachte nur an seinen Plan.
Schreck ist älter als Wut. Seine Wangen waren aschfahl, das Blut schien ihn fast vollständig verlassen zu haben. Er stand nur noch einen halben Meter vor Proteo Laurentis Schreibtisch und brüllte ihn an, als versuchte er wieder Herr der aussichtslosen Lage zu werden.
»Weißt du, was passiert ist? Weißt du, was die Scheißkerle mit mir vorhaben? Das gibt es doch nicht... mein Leben lang hab ich die Drecksarbeit für die gemacht – und jetzt? Aber die werden sich noch wundern, das versprech ich dir!«
Galvano war weiß im Gesicht, seine Augen flackerten wild und in seinen Mundwinkeln klebten helle Spuren von Speichel. Der alte Mann, von dem alle dachten, daß er sein Leben lang nicht aus der Ruhe zu bringen sei und der die Unruhe anderer stets zynisch kommentierte, war kaum in der Lage, einen klaren Satz zu bilden. Seine Hände fuchtelten unablässig in der Luft, die langen knochigen Finger verkrampften sich, und die Haut über den Knöcheln spannte.
Proteo Laurenti schloß die Tür seines Büros, ohne Marietta, seine Sekretärin, die so dringend darauf wartete, mit einem verschwörerischen Blick zu bedenken. Als Galvano eine Pause machte und langsam die zittrigen Hände aneinanderrieb, bot Laurenti ihm einen Stuhl an, doch der Alte schoß bereits eine neue Tirade ab. »Fast sechzig Jahre! Weißt du, was das heißt? Ach, woher auch! Du bist ja viel zu jung.«
So war das in Triest. Sie kannten sich alle schon ewig. Laurenti würde im Herbst sein fünfundzwanzigstes Dienstjahr in der Stadt begehen, er war dem Papst um ein Jahr voraus. Fast ein Vierteljahrhundert war er verheiratet, und genauso lange kannte er seine Sekretärin, die noch nie den Wunsch geäußert hatte, sich von seiner Seite zu entfernen. Und Galvano kannte er ebenfalls, seit er in die Stadt gekommen war. Die wenigen Mordopfer, die Triest während der vergangenen drei Jahrzehnte verzeichnete, waren alle zum letzten Arztbesuch in Galvanos Praxis gelandet, ohne jede Hoffnung auf Heilung. Doch wenigstens spürten sie den Schnitt seines Skalpells nicht mehr, wenn er sie in den weißgekachelten Verliesen der Gerichtsmedizin obduzierte.
»Siebenundfünfzig Jahre«, spuckte der Alte, und Laurenti erinnerte sich an die vielen Geschichten, die Galvano ihm erzählt hatte. Der in Boston geborene Sohn italienischer Einwanderer war im Mai 1945 mit den Alliierten in die von den Deutschen befreite und soeben von den Jugoslawen besetzte Stadt gekommen – und hängengeblieben. Seine Frau war vor einigen Jahren gestorben, und die Kinder, die in Amerika lebten, besuchten ihn jedes Jahr nur einmal während der Badesaison. Seine Enkel waren der Muttersprache ihres Großvaters nicht mehr mächtig und lachten über sein antiquiertes Englisch.
»Sie lagen alle vor mir, du weißt das, Laurenti. Die Toten, die der Krieg übrigließ, die ermordeten Nutten in den Fünfzigern, der Schwule, der von den ägyptischen Seeleuten abgestochen wurde, der arme Diego de Henriquez, der in seinem Lagerschuppen verbrannte. Alle, ausnahmslos. Auch der Tote in den drei Müllsäcken. Und der Harpunierte auf dem Karst! Die Selbstmörder sowieso. Einfach alles, was nicht ordnungsgemäß gestorben war, kam mir unter die Hände. Warum sagst du nichts?«
Sie hatten lange zusammengearbeitet. Der Alte hatte ihn, wie jeden anderen auch, immer geduzt und stets in einer merkwürdig indignierten Art zu verstehen gegeben, daß dies umgekehrt nicht galt. Respekt kannte er weder vor Herkunft, Reichtum oder Macht. Nur vor Gericht war er formvollendet. Galvano war auch dank seiner Menschenkenntnis ein hervorragender Gerichtsmediziner und ließ sich gerne in privaten Angelegenheiten um Rat fragen. Als man ihn schließlich pensionierte, war er am Tag nach der Abschiedsfeier wie gewöhnlich zur Arbeit gekommen. Der bestellte Nachfolger war rasch weggebissen, und als wieder eine Leiche auftauchte, hatte man Galvano erneut vereidigt und weitere siebzehn Dienstjahre arbeiten lassen. Bis heute morgen.
»Irgendwann mußte es dazu kommen«, sagte Laurenti und schaute zum Fenster hinaus.
