T. Coraghessan Boyle

 

DAS WILDE KIND

 

Erzählung

 

Aus dem Amerikanischen

von Dirk van Gunsteren

 

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Carl Hanser Verlag

Das wilde Kind ist die Titelgeschichte der amerikanischen

Originalausgabe, die 2010 unter dem Titel Wild Child

bei Viking in New York erschienen ist.

Die Übersetzung der restlichen Erzählungen ist in Vorbereitung.

 

eBook ISBN 978-3-446-23525-0

© T. Coraghessan Boyle 2010

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2010

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

www.hanser-literaturverlage.de

www.tc-boyle.de

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

1

 

Im ersten heftigen Herbstregen, als die Blätter wie Münzen zu Füßen der Bäume lagen und die Zweige schwarz vor einem tiefhängenden Himmel glänzten, kehrten einige Männer aus dem Dorf Lacaune in der Languedoc frierend und nass und ohne Beute von der Jagd zurück, als sie vor sich im trüben Licht eine menschliche Gestalt erblickten. Es schien sich um ein Kind zu handeln, um einen vollkommen nackten Jungen, dem Kälte und Regen offenbar nichts ausmachten. Er war mit etwas beschäftigt – wie sich herausstellte, hatte er Eicheln zwischen zwei Steinen geknackt – und bemerkte die Männer zunächst nicht. Doch dann trat einer – Messier, der Dorfschmied, dessen Hände und Unterarme durch die harte Arbeit so dunkel geworden waren wie die eines Indianers – in ein Loch, verlor das Gleichgewicht und stolperte ins Blickfeld des Jungen. Die plötzliche Bewegung schreckte ihn auf. Eben war er noch da und hockte über seinem kleinen Vorrat an rohen Eicheln, und im nächsten Augenblick war er mit der Gewandtheit eines Marders oder Wiesels im Unterholz verschwunden. Nachher war sich keiner der Männer ganz sicher – die Begegnung hatte nur Sekunden gedauert –, doch stimmten alle überein, dass die Gestalt auf allen vieren geflohen war.

Eine Woche darauf wurde der Junge abermals gesehen, diesmal am Rand eines Feldes, wo er Kartoffeln ausgrub und, ohne sie zu kochen oder auch nur abzuspülen, an Ort und Stelle hinunterschlang. Der erste Impuls des Bauern war, ihn zu verscheuchen, aber er hielt inne, denn er hatte Gerüchte von einem wilden Kind gehört, einem Kind des Waldes, un enfant sauvage, und schlich dann näher, um dieses Phänomen besser in Augenschein nehmen zu können. Er sah, dass der Junge tatsächlich noch klein war, höchstens acht oder neun Jahre alt, und mit bloßen Händen und abgebrochenen Nägeln in der Erde wühlte wie ein Hund. Äußerlich schien er normal zu sein, er konnte seine Glieder und Hände gebrauchen und war zu geschmeidigen, selbständigen Bewegungen imstande, dabei aber erschreckend mager. Als der Bauer auf etwa zwanzig Meter herangekommen war, hob der Junge den Kopf und sah ihn an. Wegen des wilden Haarschopfs, der ihm ins Gesicht hing, waren seine Züge nur schwer zu erkennen. Nichts regte sich, nicht die Schafe auf dem Hügel und nicht die Wolken am Himmel. Eine unnatürliche Stille lag über dem Land: Die Vögel in den Hecken hielten den Atem an, der Wind erstarb, ja selbst die Insekten verstummten. Dieser unverwandte Blick – die Augen, so schwarz wie frisch gebrühter Kaffee, das Fletschen bräunlich verfärbter Zähne – war der Blick eines Wesens aus dem Spiritus Mundi: fremd, gestört, hassenswert. Es war der Bauer, der sich abwenden musste.

