Hanser E-Book
Ella in der zweiten Klasse
Aus dem Finnischen von
Anu und Nina Stohner
Mit Bildern von Sabine Wilharm
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
Ella ja kaverit bei Tammi in Helsinki.
ISBN 978-3-446-24398-9
© Text Timo Parvela 1999, 2000, 2001
© der deutschen Ausgabe Carl Hanser Verlag
München 2008/2013
Alle Rechte vorbehalten
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Ich heiße Ella. Ich gehe jetzt in die zweite Klasse, so wie alle meine Freunde. Auch unser Lehrer ist noch dabei und Pekka, der immer seltsame Fragen stellt.
»Ist das hier nicht die Universität?«, wollte Pekka gleich am ersten Tag von unserem Lehrer wissen.
Aber der Lehrer antwortete nicht.
»Wozu geht man ein ganzes Jahr in die Schule, wenn man dann doch nicht auf die Universität kommt?«, setzte Pekka nach.
Aber der Lehrer antwortete immer noch nicht. Er zählte nur ganz ruhig die bunten Glasperlen an einem Lederbändchen, das wir vor den Ferien noch nicht bei ihm gesehen hatten. Später erfuhren wir, dass es ihm der Schularzt verschrieben hatte.
»Bekommen wir dann wenigstens Geld dafür, dass wir schon in die zweite Klasse gehen?«, fragte Pekka.
Wir fanden es alle toll, dass die Schule wieder anfing und wir wieder zusammen waren. Alle hatten in den Ferien spannende Sachen erlebt.
Unser Lehrer hatte im Sommer seine innere Ruhe wiedergefunden. Das glaubten wir jedenfalls – bis ihm beim Mittagessen im Speisesaal das Perlenbändchen riss.
Timo hatte sich im Sommer einen Schnurrbart wachsen lassen. Das glaubten wir jedenfalls – bis ihm der Schnurrbart in den Gemüseeintopf fiel.
Mika hatte im Sommer einen schönen Aktenkoffer bekommen. Das glaubten wir jedenfalls – bis die Direktorin mitten in der Stunde ins Klassenzimmer kam und ihn sich zurückholte.
Hanna hatte im Sommer einen echten Diamanten gefunden. Das glaubten wir jedenfalls – bis er ihr auf den Boden fiel und in winzige Stücke zersprang.
Tiina war im Sommer taub geworden. Das glaubten wir jedenfalls – bis die Köchin fragte, wer noch ein zweites Eis haben will.
Ich hatte im Sommer gelernt, Sachen fortzuzaubern. Das glaubten jedenfalls die anderen – bis Pekkas zweites Eis hinten in meiner Jeans zu schmelzen anfing.
Pekka war im Sommer Professor geworden und einen ganzen Meter gewachsen. Das glaubte er jedenfalls – bis wir ihm erklärten, dass man in der Schwimmschule keinen Abschluss als Professor bekommt und dass ein Zentimeter ein bisschen weniger als ein Meter ist.
In der letzten Stunde am ersten Tag bekamen wir dann ein neues Schulfach. Keiner verstand, worum es ging, aber es war alles unheimlich spannend.
»Schließt die Augen und atmet gaaanz ruhig!«, sagte der Lehrer am Anfang der Stunde.
Da schlossen alle die Augen, außer dem Lehrer, der die Perlen wieder auf das Lederbändchen fädelte, das ihm beim Mittagessen abgerissen war. Das sahen wir, weil wir natürlich alle spickten.
»Jetzt stellt euch vor, ihr seid in einem stillen Wald, und in den Wipfeln der Bäume säuselt leise der Wind«, fuhr der Lehrer fort.
Wir stellten es uns vor, wie lange es wohl dauern würde, bis ihm die Perlen wieder runterfielen. Man sah nämlich deutlich, dass seine Hände zitterten.
»Ihr seid tief, gaaaanz tief im Wald, und ihr habt im Waldboden Wurzeln geschlagen. Ihr seid die größten Bäume im ganzen Wald«, sagte der Lehrer.
Nur noch zwei Perlen.
»Ihr habt die Wurzeln im Boden, und ihr schlaft tief und fest. Es ist still und ruhig. Nichts bewegt sich. Niemand bewegt sich, alle haben ihre Augen fest geschlossen, und wer sich trotzdem bewegt, muss nachsitzen«, säuselte der Lehrer.
Nur noch eine Perle. Sie war grün. Der Lehrer nahm sie mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig aus der kleinen Schachtel, in die er sie im Speisesaal eingesammelt hatte. Wir sahen, wie seine Hände zitterten. Wir waren gespannt. Der Lehrer führte die Perle zum Ende des Lederbändchens. Im Wald bewegte sich kein Blatt. Dann läutete die Schulglocke.