Galvano blickte ihn aus seinen großen graugrünen Augen an und sank auf den Stuhl. »Schau mich an«, sagte er. »Zeig mir jemand, der besser in Form ist als ich. Bin ich etwa verkalkt, dement, Creutzfeldt-Jakob? Zittern meine Hände? Ich bin gut auf den Beinen, sechs Stunden Obduktion am Stück beeindrucken mich kaum, und die Assistenten kommen noch immer nicht mit der Niederschrift mit, wenn ich diktiere. Also sag mir einen einzigen Grund, weshalb ich jetzt nicht mehr arbeiten soll.«
»Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Immerhin war es der Präfekt selbst, zusammen mit dem Questore. Wenigstens hatten sie genug Ehrgefühl, nicht nur den Personalchef zu schicken. Aber alleine haben sie sich auch nicht getraut, dazu hatte keiner von ihnen die Eier.«
»Und, was haben Sie gesagt? Haben Sie etwa nicht verhandelt?« Laurenti wußte genau, daß dies eine rhetorische Frage war, und stellte sich lebhaft vor, wie Galvano die beiden Unglücksboten verbal gelyncht hatte.
»Was glaubst denn du? Ich habe alle Fälle aufgezählt, mit dem zugehörigen Jahr und der Todesursache. Aber die wissen ja nichts. Unbeleckte Jungspunde!« Der Präfekt war in der Tat erst vor sechs Jahren nach Triest berufen worden, der Questore dagegen war schon viel länger hier. Doch aus Galvanos Sicht waren sie blutige Anfänger. »Am Ende haben sie wenigstens versprochen, mich in schwierigen Fällen zu konsultieren. Aber mein Büro muß ich bis heute abend räumen. Doch die werden sich wundern, darauf kannst du dich verlassen.«
Es war nicht der erste Versuch, den Alten definitiv in den Ruhestand zu schicken, obwohl man ihm, abgesehen von seiner Art, lebende Menschen zu behandeln, nichts vorwerfen konnte, außer daß er zu alt war. Laurenti wußte, daß es keine Bosheit der Vorgesetzten war. Es durfte einfach keinen zweiundachtzigjährigen Gerichtsmediziner geben, und damit basta. Aber er verspürte keine Lust, die Entscheidung zu verteidigen und damit einen erneuten Ausbruch Galvanos zu riskieren. Auch für ihn war es lästig, sich an einen Nachfolger zu gewöhnen. Einige der Assistenten, die bisher in Galvanos kaltem Verlies arbeiteten, waren ihm unsympathisch gewesen. Junge Lackel, frisch von der Universität und von großer Überheblichkeit. Andererseits konnten sie bei Galvano auch nicht viel gelernt haben, denn der witterte stets Konkurrenz und verteidigte sein Reich wie ein bissiger Hund.
»Ich helfe Ihnen, Ihre Sachen nach Hause zu schaffen«, sagte Laurenti und schaute auf die Uhr. »Sollen wir gleich losgehen?«
»Du spinnst wohl.« Galvano stand auf. »Ich habe Zeit bis heute abend. Ich verlasse meine Räume keine Minute früher. Wenn du dann immer noch Lust hast, mir zu helfen, kannst du mich gegen achtzehn Uhr abholen.«
Laurenti fragte sich, was Galvano da unten wohl noch tun würde. Vielleicht sprach er ein letztes Mal mit den wenigen Leichen, die in den Kühlfächern auf ihre Bestattung warteten und ab morgen Eigentum seines Nachfolgers werden würden. Vielleicht hielt er noch eine Weile ihre kalten Händchen und küßte sie zum Abschied auf die Stirn, wer weiß. Dem Alten war alles zuzutrauen.
Doch Laurenti machte sich vor allem Sorgen: Was würde Galvano anstellen, wenn er nicht mehr arbeitete? Als er noch draußen an der Küste wohnte, hatte er zumindest einen freien Blick aufs Meer und einen riesigen Garten, den er genießen konnte. Doch inzwischen lebte er in der Stadt. Laurenti fürchtete einen schnellen Verfall, wie er es oft bei alten Leuten beobachtet hatte, die plötzlich ohne Anker dastanden und nicht mehr wußten, woran sie sich festhalten konnten. Nicht nur die Alten, berichtigte er sich. Auf jeden Fall würden er und seine Frau sich vermehrt um Galvano kümmern müssen, was auch nicht die reine Freude war.
»Jeder will mehr Geld, Avvocato. Das ist nichts Neues. Und jeder hat seine Methoden, daran zu kommen«, sagte Adalgisa Morena, die Hauptaktionärin der Klinik »La Salvia«. »Für uns ist es kein Problem, die ganze Klinik für die plastische Chirurgie zu nutzen. Der Markt ist gigantisch. Die Methoden werden immer ausgefeilter, und die Versuche mit den neuen Materialien sind vielversprechend. Wir haben inzwischen einen so guten Ruf, daß wir ohnehin bald anbauen müßten, weil die Warteliste immer länger wird. Und risikofreier ist es auch.« Sie saß leicht vornübergebeugt in dem schwarzen Ledersessel und lächelte freundlich. Ihr Blick streifte über den Mann hinweg, dessen schütteres angegrautes Haar von einem Sonnenstrahl beschienen war. Aber ein Heiliger war er deshalb noch lange nicht.