So begann es. Eine Legende entstand; sie dampfte und köchelte im Herbst des Jahres 1797, des fünften der neuen Republik, und bis ins Frühjahr des darauffolgenden Jahres in jedem Topf des Distrikts. Der Terror war vorüber, der König war tot, und das Leben kehrte – insbesondere in der Provinz – zur Normalität zurück. Die Menschen brauchten ein Geheimnis in ihrem Leben, den Glauben an etwas Unerklärliches, Wunderbares, und viele von ihnen – Pilzsammler und Trüffelsucher, Eichhörnchenjäger und Bauern, gebeugt unter der Last von Reisigbündeln oder Körben voller Zwiebeln und Rüben – hielten im Wald die Augen offen, doch erst im nächsten Frühjahr wurde der Junge erneut gesehen, diesmal von drei Holzfällern, angeführt von dem Schmied Messier, und diesmal verfolgten sie ihn. Sie jagten ihn, ohne nachzudenken, ohne einen Grund, sie jagten ihn, weil er vor ihnen davonrannte. Sie hätten ebensogut etwas anderes jagen können, eine Katze, eine Hirschkuh, ein Wildschwein. Schließlich kletterte er auf einen Baum, wo er fauchend an den Ästen rüttelte und und die Männer mit Zweigen bewarf. Jedesmal, wenn einer von ihnen versuchte, den Baum zu erklettern und den schwieligen Fuß des Jungen zu packen, wurde er getreten und gebissen, bis sie beschlossen, ihn auszuräuchern. Unter dem Baum wurde ein Feuer entzündet, und aus dem tiefen Schlupfwinkel seiner Augen heraus beobachtete der Junge die drei Zweibeiner, diese zottigen, gewalttätigen, seltsam bepelzten, plappernden Tiere. Man stelle sich ihn vor, wie er auf den höchsten Ästen saß, die Haut so zerkratzt und zerschunden, dass sie wie ein schlecht gegerbtes Stück Leder wirkte, die Narbe an der Kehle wie ein gebleichter Riss, sichtbar sogar vom Boden aus, mit baumelnden Beinen und schlaff herabhängenden Armen, während rings um ihn her der Rauch aufstieg.

Man stelle sich ihn vor, denn er selbst war dazu nicht imstande. Er kannte nur das Unmittelbare, spürte nur, was seine Sinne ihm mitteilten. Mit fünf Jahren war er, das kleine, unterernährte, störrische dreizehnte Kind einer störrischen Bauernfamilie, geistig ungeübt und der Sprache eigentlich nicht mächtig, von einer Frau, die er kaum kannte oder anerkannte, der zweiten Frau seines Vaters, in den Wald von La Bassine geführt worden, doch dort hatte sie nicht die Kraft gehabt, zu tun, was sie tun musste, sondern die Augen zusammengekniffen, als sie ihn am Haar gepackt und seinen Kopf so verdreht hatte, dass seine Kehle entblößt war, und so hatte das Küchenmesser sein Ziel verfehlt. Dennoch war der Schnitt tief genug gewesen. Sein Blut hatte auf dem Laub gedampft, er hatte dagelegen, zusammengesunken zu einem kleinen Nest aus Haut und Knochen, die Nacht war hereingebrochen, und die Frau hatte sich durch den Wald entfernt.

Er besaß keine Erinnerung daran, keine Erinnerung daran, dass er umhergestreift war und nach Essbarem gesucht hatte, bis seine Bluse und die grobgewebte Hose zerrissen, zerschlissen und zerfetzt waren, keinerlei Erinnerung. Für ihn gab es nur den Augenblick, in dem er Dinge fangen konnte, die seinen Hunger stillten, Dinge, die keinen Namen und keine besonderen Eigenschaften hatten, außer dass sie vor ihm fliehen wollten: Frösche, Salamander, eine Maus, ein Eichhörnchen, junge Vögel, das süße und bittere Innere von Eiern. Er fand Beeren und Pilze, er aß Dinge, von denen ihm übel wurde, und das schärfte seinen Geruchs- und Geschmackssinn, so dass er Essbares von Ungenießbarem unterscheiden konnte. War er einsam? Hatte er Angst? Glaubte er an höhere Wesen? Niemand weiß es. Nicht einmal er selbst hätte es sagen können, denn er verfügte über keine Sprache, keine Vorstellungen, keine Möglichkeit zu wissen, ob er lebte oder wo er lebte oder warum er dort lebte. Er war wild, ein lebender, atmender Atavismus, und sein Leben unterschied sich nicht von dem irgendeines anderen Waldwesens.

Der Rauch reizte seine Augen und nahm ihm den Atem. Das Feuer unter ihm breitete sich aus und kroch am Baum empor, und dann konnte er nichts mehr erkennen. Als er fiel, fingen sie ihn.

