Über das Buch

»Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen. [Nur] er wurde älter… Sie hießen Ruth, Litzy, das war meine Mutter, Gisela und Liselotte…« Das ist die private Seite einer Lebensgeschichte, die um die halbe Welt führt: Herkunft aus Frankfurt, Odenwaldschule, Paris-London-Berlin, dazwischen Internierung in Kanada, nach der Emigration der Weg in die DDR. Und bei alldem die wiederkehrende Erfahrung: »Zu Hause Mensch und auf der Straße Jude.« Barbara Honigmann erzählt lakonisch und witzig, traurig und mitreißend von ihrer deutsch-jüdisch-kommunistischen Sippe: Ein schmales Buch, aber ein großes Buch über Deutschland — und die bewegende nachgetragene Liebeserklärung an einen außergewöhnlichen Mann.

GEORG

Kurz nach seinem sechzigsten Geburtstag zog mein Vater in ein möbliertes Zimmer, Toilette und Bad auf dem Gang, in Hirschgarten, einem südöstlichen Vorort von Berlin. Um zu telefonieren, musste er hinunter zur »Landlady«, wie er sich ausdrückte, die das Erdgeschoss bewohnte. Das Zimmer nebenan auf dem Gang war an einen Studenten der Humboldt-Universität vermietet. Die »Landlady«, eine ältliche deutsche Zicke, hatte ihn als erstes eine Hausordnung unterschreiben lassen, in der sie ihm Krach und Besuch nach 22 Uhr verbot.

Er bekam dort in Hirschgarten sowieso keinen Besuch außer von mir, seit der Scheidung meiner Eltern vor vielen Jahren verbrachten wir alle Wochenenden zusammen, meistens holte er mich Samstagmittag von der Schule ab, aber manchmal fuhr ich auch »in die Stadt«, wie man das Stadtzentrum nannte, in den ersten Jahren in die Hannoversche Straße und später in das Hugenottenviertel, das ein bisschen zurückgesetzt von der Friedrichstraße liegt, wo er mit der Frau, die er nach meiner Mutter geheiratet hatte, wohnte, bis er nun auch diese gemeinsame Wohnung verließ und das möblierte Zimmer in Hirschgarten bezog.

Es war ein Samstag. Ich war 14 Jahre alt und fuhr zum ersten Mal nach Hirschgarten, dem südöstlichen Vorort, der schon einen ländlichen Charakter trägt und in den ich in meinem Leben noch nie einen Fuß gesetzt hatte, und ich verstand nicht, was geschehen war. Mein Vater saß in einem hässlichen und engen Zimmer auf dem Bett, grau im Gesicht, zusammengesunken und schweigend, ein Koffer lag offen auf dem Boden, darin wenige Anziehsachen und ein paar Bücher, bis er endlich sagte, na komm, gehen wir ein bisschen spazieren. Und dann gingen wir erst einfach die Straße entlang, an den Villen und ihren Vorgärten vorbei, dann drehten wir ein paar Runden in einem kleinen Park; er sprach kein Wort und hörte auch nicht zu, als ich versuchte, sein Schweigen durch mein Reden zu füllen, was Roswitha so macht, wie es Bärbel geht mit ihren fünf Brüdern und Bettina mit ihren Schwestern, und vom Ballett und von der Schule und den Lehrern. Sonst war es ja meistens mein Vater, der von seinem Leben erzählte, von der Odenwaldschule, die er in seiner Jugend besucht hatte, von seiner Großmutter Anna, deren Namen ich trage, von seinem Bruder und seiner Mutter, die beide so früh gestorben waren, und von den verschiedenen Ländern, in denen er gelebt hatte, und alle diese Erzählungen und Erinnerungen wurden von mir stets durch »Erzähl weiter, Pappi« im Fluss gehalten. So war es sonst immer gewesen, aber jetzt ging er neben mir und weinte, und als wir später in das möblierte Zimmer zurückgekehrt waren, briet er mir ein Spiegelei auf der elektrischen Kochplatte, die da auf dem kleinen Tisch neben ein paar Büchern und Papieren stand, und danach begleitete er mich zum S-Bahnhof, obwohl er mich sonst immer mit dem Auto nach Hause zu meiner Mutter zurückbrachte, aber jetzt fehlte ihm wohl, ebenso wie zum Sprechen, die Kraft zum Autofahren, obwohl er das Autofahren so liebte.