»Es bleibt dabei, Adalgisa.« Romani war von ihrem Widerspruch unbeeindruckt. »Wir haben unsere Abmachungen. Ihr habt damals zugestimmt, daß sich Petrovacs Gesellschaftsanteil nach fünf Jahren erhöht. Ohne ihn gäbe es dies alles nicht und die Herren Mediziner arbeiteten noch immer an öffentlichen Krankenhäusern. Es gibt nichts zu verhandeln. Wenn ihr erweitern wollt, dann tut das. Ich helfe euch gerne, wenn es darum geht, die nötigen Leute davon zu überzeugen, die Bürokratie abzukürzen. Doch das hat nichts mit den Anteilen zu tun.«
»So einfach ist das nicht«, widersprach Professor Ottaviano Severino, der bisher geschwiegen und seiner Frau die Verhandlung überlassen hatte. Er fand, es war Zeit, dem Anwalt deutlich zu sagen, woher der Wind wehte. Adalgisa schickte ihm dafür giftige Blicke hinüber, die er geflissentlich übersah. »Die Leistung erbringen wir. Erfahrene, hochangesehene Chirurgen und Transplanteure. Wenn wir nicht mitmachen, kann Petrovac schauen, woher er das Geld bekommt. Was glaubst du eigentlich, weshalb sich die High-Society bei uns auf die Warteliste setzen läßt? Sicher nicht wegen Petrovacs Anteilen!«
»Willst du wirklich, daß ich ihm das so sage?« Romani legte die Stirn in Furchen und grinste. »Dann könnt ihr morgen schließen. Er hat bedeutend weniger zu verlieren als ihr. Du weißt, ich selbst habe nichts davon. Im Gegenteil, eine solche Auseinandersetzung täte mir leid, denn ihr seid gute Mandanten meiner Kanzlei. Und Petrovac auch. Aber er sitzt nun mal am längeren Hebel, das war von Anfang an klar.«
»Und wie, mein lieber Romani, soll das gehen? Petrovac glaubt doch nicht wirklich, wir würden nach der Aufbauarbeit einfach zurückstecken? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie hoch unsere Investitionen sind? Wenn wir nicht laufend auf dem neuesten Stand sind, verlieren wir Patienten.« Adalgisa Morena schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Drohungen«, zischte sie, »verbessern auch deine Position nicht, Romani!«
»Ich habe damit nichts zu tun«, protestierte der Anwalt.
»Du oder Petrovac, das ist doch einerlei«, sagte Severino und zog die Schultern zusammen, als wäre ihm kalt.
»Immer diese Vorurteile! Ich bin nur euer Vermittler.«
»Paß auf, Romani, und du, Ottaviano, schweig«, sagte Adalgisa Morena, als sie sah, daß ihr Mann Luft holte. Sie schlug die Beine übereinander und lehnte sich mit einem gefährlichen Lächeln im Sessel zurück. »Das größere Risiko tragen letztlich wir. Petrovacs bisheriger Anteil deckt nicht nur seine Kosten für die Lieferung des Rohmaterials, sondern bringt ihm jedes Jahr einen dicken Batzen Geld zusätzlich. Ich sehe ein, daß er keine Abstriche machen will, und wenn seine Kosten gestiegen sind, dann müssen wir uns daran beteiligen. Der Anteil am Gewinn bleibt allerdings unangetastet. Sag ihm das. Und jetzt laß uns gefälligst die anderen Dinge besprechen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Ihr Tonfall war nur unmerklich schärfer geworden, so wie es sich gehört, wenn man ein gefälliges Entgegenkommen ausdrückt, zu dem man sich nicht verpflichtet sieht. Adalgisa verkörperte wieder einmal die gottgefällige Gnade. Damit konnte Romani leben. Der Professor allerdings bekam jeden Tag zu spüren, wer den Ton in der Klinik angab, und schluckte schwer daran. Allerdings hatte seine Frau bisher auch geduldet, daß er immer weniger arbeitete, seine Zeit vielmehr den Pferden und den Rennen widmete. Dafür aber stand der junge Schweizer Chirurg, der seit einem Jahr im Team war, bei ihr hoch im Kurs. Und für die besonders heiklen Fälle war Leo Lestizza da, ihr Cousin, der vierte Aktionär der Klinik. Er saß bisher schweigend in der Runde und ließ Adalgisa verhandeln. Er kannte ihre Vorzüge genau. Zu ihrem messerscharfen Verstand gesellte sich die Kaltblütigkeit der erfolgreichen Geschäftsfrau, deren finanzieller Ehrgeiz keine Grenzen hinnahm.