»Ihr seid Bäume!«, schrie der Lehrer, der vor Schreck die letzte Perle fallen gelassen hatte.
Na schön, dann waren wir eben achtzehn Bäume, die dem Lehrer halfen, seine Perle wiederzufinden. Nur dass wir ja die Augen nicht aufmachen durften, machte alles ein bisschen kompliziert. Es gab ganz schön viel Geknuffe und Geschubse in dem Wald, in dem es angeblich so still und ruhig sein sollte.
Mika hat die Perle dann gefunden, aber das fanden wir nicht fair, weil er bestimmt gespickt hatte. Und sowieso hätte er sie nicht gefunden, wenn er nicht draufgetreten wäre. Hinterher waren es zwei halbe grüne Perlen statt einer ganzen, aber als Mika sie dem Lehrer brachte, lächelte der trotzdem, und wir wunderten uns.
»Geschafft!«, rief der Lehrer. Dann sprang er auf und tanzte herum und schlenkerte das Lederbändchen durch die Luft. Tatsächlich waren, außer der grünen, wieder alle Perlen drauf, und irgendwo dazwischen sah man einen festen Knoten. Dass der Lehrer den mit seinen zittrigen Fingern hingekriegt hatte, überraschte uns beinahe so sehr wie sein entsetzter Blick, als er mit dem Bändchen am Türgriff hängen blieb. Wir halfen ihm natürlich wieder alle und sammelten die Perlen ein. Der Lehrer legte sie zurück in das Schächtelchen, wo schon die zwei halben grünen Perlen lagen. Dabei lächelte er die ganze Zeit. Ich glaube, er freute sich, dass er am nächsten Tag wieder was aufzufädeln hatte.
Wir fanden das neue Fach alle sehr spannend und überlegten uns auch gleich einen Namen dafür. »So-ein-Pech-aber-auch« fanden wir am passendsten.
Es war der Anfang der zweiten Stunde am zweiten Schultag, und der Lehrer zählte wieder die Perlen an dem Lederbändchen. Er hatte es in der ersten Stunde repariert, während wir auf dem Schulhof seine Brieftasche suchten. Komisch, dass er dachte, er hätte seine Brieftasche auf dem Schulhof verloren, obwohl sie doch die ganze Zeit vor ihm auf seinem Lehrertisch lag.
Auf dem Tisch lag auch ein Brief.
»Ich glaube, der Lehrer wird wieder erpresst«, flüsterte Hanna.
»Ich glaube, der Lehrer ist verliebt«, flüsterte Tiina.
»Quatsch! Der Lehrer kann gar nicht verliebt sein, er ist schließlich verheiratet«, flüsterte ich. Tiina muss man einfach alles erklären.
Dann hatten wir leider keine Zeit mehr, uns über den Brief zu streiten, weil der Lehrer ihn nämlich öffnete und vorlas.
»Liebe Schüler!
Die Stadt veranstaltet auch in diesem Jahr eine Schülerolympiade, zu der auch eure Schule herzlich eingeladen ist. Jede Schule stellt zwei Schüler, die ihre Schule im fairen sportlichen Wettstreit vertreten. Die Schülerolympiade findet in zwei Wochen statt.«
Der Lehrer steckte den Brief in den Umschlag zurück und seufzte. Dann schob er zwei rote Perlen und eine weiße an dem frisch verknoteten Lederbändchen entlang.
»Schön«, sagte er. »Wer meldet sich freiwillig für die Schulausscheidung?«
Wir meldeten uns natürlich alle, außer Pekka, der sich nie mehr melden wollte, seit er wusste, dass wir dafür, dass wir in die zweite Klasse gingen, kein Geld bekamen.
»Dann müssen wir losen«, sagte der Lehrer, als er die vielen in die Luft gereckten Arme sah.
Er schrieb unsere Namen auf kleine Zettel und steckte sie in das Schächtelchen, in dem er seine Perlen aufbewahrte, wenn sie nicht gerade an dem Lederbändchen hingen, so wie jetzt.
Mika durfte die Glücksfee sein. Er kniff die Augen zu und nahm zwei Zettel aus der Schachtel.
»Timo«, las der Lehrer vor, was auf dem ersten Zettel stand.
»Ich hab’s gewusst«, sagte Timo.
»Pekka«, las der Lehrer vor, was auf dem zweiten Zettel stand.
»Ich hab’s gewusst«, brummte Pekka. »Dabei hab ich mich nicht mal gemeldet.«
Der Lehrer schob fünf Perlen an dem Lederbändchen entlang, Timo warf jubelnd die Hände in die Luft, und Pekka war sauer.