Wie wird jetzt alles werden, fragte ich abends meine Mutter. Die wusste es natürlich auch nicht und drehte bloß die Augen zum Himmel, »ein sechzigjähriger Mann in einem möblierten Zimmer!«

Die Frau, von der er sich getrennt hatte, war Schauspielerin am Theater, und entsprechend dramatisch verlief das Auseinandergehen und war wohl auch schon das Zusammenleben verlaufen, in dem es Betrug, Ehebruch und hässliche Szenen gegeben hatte. Aber erst in den letzten Jahren, glaube ich, als es schon zu Ende ging und gleichzeitig eine neue Phase in der Karriere der Schauspielerin begann, als sie nämlich anfing auch als Sängerin berühmt zu werden und im Ausland auftrat und bejubelt wurde, an Theatern, die in der ganzen Welt bekannt waren, und sie, überwältigt von ihren Erfolgen, dann auch einer Affäre mit einem italienischen Theaterdirektor nicht widerstehen konnte. Mit dem italienischen Theaterdirektor hatte das Drama wohl angefangen, und einmal zurückgekehrt aus Italien, begann sie auch in Berlin Verhältnisse mit anderen Männern, darunter mit einem schwulen Maskenbildner, das behauptete jedenfalls mein Vater und revanchierte sich, indem auch er Affären mit anderen Frauen begann. Von diesen anderen Frauen bekam ich einige zu sehen, weil er sich nämlich in der Zeit, als er in dem möblierten Zimmer in Hirschgarten untergekommen war, manchmal in der Wohnung meiner Mutter einrichtete, wenn sie ab und zu für ein, zwei Wochen wegfuhr; ich kam ahnungslos nach Hause, aus dem Kino oder von der Ballettstunde, und sah meinen Vater mit einer fremden, natürlich jungen Frau auf dem Sofa meiner Mutter sitzen, ziemlich eng beieinander saßen sie, und wenn ich eintrat, rückten sie schnell auseinander, und ich verzog mich natürlich sofort wieder, es war mir sehr unangenehm, sie sozusagen ertappt zu haben.

Nach dem Auszug in das möblierte Zimmer in Hirschgarten begannen sich mein Vater und die Schauspielerin zu bekriegen, es gab keine Aussprachen mehr und keine Versöhnungen zwischen ihnen, sie lieferten sich nur noch einen hässlichen Wettbewerb, wer dem anderen mehr Schmerz zufügen konnte, und ich weiß nicht, wer schließlich als Sieger aus diesem Kräftemessen hervorging; die Wunden jedoch, die sie sich gegenseitig beibrachten, mussten von der Art, die nie mehr heilen, gewesen sein, denn nach ihrer Scheidung, bis zu der es noch ein, zwei Jahre dauerte, sprachen sie nie mehr miteinander und haben sich auch nie mehr wiedergesehen. Die Schauspielerin überlebte ihn um dreißig Jahre, sie war ja viel jünger als er.

Während der Monate in dem möblierten Zimmer stellte mein Vater dann einen Antrag auf eine Wohnung, und es wurde ihm nach längerem Warten eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung in einem der Plattenbauten gegenüber dem Ost-Berliner Tierpark zugewiesen, im gerade neu errichteten Hans-Loch-Viertel, das vom Volksmund wegen seiner stumpfsinnigen, öden Architektur »Hans-im-Loch-Viertel« genannt wurde.

Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen. Er wurde älter, aber seine Frauen blieben immer um die dreißig. Die erste, die zweite, die dritte und die vierte Frau. Sie hießen Ruth, Litzy, das war meine Mutter, Gisela und Liselotte. Mit der letzten Frau bekam er noch ein Kind, als er schon weit über sechzig war, es war wieder eine Tochter, und wieder nannte er diese Tochter Anna, so wie er mich auch schon Anna genannt hatte, zum Andenken an seine geliebte Großmutter Anna Weil, geborene Sander.