Nachdem der Anwalt mit einer Verhandlungsbasis ausgestattet war, die Petrovacs Ehre nicht verletzte, gingen sie zu den anderen Punkten über, für die sie die Kompetenz von Romanis Kanzlei benötigten. Ein neuer Hochglanz-Prospekt sollte bald in Druck gehen und mußte auf die juristischen Aussagen überprüft werden. Der internationale Konkurrenzkampf in der Schönheits-Chirurgie tobte heftig, und es war immer damit zu rechnen, daß eifersüchtige Kollegen mit allen Mitteln versuchten, Marktanteile gutzumachen, und sei es durch Wettbewerbsklagen. Negative Schlagzeilen schreckten die Kunden ab.
Adalgisa erläuterte die Begriffe, die Romani nicht geläufig waren. Waist-Hip-Ratio bedeutete nichts anderes als das Verhältnis von Taillen- zu Hüftumfang, das derzeit als Idealfall anzustrebende Maß betrug 0,7. Facelift und Stirnlift klangen verständlich, nur durfte niemand sich konkret vorstellen, daß ihm bei letzterem schlicht der Skalp von der Schädeldecke abgezogen und neu gespannt wurde. Der Haaransatz rutscht dabei immer weiter nach hinten. Unter Peeling verstand man eine Säurekur fürs Gesicht, und aus der Behandlung mit dem Kohlendioxinlaser gingen die Patienten mit Schmerzen, geschwollener Birne und Gesamtkopfverband, um fünf Tage darauf zu warten, daß Frischhaut nachwuchs. Der Kopf ein Schorf. Lipojet hieß ein neues Gerät zur Fettabsaugung, Botox nannte man eine amerikanische Wunderwaffe, ein ekliges Bakteriengift, das, unter die Gesichtsfalten gespritzt, die Stirn einfrieren ließ und Wunder bewirken sollte. Kollagen hatte nichts mit Kunst, sondern mit künstlich zu tun: eine leimartige Flüssigkeit, die, aus Kälberhaut destilliert, bisher als Füllstoff für alles herhielt, aber Konkurrenz bekam von neuen Materialien, die aus Hühnerknorpel, Hahnenkämmen, Milchsäure und Plexiglas gewonnen wurden. Derzeit letzter Schrei jedoch war die Eigenfettmethode, bei der ein Stück Hängebauch in Hängebusen und anderswohin verspritzt wurde oder ein Bruchteil des Bierbauchs in lasche männliche Hautlappen wanderte. Natürlich mußte all das in schöne Worte gefaßt werden, die den Kunden den Wunsch nach renovierter Ästhetik nicht verdarb und juristisch nicht angreifbar war. Außerdem mußte jede Haftung ausgeschlossen werden, für den Fall, daß der Patient nach der Operation schlechter aussah als zuvor.
»Und welches besondere Problem plagt euch noch?« fragte Anwalt Romani, nachdem er alles verstanden hatte und auf den letzten Punkt zu sprechen kam, für dessen Klärung Adalgisa ihn gerufen hatte.
Die drei Klinikchefs tauschten Blicke. Wieder war es Adalgisa, die redete. »Wir hatten unerwünschten Besuch.«
»Von wem?«
»Ein Journalist, nehme ich an. Zuerst stellte er sich als Kunde vor, via E-Mail, und ließ sich Unterlagen schicken an eine Adresse in Paris. Der erste Franzose, der anfragte. Das hätte uns schon skeptisch stimmen müssen, denn dort sitzt massive Konkurrenz. Eine Woche später meldete er sich telefonisch zu einem Gesprächstermin an und sagte, er wolle seiner Frau ein Geschenk machen: Totalrenovierung. Er brachte sogar ihre Fotos mit. Absolut unüblich. Sie ist eine von denen, die früh damit anfangen, so bleiben zu wollen, wie sie sind. Das dachte ich jedenfalls und beschrieb ihm Behandlungsmethoden, Haus, Service, Kosten und so weiter. Bevor er ging, fragte er nach den schriftlichen Lebensläufen der Ärzte, die ich ihm natürlich nicht gab. Aber ich erzählte ihm etwas ausführlicher über uns. Er bedankte sich höflich und sagte, er wolle es sich überlegen. Nach einigen Tagen meldete er sich tatsächlich wieder und bat darum, das Gelände besichtigen zu dürfen. Ich lehnte ab, mit dem Hinweis auf die Diskretion, die wir unseren Patienten garantieren, und verwies ihn auf den virtuellen Rundgang auf unserer Web Site. Er schien das zu akzeptieren und ließ sich nicht mehr blicken. Seltsam ist nur, daß sich Leo seit damals verfolgt fühlt.«
»Es ist jedesmal ein anderer Wagen«, sagte Leo Lestizza. »Und obwohl der Fahrer versuchte, genügend Abstand zu halten, fiel er mir auf. Die beiden letzten Male konnte ich die Kennzeichen notieren.«
»Gestohlen oder Leihwagen«, sagte Romani. »Das haben wir schnell raus. Aber warum sollte dich jemand verfolgen?«
»Das ist es eben. Ich weiß es nicht.«
»Journalist, sagtest du?«
Adalgisa nickte.