 

2

 

Feuer kannte er – die qualmenden Glutnester, die zurückblieben, wenn die Bauern nach der Ernte ihre Felder abbrannten –, und durch Versuche hatte er gelernt, dass eine Kartoffel in der heißen Asche weich, wohlriechend und schmackhaft wurde, doch der Rauch des Feuers, das die Holzfäller entzündet hatten, hüllte ihn ganz ein, so dass die Luft, die er atmete, vergiftet war und er die Besinnung verlor. Messier hob ihn auf und fesselte ihn, und dann trugen die drei Männer ihn zu dem Dorf Lacaune. Es war später Nachmittag, zwischen den Baumstämmen senkte sich bereits die Nacht herab und verdichtete das Laub der Büsche, bis diese wie mit Teer überzogen wirkten. Die drei Männer hatten es eilig, nach Hause zu kommen und sich am Ofen zu wärmen – für April war es noch reichlich kalt, und der Himmel spuckte immer wieder Regen –, doch sie hatten diese staunenswerte Monstrosität gefangen und waren erfüllt von Verwunderung über ihre Tat. Der Junge hing bewusstlos über Messiers Schulter, und sie waren noch nicht an den ersten Häusern des Dorfs vorbei, da wussten schon alle, dass sie kamen. Père Dasquelle, der älteste Bewohner von Lacaune, der sich noch an den Großvater des toten Königs erinnerte, stand mit offenem Mund auf der Straße, sämtliche Kinder kamen hüpfend aus Häusern und Höfen gerannt und liefen ihnen in einer Traube nach, und ihre Eltern legten Hacken, Kellen und Kochlöffel beiseite und taten es ihnen gleich.

Sie brachten den Jungen in die Taverne – wohin auch sonst? Vielleicht in die Kirche, doch das erschien ihnen nicht sinnvoll, noch nicht jedenfalls. Als Messier ihn durch die offene Tür DeFarge reichte, dem Wirt, schien der Junge zum Leben zu erwachen. Der Schmied hielt seine Beine fest im Griff und stützte ihn mit einer Hand unter dem Hintern, während DeFarge seine weichen weißen Wirtshände unter Schultern und Kopf legte. Hinter ihnen waren die beiden Gefährten Messiers und der ganze Rest des Dorfs: Kinder schrien, Männer und Frauen drängten sich, um besser sehen zu können, und aller Augen waren auf die offene Tür gerichtet, so dass ein Fremder hätte meinen können, der Bürgermeister habe einen Feiertag ausgerufen und das ganze Dorf zu einem Umtrunk eingeladen. Die Zeit blieb für einen Augenblick stehen. Die Menge schob, das Kind hing zwischen dem Draußen und dem Inneren dieser von Menschenhand erbauten Behausung, und für einen Moment waren das Wilde und das Zivilisierte im Gleichgewicht. Da öffnete das Kind seine schwarzen Augen, bäumte sich mit einer heftigen Bewegung auf und schlug die Zähne in das schlabbrige Fleisch unter DeFarges Kinn.

Plötzliche Panik. DeFarge schrie auf, Messier packte noch fester zu, während der Wirt vor Schmerz und Angst losließ und der Junge, einen Hautfetzen zwischen den Zähnen, auf den Boden krachte, und wer es gesehen hatte, sagte später, es sei so gewesen, als habe eine aus dem Schlamm gezerrte Sumpfschildkröte ihren grünschillernden Kopf ausgefahren und blindlings zugeschnappt. Beim Anblick des Bluts waren alle entsetzt, es erblühte innerhalb von Sekunden im Bart des Wirts. Diejenigen, die bereits in der Taverne waren, fuhren zurück, ebenso wie die vor der Tür, während das Kind, das Messier zu Boden gerissen hatte, strampelnd und zuckend auf der Schwelle lag. Rufe und Schreie ertönten, und zwei oder drei Frauen stießen tiefe, laute Schluchzer aus, die den anderen das Herz aus dem Leib zu reißen schienen: Etwas Wildes war mitten unter ihnen, eine Bestie, ein Dämon, es lag zu ihren Füßen, eine sich im Schatten der Tür windende Gestalt mit blutverschmierter Schnauze. Erschrocken ließ auch Messier los und sprang auf. Er starrte das Wesen an, als wäre er es, der gebissen worden war.