Außerdem hatte er im Laufe seines Lebens noch viele Geliebte, von denen ich, wie gesagt, manche traf, von manchen nur wusste oder hörte, und von anderen wurde mir erst nach seinem Tod erzählt, dass er nämlich zum Beispiel, als er nach dem Krieg aus England nach Deutschland zurückgekehrt war, während meine Mutter, die zu dieser Zeit seine Frau war, noch in England darauf wartete, dass er in Berlin eine Wohnung fand, sich dort auch sofort wieder eine Geliebte angeschafft hatte. So hat Lotte mir das erzählt, die beste Freundin meiner Mutter, nach ihrer Aussage soll die Geliebte eine spanische Tänzerin gewesen sein, und als ich sie fragte, was denn die spanische Tänzerin in dem zerbombten Berlin gesucht habe, wusste sie es natürlich nicht, aber die Affäre hat sie noch vierzig Jahre später, nach Georgs Tod, aufgeregt.

Mein Vater hieß Georg, so wie sein eigener Vater, dessen zweiter Name Gabriel war. Mein Vater trug neben dem Namen Georg noch die Vornamen Friedrich und Wolfgang. Seine Mutter hieß Leonie, und sein Bruder hieß Heinrich. Leonie und Heinrich verlor er früh.

»Meine arme Mutter hat ihr ganzes Leben lang immer und überall vierblättrige Kleeblätter gefunden, denen man doch nachsagt, dass sie Glück bringen, aber dann starb sie schon so jung, mit 34 Jahren«, erzählte Georg. Sie hatte sich außerdem noch taufen lassen mit ihren beiden Söhnen, da war Heinrich sechs Jahre alt und Georg ein Baby, aber auch das hat ihr Leben nicht verlängern können, und Georg hat sie nie in seinem Leben anders als krank erlebt, meistens im Bett liegend. Sie hat jahrelang mit niemandem mehr gesprochen außer mit ihm, mit Georg, meinem Vater, der damals noch ein Kind war, so hat er es erzählt, »ich war ihr Sprecher, ihr Vermittler nach draußen«. Er hat es sehr oft erzählt. »Meine arme Mutter«, sagte er immer, wenn er von ihr sprach. »Ich war elf Jahre alt, als meine arme Mutter starb.«

Sie wohnten in Wiesbaden, in einem großbürgerlichen Haus im neoromanischen Stil, voll herrschaftlichem Pathos, wie er es später nostalgisch beschrieb, nicht weit von dem Sanatorium am Fuße des Sonnenbergs, das Georgs Vater leitete, ein Sanatorium für Innere Medizin und Nervenheilkunde.

Nur vier Jahre nach seiner Mutter ist Heinrich gestorben, das heißt, er fiel auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in Frankreich, als Fähnrich in der 11. Kompanie des Infanterieregiments Nr. 113, durch einen Kopfschuss. Der genaue Hergang ist in der »Kriegsstammrolle« des Regiments beschrieben, und die arme Familie, die nun nur noch aus den beiden Georgs, Vater und Sohn, und Leonies Mutter Anna bestand, wird es so mitgeteilt bekommen haben. Das war kurz vor dem Ende des Krieges, im September 1918, und Heinrich war gerade, wie in der »Kriegsstammrolle« verzeichnet ist, von einem Heimaturlaub zurückgekehrt, hatte in Wiesbaden den Vater, den Bruder, die Großmutter und das Grab seiner Mutter besucht. Er selbst hat dann kein eigenes Grab bekommen können, da er in Feindesland fiel, und auch die »Kriegsstammrolle« kann ihn nur als »vermisst« vermelden. Erst später werden sie wohl all die Leichen eingesammelt und sie in einem Gemeinschaftsgrab beerdigt haben, keiner weiß genau, wo Heinrich begraben liegt, vielleicht irgendwo unter den Grabmälern und Gedenksäulen für den unbekannten Soldaten. Wie so viele von den unbekannten Soldaten war Heinrich noch keine 20 Jahre alt gewesen. Ich habe nie weiter etwas über ihn und seine Pläne und Projekte gehört; ob er studiert oder vielleicht eine Freundin oder Verlobte hatte, nur von dummen, ja sogar grausamen Spielen unter Brüdern erzählte Georg, Heinrich habe ihn manchmal nachts aus dem Schlaf gerissen und in die mit kaltem Wasser gefüllte Badewanne getaucht und über den Schreck, den er dem kleinen Bruder verpasste, noch gelacht. Das war eigentlich das einzige, was ich überhaupt je von Heinrich erfahren habe. Trotz seines so frühen, sinnlosen Todes hat Georg ihn nie »mein armer Bruder« genannt. Auch ein Foto von ihm gibt es nicht, ich habe keine Vorstellung davon, wie er ausgesehen haben mag.