»Ich kümmere mich darum. Macht euch keine Sorgen. Im schlimmsten Fall kostet es ein paar Dollar, jemanden loszuwerden. Petrovac wird helfen, wenn es sein muß. Aber seid die nächste Zeit besonders wachsam. Vielleicht solltet ihr sogar eine kleine Pause einlegen.«
»Erzähl das Petrovac«, sagte Professor Severino und erntete einen vernichtenden Blick seiner Frau.
»La Salvia« war eine weit über die Grenzen hinaus bekannte Privatklinik, die vor fünf Jahren mit zahlreichen steuerlichen Abschlägen und einigen Kompromissen in bezug auf Bebauungsplan und Naturschutzgesetz auf dem Karst gebaut worden war. Es ging um neue Arbeitsplätze. Romani ließ seine Kontakte spielen und übergab den einen oder anderen gutgefüllten Briefumschlag, um die Entscheidungen zu beschleunigen. Aber auch die drei Inhaber hatten beste politische Beziehungen und waren angesehene Bürger der Stadt. Ihre Namen standen jedes Jahr auf vorderen Plätzen der in der Presse veröffentlichten Liste der regionalen Höchstverdiener. Adalgisa Morena war eine mit allen Wassern gewaschene Unternehmerin und hatte eine unbezähmbare Leidenschaft für zeitgenössische Kunst. Ihre Sammlung zierte fast alle Räume der Klinik, insbesondere die Fotografie und die jüngeren Maler hatten es ihr angetan. Soeben hatte sie »Paradies« des in Berlin lebenden Argentiniers Miguel Rothschild erstanden, weil sie den Titel so passend fand. Ob die Patienten die Werke mochten, interessierte sie nicht. Ihr Mann, Professor Ottaviano Severino, besaß fünfzehn Rennpferde, von denen das eine oder andere sogar auf den internationalen Rennen in Baden-Baden, Clignancourt und Ascot lief. Und der dauergebräunte Leo Lestizza war ein hervorragender Chirurg mit Nerven wie Drahtseile, von dem niemand wußte, wie er seine Freizeit verbrachte, obwohl er öfter ankündigte, für ein paar Tage zu verreisen.
Die Patienten von »La Salvia« wurden Kunden genannt und kamen vorwiegend aus Italien, Österreich, Deutschland und der Schweiz, um ein paar Korrekturen an ihren von den Jahren gezeichneten Körpern vornehmen zu lassen. Silikonpölsterchen in Brüsten und Lippen, glattgezogene Gesichtshaut, abgesaugtes Fett, aber auch die komplette Überholung des Beißapparats unter Vollnarkose gehörten zum Standardprogramm des international besetzten Ärzteteams. Und selbst Glatzen wurden durch Haartransplantationen wieder ansehnlich gemacht.
Natürlich gehörte es zum ehernen Gesetz der Klinik, die illustren Gäste vor der Öffentlichkeit hermetisch abzuschirmen und ihre Namen nicht preiszugeben. Wenn sie nicht mit dem eigenen Wagen anreisten, wurden sie am Flughafen von einer Luxuslimousine mit dunkel getönten Scheiben abgeholt, hinter der sich eine Viertelstunde später die schwere Stahltür schloß, die das Klinikgelände vor unerwünschten Blicken schützte. Vor einem Nebeneingang des dreistöckigen Hauptgebäudes wurde der Gast abgesetzt und direkt in das Empfangszimmer geführt. Nicht einmal die anderen Patienten konnten den Neuankömmling sehen, wenn ihm daran gelegen war. Diskretion war die Voraussetzung für glänzende Geschäfte. Die wenigsten der Patienten verließen je das Gelände und sahen nichts von dem kaum zehn Minuten Fußweg entfernten, idyllischen Dorf Prepotto, in dem die vier wichtigsten Winzer des Karsts beheimatet waren. Aber sie mußten sich ohnehin erholen: von Burn-outs, die das Managerleben mit sich brachte, oder von der Langeweile des großen gesellschaftlichen Lebens und den Paparazzi, die hinter jeder Ecke lauerten. Golf- und Tennisplatz, Schwimmbäder, Masseure, Diätspezialisten und Visagistinnen, das ganze Beautyprogramm war auf dem großzügigen Gelände vorhanden. Und auch einen Reitstall mit ruhigen Pferden gab es. Arbeitsplätze für einheimisches Pflegepersonal allerdings hatte man kaum geschaffen. Viele der Assistenzärzte und Schwestern kamen, so munkelte man, aus dem östlichen Ausland und waren meist nur für drei Monate hier, mit Touristenvisum. Sie wurden wahrscheinlich schwarz bezahlt und von Mittelsmännern nach Bedarf geholt und wieder weggeschafft. Angeblich mußten alle, die in »La Salvia« arbeiteten, die Hauptbedingung der Klinik unterschreiben, bevor sie beginnen durften: eisernes Schweigen.