»Halt, Moment!«, rief der Lehrer plötzlich. »In der Einladung stand doch, dass es ein Junge und ein Mädchen sein müssen.«
Keiner von uns konnte sich erinnern, dass so was in dem Brief gestanden hatte, aber der Lehrer war sich ganz sicher. Schade war nur, dass wir es nicht selber nachlesen konnten, denn komischerweise war der Brief auf einmal verschwunden. Also mussten wir noch mal losen. Und diesmal durfte der Lehrer selbst die Glücksfee sein.
Er mischte die Zettel sehr sorgfältig, bevor er wieder zwei aus dem Schächtelchen nahm.
»Tiina«, las er vor, was auf dem ersten Zettel stand.
Dann schaute er erst den zweiten Zettel an, dann uns und dann Pekka, der immer noch sauer war.
»Es ist wie verhext«, sagte der Lehrer.
»Mit Mädchen will ich schon mal gar nicht«, brummte Pekka, und der Lehrer schob acht Perlen an dem Lederbändchen entlang, bevor er wieder etwas sagte.
»Hört zu«, sagte er schließlich, »ich hab’s mir überlegt. Man kann nicht durch das Los bestimmen, wer an einer Schülerolympiade teilnimmt. Das wäre nicht fair. Bei einer Schülerolympiade müssen die Geschicktesten und Klügsten antreten und sonst niemand.«
Dann zerriss er das Perlenbändchen. Diesmal mit voller Absicht! Das wunderte uns ein bisschen, aber dann fing er an, die Perlen in der Klasse auszuteilen.
»Aufgepasst!«, sagte er. »Ihr versucht jetzt der Reihe nach, den Papierkorb zu treffen.«
Da verstanden wir.
Ich bekam eine rote Perle. Mika bekam eine gelbe und fing an zu weinen, weil er lieber eine blaue gehabt hätte. Mika ist eine alte Heulsuse.
Wir warfen der Reihe nach, wie der Lehrer gesagt hatte, und es machte Spaß.
Timo traf oben die Lampe, und Tiina traf vorne die Tafel. Mika konnte nichts treffen, weil er seine Perle in den Mund gesteckt und verschluckt hatte, und dann fing er wieder an zu weinen, diesmal weil er nicht mitmachen durfte. Hanna traf den Lehrer an der Stirn, und ich traf die Decke über dem Waschbecken, von dem meine Perle dann in den Papierkorb sprang. Die anderen trafen alles Mögliche, und irgendwann war das ganze Klassenzimmer voller hüpfender und rollender bunter Perlen.
Als Letzter war Pekka dran.
»Muss ich auch?«, fragte er.
»Auf keinen Fall«, sagte der Lehrer.
»Gut«, sagte Pekka und schnipste seine schwarze Perle vom Tisch. Wir wunderten uns ehrlich gesagt überhaupt nicht, als sie direkt im Papierkorb landete.
»Es muss ein Fluch sein«, seufzte der Lehrer.
Dann wunderten wir uns ein bisschen, dass er uns wieder seine Brieftasche suchen schickte, obwohl wir genau sahen, dass sie immer noch auf seinem Tisch lag. Unser Lehrer war in den Ferien sehr vergesslich geworden, fanden wir. Oder er war schon im Stress wegen der Olympiade.
Pekka hockte auf der Schaukel auf dem Schulhof und war sauer. Es sah komisch aus, wie siebzehn Kinder vor der Schaukel Schlange standen, auf der Pekka saß und nicht mal schaukelte. Er sei nämlich im Schaukelstreik, sagte er.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte ich Pekka.
»Ich antworte nicht, ich bin auch im Antwortstreik«, sagte Pekka.
»Gerade hast du aber geantwortet«, sagte Timo, der als Erster in der Schlange stand. Timo merkt alles und ist unser Klassengenie.
»Und warum streikst du?«, fragte ich.
»Weil das hier keine Universität ist«, sagte Pekka.
»Aha«, sagte Hanna und hielt ihm eine Faust unter die Nase. »Und weißt du, was das hier ist?« Hanna stand hinter Timo als Nächste an. »Das ist das, was du gleich auf die Nase kriegst, wenn du nicht machst, dass du von der Schaukel runterkommst.«
»Warum wär’s dir denn lieber, wenn das hier die Universität wäre?«, fragte ich Pekka.
»Weil ich so schnell wie möglich meinen Abschluss als Ingenieur machen will«, sagte Pekka.
»Du solltest lieber einen Abschluss als Notarzt machen, wenn du nicht bald andere auf die Schaukel lässt«, sagte Tiina, die hinter Hanna als Dritte in der Schlange stand.