»Stech es ab«, zischte jemand. »Bring es um!«

Aber dann sahen sie, dass es nur ein Kind war, knapp eins vierzig groß und kaum mehr als dreißig Kilo schwer. Zwei der Männer bedeckten sein Gesicht mit einem Lumpen, so dass es nicht mehr beißen konnte, und drückten es zu Boden, bis es aufhörte, sich zu winden, und schließlich wurden seine klauenartigen Hände, die sich schon halb befreit hatten, wieder gefesselt. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, erklärte Messier. »Es ist bloß ein Menschenkind.« Man führte den fluchenden DeFarge fort, um seine Wunde zu verbinden, und niemand verschwendete einen Gedanken an Tollwut, noch nicht. Dann drängten sie sich um das gefesselte Kind und stupsten es an, das aus der Festung des Waldes geraubte enfant sauvage. Sie sahen, dass seine Haut rauh war und dunkel wie die eines Arabers, dass die Hornhaut an seinen Füßen dick und schwielig war und seine Zähne so gelb wie die einer Ziege. Das Haar war verfilzt und fettig, und weil es über sein Gesicht und den rauhen Stoff des tief in den Mund gesteckten Knebels fiel, bewahrte es sie vor seinem starren, unverwandten Blick. Niemand kam auf den Gedanken, seine Genitalien zu bedecken. Es waren die eines Kindes: zwei Eicheln und ein Stöckchen.

Die Nacht schritt voran, doch niemand wollte gehen. Wer keinen Platz im Raum gefunden hatte, stand vor der offenen Tür an, um einen zweiten oder dritten Blick zu erhaschen, es wurde getrunken, die Dunkelheit war durchdrungen von nachwinterlicher Kühle, DeFarges Frau legte weitere Scheite aufs Feuer, und jeder Mann, jede Frau, jedes Kind dachte, nun habe man ein Wunder gesehen, etwas, das schrecklicher und befremdlicher war als das Kalb mit den zwei Köpfen, das im vergangenen Jahr auf Mansards Hof geboren worden war, oder die Otter, die in sich hundert kleine Ottern getragen hatte. Sie stießen das Kind mit den Spitzen ihrer Stiefel und Holzschuhe an, und einige, die neugierig oder mutig genug waren, beugten sich zu ihm, um seinen Geruch aufzunehmen. Man war sich einig, dass es der Geruch der Wildnis war, der Geruch eines wilden Tiers in seiner Höhle. Irgendwann erschien der Priester, um den Jungen zu segnen, doch obwohl die wilden Indianer in Amerika ebenso in die Schar der Christenheit aufgenommen worden waren wie die Eingeborenen von Afrika und Asien, besann er sich eines Besseren. »Was ist los, Vater?« fragte jemand. »Ist er kein Mensch?«

Aber der Priester – ein sehr junger Mann mit engelsgleichem Gesicht und Flaumbart – schüttelte nur den Kopf und ging hinaus.

Später, als man des Spektakels müde war, als Augenlider und Kinne schwer wurden, bestand Messier, der lauteste und bestimmendste der Gruppe, darauf, diese Monstrosität müsse über Nacht im Hinterzimmer der Taverne eingeschlossen werden, damit man am nächsten Morgen die Nachricht von seiner Ergreifung in der ganzen Gegend verbreiten könne. Man hatte den Knebel entfernt, damit der Junge essen und trinken konnte, und einige, hauptsächlich Frauen, hatten versucht, ihn dazu zu bewegen, etwas zu kosten – einen Bissen Brot, ein Stückchen gekochtes Hasenfleisch, Wein, Brühe –, doch er wandte den Kopf ab, spuckte aus und weigerte sich. Jemand meinte, er sei vielleicht von Wölfen aufgezogen worden wie Romulus und Remus und werde nur die Milch einer Wölfin trinken, und so setzte man ihm das Ähnlichste vor, was das Dorf zu bieten hatte – etwas Milch von einer Hündin, die gerade geworfen hatte –, aber auch dies wollte er nicht. Ebensowenig Küchenabfälle, Eier, Butter, Blutwurst und Käse. Nach einer Weile, nachdem die Hälfte der Anwesenden geduldig über dem gefesselten, sich windenden Wesen gestanden und ihm vorsichtig, aber erfolglos dies und das angeboten hatten, gaben sie es auf und gingen nach Hause und zu Bett, aufgeregt und zufrieden, aber auch müde, sehr müde, und den Kopf umnebelt vom Wein.