Und wieder diese Angst und dieser Wachtraum, der immer wieder das wiederholte, was längst unwiderruflich geschehen war. Wieder lag er seit vielen Stunden wach auf dem Diwan und war in Schweiß gebadet. Er fror, obgleich der Raum überheizt war. Er sah die Haarrisse im Stuck der Zimmerdecke und folgte ihnen mit den Augen. Eine feine, staubgraue Spinnwebe tanzte sanft in der aufsteigenden Heizungsluft. Er trug eine graue Anzughose, ein zerknittertes, weißes Hemd, dessen Kragen durchgeschwitzt war und gelbliche Ränder zeigte, und eine Weste, die zur Hose paßte. Obgleich er der schreibenden Zunft angehörte, legte er Wert auf gute Kleidung. Jeans trug er nur bei der Gartenarbeit, selbst für einen Spaziergang auf dem Karst zog er in der Regel Anzüge vor. Die Bartstoppeln, die die blasse, transparent wirkende Haut seiner eingefallenen Wangen bedeckten, standen dazu in krassem Gegensatz. Seit drei Tagen hatte er nichts gegessen und kaum etwas getrunken. Sein Gaumen klebte und ein pelziges Gefühl überzog die Zunge. Er mußte warten, bis endlich ein ohnmächtiger Schlaf die Bilder vertrieb.
Vor eineinhalb Jahren hatte er die Tabletten, die ein befreundeter Arzt ihm verschrieben hatte, weggeworfen. Er war sich sicher gewesen, mit dem Umzug in die andere Stadt, in ein anderes Land, auch diese Attacken bewältigen zu können. Die Fortschritte seiner Nachforschungen hatten ihm neue Kraft gegeben.
Erst vor einer Woche erhielt er eine letzte wichtige Information, die an der Richtigkeit seines Verdachts keinen Zweifel mehr ließ. Er vervollständigte daraufhin das Dossier, das mit seinen Belegen, Fotos und Dokumenten inzwischen den Umfang und die Detailgenauigkeit einer staatsanwaltlichen Beweisführung angenommen hatte. Er war weit vorgedrungen bei seinen Ermittlungen und wog sich in Sicherheit. Ihm als Unbekanntem könnte niemand auf die Spur kommen. Seine Verkleidungskünste hatte er immer weiter perfektioniert und auch den Autovermietern der Gegend guten Umsatz verschafft. An Geld mangelte es ihm nicht, und körperlich war er dank seines täglichen, disziplinierten Trainings weit besser in Form als andere Mittvierziger.
Seit dem vorletzten Frühjahr hatte er sich nur noch auf diese Recherche konzentriert. Er war aus seinem früheren Leben verschwunden und hatte die meisten Kontakte zu den Redaktionen und seinen Bekannten abgebrochen. Nur mit einer Handvoll Freunden hielt er Verbindung, wenn er sie für seine Nachforschungen brauchte. Als er merkte, daß man ihn nach dem dritten Besuch in den Läden Triests und des Umlands wiedererkannte, freundlich begrüßte und über das Wetter sprach, zog er für seine Einkäufe Supermärkte und Kaufhäuser vor. Das Ende seiner Ermittlungen stellte ihn auf eine harte Probe.
Sein Alptraum begann immer mit der gleichen Szene, die unbeweglich vor ihm stand und erst wich, wenn sich andere Bilder über sie schoben. Eines nach dem anderen. Langsamer als jede Zeitlupe. Der geöffnete Körper, den er unbedingt sehen wollte, obgleich man mit allen Mitteln versucht hatte, ihn davon abzubringen. Dennoch hatte er sich Zugang verschafft: Bekleidet mit einem Arbeitskittel und Gummischuhen des Reinigungspersonals, war er schließlich zu den Kühlkammern der Gerichtsmedizin im 6. Pariser Arrondissement vorgedrungen. Dort fand ihn die echte Putzkolonne vor, zusammengesunken über dem Leichnam einer Frau, deren Torso ein schlampig zugenähter, rotblau geränderter Schnitt vom Schambein bis zum Hals entstellte. Die Anzeige wegen Hausfriedensbruch wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt, irgend jemand hatte ein Einsehen mit ihm.
Der Bestattungsunternehmer, der den Zinksarg aus der maltesischen Hauptstadt Valletta am Flughafen Charles de Gaulle entgegengenommen hatte, mußte die Polizei verständigen, nachdem einem seiner Mitarbeiter Zweifel daran gekommen waren, daß mit der Leiche alles ordnungsgemäß zugegangen war. Lorenzo Ramses Frei erfuhr davon durch den Anruf eines Pariser Kriminalbeamten, als sie schon zur Obduktion in der Gerichtsmedizin lag. Mit dem Begriff »Verkehrsunfall«, der in den amtlichen Papieren als Todesursache stand, waren die Spuren am Körper nicht zu vereinbaren.
Ein neues Bild: Es war ein lauer Vorfrühlingstag, der heiter und vielversprechend begonnen hatte. Wie an jedem der letzten Tage, die sie für eine Konferenz europäischer Universitätsdozenten auf Malta verbrachte, rief sie vor dem Frühstück an. Ramses war mit dem Telefon auf die Dachterrasse hinausgetreten und schaute über die Dächer des 6. Arrondissements. Begeistert erzählte er ihr von der klaren Luft und der weiten Sicht. Matilde ließ ihn reden, bis sie mit weicher Stimme sagte, wenn sie nicht alles täusche, bekämen sie ein Kind. Was für eine Nachricht! Ramses stieß einen kräftigen Freudenschrei aus. Etwas später am Tag, nachdem er glücklich und erschöpft von einem ausgiebigen Spaziergang bis hinüber nach Montmartre zurückkehrte, fand er einen Brief vor, in dem man ihn bat, Mitglied des ständigen Beirats der Journalisten-Akademie zu werden. Bezahlt natürlich. Er wäre mit Abstand der Jüngste in dieser Runde. Es war nichts anderes als eine Auszeichnung für seine bisherige Arbeit und leichtverdientes Geld. Es genügte, sich zweimal im Jahr dort sehen zu lassen und sich monatlich über die Überweisung zu freuen. Ramses schäumte über von Glück und hinterließ die zweite gute Neuigkeit des Tages auf Matildes Hoteltelefon.
Doch Matilde meldete sich am Abend nicht. Der Hotelportier sagte, sie sei noch nicht zurück. Die gleiche Auskunft um Mitternacht, um eins und um zwei. Ihr Mobiltelefon war abgeschaltet. Und auch am nächsten Morgen war kein Lebenszeichen von ihr zu vernehmen. Die Auskunft im Hotel blieb stets dieselbe: Matilde Leone war über Nacht nicht zurückgekommen. Nach dem Mittagessen fuhr er zu ihrer Wohnung hinüber, um in den Kongreßunterlagen nach der Telefonnummer des Veranstalters zu suchen. Schließlich hörte er mit schlechtem Gewissen ihren Anrufbeantworter ab. Die elfte Nachricht versetzte ihn in Panik.
Der Flug über Rom dauerte viereinhalb Stunden und kostete ein Vermögen. Dennoch saß er unbequem und lehnte auch den Champagner ab. Die Maschine landete gegen Mittag auf dem maltesischen Flughafen Laqua. Eine Mitarbeiterin des Konferenzleiters brachte ihn direkt zum Krankenhaus. Am Empfang wurde er an die Abteilung für innere Medizin verwiesen, wo er lange warten mußte, bis endlich ein arroganter, sonnengebräunter Arzt seines Alters auf ihn zukam, dessen Englisch mit unverkennbar italienischem Akzent gefärbt war. Am Revers seines Kittels hing ein Plastikschild mit seinem Namen, vor dem ein großes Professor zu lesen war.
»Sind Sie ein Angehöriger der Matilde Leone?« fragte der Arzt kalt.
»Sie ist meine Lebensgefährtin und erwartet ein Kind von mir«, sagte Ramses ungeduldig. »Wie geht es ihr? Kann ich zu ihr?«
»Sind Sie verheiratet?«
»Ich sagte doch schon, daß sie meine Lebensgefährtin ist. Wo ist sie?«
»Ich darf an Fremde keine Auskünfte geben. Privacy.« Der Arzt wandte sich ab, doch Ramses faßte ihn an der Schulter.
»Sie sagen mir jetzt sofort, was mit Matilde Leone ist, sonst...«
Der Arzt schaute ihn unbeeindruckt an und griff nach Ramses’ Handgelenk. »Sie ist tot«, sagte er kalt.
»Was«, schrie Ramses und riß ihn am Kittel herum. »Was haben Sie gesagt?«
»Wenden Sie sich an die Botschaft. Verlassen Sie jetzt sofort das Krankenhaus.«
»Ich will zu ihr!« Es war ein verzweifelter Schrei. Ramses schleuderte den Mann gegen die Wand, umfaßte seine Kehle mit der Linken und bohrte ihm die rechte Faust ins Gesicht. Zweimal, dreimal. Das Blut schoß aus der Nase des Arztes, und die Oberlippe war gerissen. Drei kräftige Sanitäter rangen Ramses zu Boden und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Er wehrte sich nicht. Eine halbe Stunde später saß er mit Handschellen gefesselt auf einem Stuhl im Polizeipräsidium von Valletta und wurde verhört. Nach zwei Tagen und nach Hinterlegung einer Kaution in der Höhe der Höchststrafe brachte man ihn direkt zum Flughafen, wo er an allen anderen Passagieren vorbei zur Maschine nach Rom geführt wurde.
Und noch ein Bild: »Strohleiche«, sagte der Kommissar in Paris während des Gesprächs, das er sehr behutsam mit Ramses führte. »Wir nennen so etwas Strohleiche. Das heißt, die Organe wurden entnommen und der entstandene Hohlraum mit Zellstoff ausgestopft. Auf unsere Anfrage hin erfuhren wir, daß Mademoiselle Leone bei dem Verkehrsunfall so schwere Verletzungen erlitten hatte, daß die inneren Organe zerstört wurden. Wir kennen das inzwischen. Es kommt immer häufiger vor, daß wir uns damit befassen müssen. Leichen, die ohne Organe aus dem Ausland zurückkommen, sind keine Einzelfälle mehr. Überwiegend aus Ländern der Dritten Welt, aber auch aus Europa. Meistens erfahren die Angehörigen es gar nicht. Palmenblätter oder Zellstoff eben, wie in ihrem Fall. Man weiß nicht, was dahintersteckt. Wirklich das, was man befürchtet, oder nur Schlamperei in einem Krankenhaus? Ich an Ihrer Stelle würde die Botschaft einschalten, um Näheres zu erfahren.«
»Matilde erwartete ein Kind«, sagte Ramses tonlos.
Der Polizist warf einen Blick auf die Papiere und schüttelte den Kopf. »Die Obduktion ergab, daß alle Organe entnommen wurden.« Er sprach nicht von der Möglichkeit, daß der Fötus in der Forschung gelandet sein konnte.
Ramses hielt sich am Tisch fest, als er aufstand. Wortlos steuerte er zur Tür.
»Warten Sie! Ich bringe Sie nach Hause.«
»Danke«, sagte Ramses leise. »Es ist besser, ich gehe zu Fuß.«
Mit offenem Mantel ging er eng an den Hauswänden entlang durch die Straßen von Paris. Er sah die Narbe vor sich, die ihren Körper entstellte, das Wort Strohleiche hallte in seinen Ohren. Die Botschaft! Er mußte die Botschaft einschalten. Aber wer war dafür zuständig? Ramses war Schweizer, Matilde Italienerin, sie lebten in Paris in zwei verschiedenen Wohnungen, obwohl sie seit vier Jahren zusammen waren – unverheiratet. Was würde ihm der italienische Botschafter schon sagen?
Sie hatten sich während einer Tagung in Triest kennengelernt. Matilde Leone verbrachte die Ferien in ihrer Heimatstadt und hielt einen Vortrag während der alljährlich im Frühsommer stattfindenden »James Joyce Summer School«, zu der sich die internationalen Anhänger des Autors regelmäßig einfanden. Ramses ließ sich von »Le Monde« die Reise bezahlen und verfaßte dafür einen sehr oberflächlichen Artikel über die Tagung, der kaum über die Zusammenfassung des Programms hinausging. Schnell stellten sie fest, daß sie beide in Paris lebten, und Matilde lachte über den zweiten Vornamen auf seiner Karte. Sie wollte wissen, wie es dazu gekommen war. Lorenzo Ramses Frei erzählte ihr von seinem Vater, der ein närrischer Ägyptologe war und in seiner Wohnung im Zürcher Seefeld sogar einen echten Sarkophag mit Mumie in seinem Arbeitszimmer aufgebahrt hatte. Lorenzos Schulfreunde hatten ihm daraufhin diesen Spitznamen verpaßt, den er nie wieder loswerden sollte. Selbst sein Vater nannte ihn so.
Matilde gefiel die Geschichte, und als sich die Runde der Joyceaner nach dem Abendessen auflöste, fragte sie Ramses, ob er noch Lust auf einen Digestivo hätte. Das war vor mehr als vier Jahren.
Nur ihre Familie hatte das Recht, offiziell Nachforschungen zu verlangen. Er verständigte sie telefonisch. Am nächsten Tag war Ramses über München nach Triest geflogen. Er hatte Mühe, ihnen die Wahrheit zu sagen. Doch schließlich stellte Matildes Vater ihm eine Vollmacht aus, die anderntags von einem Notar beglaubigt und von vereidigten Übersetzern in drei Fremdsprachen übertragen wurde. Sie besprachen auch die Formalitäten des Begräbnisses. Er konnte sie nicht davon überzeugen, Matilde in Paris zu bestatten. Die Familie wollte sie bei sich im Grab der Dynastie auf dem Friedhof Sant’Anna in Triest.
Der Abend hatte sich herabgesenkt. Wie ein Schriftband lief der Name dieses Arztes vor seinen Augen ab. Lorenzo Ramses Frei starrte noch immer an die Decke des Salons. Er lag im Halbdunkel unverändert auf dem Diwan.
»Jetzt habe ich dich«, sagte Ramses leise.
Er sah das Bild des Mannes vor sich, so wie er ihn zum ersten Mal in Malta gesehen hatte, mit der Haarsträhne, die ihm ins Gesicht hing, und der blutigen Nase. Erst gestern hatte er ihn wiedergesehen, als er an der Ampel aus dem Wagen auf der Parallelspur herüberschaute, die Hände in Wildlederhandschuhen auf dem Lenkrad liegend.
»Du wirst den Rest deines Lebens leiden«, murmelte Ramses.
Und dann überwältigte ihn endlich der Schlaf.