Von Georg jedoch gibt es zwei Kinderfotos, das heißt, es gab diese Fotos, ich erhielt sie als Kopien von meiner Halbschwester, Georgs Tochter mit seiner letzten Frau, die er nach dem Misserfolg der Ehe mit der Schauspielerin heiratete, nachdem er aus dem möblierten Zimmer in Hirschgarten wieder ausgezogen war, zunächst in die ihm zugewiesene Anderthalb-Zimmer-Wohnung im »Hans-im-Loch-Viertel«, bis sie schließlich mit der kleinen Tochter zusammen in einem Villenviertel Berlins in ein Haus mit Garten drumherum zogen. Die Kopien der beiden Fotos habe ich verlegt oder verloren, aber die Bilder sind mir noch ganz gegenwärtig, man sieht Georg als kleinen Jungen in einem Faschingskostüm mit einer lustigen Faschingsmütze auf dem Kopf und einem albernen Kasperle in der Hand, und auf dem anderen Bild ist er mit seinem Vater zu sehen, er reicht ihm noch nicht einmal bis zur Brust und ist in einen dunklen Anzug und Krawatte eingeklemmt, der Vater legt ihm die Hand auf die Schulter. Der große Georg ist ein imposanter, breitschultriger Mann mit einem kräftigen dunklen Schnurrbart im Gesicht, der kleine Georg, mein Vater, ein schmächtiger Bub mit einem traurigen Gesicht.

Georgs Großmutter, Leonies Mutter, lebte während der Krankheit ihrer Tochter mit in dem neoromanischen Haus und überwachte den Haushalt und die Dienstboten, wohl um Leonie beizustehen, zu helfen, irgendetwas zu tun, Heinrich und Georg zu trösten, obwohl alles so hoffnungslos aussah. Leonie war ihr einziges Kind, und sie war selbst früh Witwe geworden. Nachdem Leonie gestorben und begraben war, warf ihr Schwiegersohn sie aus dem neoromanischen Haus in Wiesbaden raus. Das reichte nun. Sie hieß, wie gesagt, Anna, und Georg hat sie sehr geliebt, sie hatte immer »goldisch Bubsche« zu ihm gesagt, wie er erzählte, denn sie stammte aus Darmstadt. Das spricht man dort »Dammschtadd« aus, und dorthin zog sie wieder zurück und nahm Georg mit, bevor er später die Odenwaldschule besuchte und im Internat in Ober-Hambach lebte, nicht sehr weit von »Dammschtadd«.

Sein Vater aber hatte auch in so kurzer Zeit erst seine Frau und dann seinen Sohn verloren. Er hatte sich erst ziemlich spät in seinem Leben mit der deutlich jüngeren Leonie verheiratet und ihr zur Hochzeit einen ganzen »Liederkranz« gedichtet und auch drucken lassen. »Jüngst im Palmengartensaal / sah ein Ärzte-Bacchanal / Frankfurt an dem Maine. / Lackbeschuht und schwarz befrackt / schwang auch ich im Walzertakt / eine liebliche Kleine.« Nach dem Tod der lieblichen Kleinen allerdings nahm er sich bald wieder, viel zu schnell, wie sein Sohn fand, eine neue Frau, eine Christin, die hieß auch noch Hanna, fast wie die geliebte Großmutter, die sein Vater einfach so hässlich abserviert und rausgeworfen hatte, er habe die neue Frau wirklich gehasst, hat Georg gesagt.

Er hat immer nur schlecht über seinen Vater gesprochen, ich glaube, er mochte ihn nicht, manchmal klang es gar, als habe er auch ihn gehasst. Dabei trug er dann später als erwachsener Mann genauso einen kräftigen Schnurrbart wie sein Vater auf dem Foto, ihrer beider Handschriften waren ununterscheidbar, und offensichtlich in einem uneingestandenen Wunsch nach Nähe sah sich Georg auch als Arzt, der er ja nun wirklich nicht war; er gab immer viele ärztliche Weisheiten von sich, diagnostizierte jedes Symptom, missbilligte und urteilte jeden anderen Arzt und seine Diagnose ab, von der Behandlung ganz zu schweigen, und erklärte ihn und alle anderen Ärzte für völlig unfähig. Er selbst war nie krank, er mochte auch keine Kranken, er war kein eingebildeter Kranker, sondern ein eingebildeter Arzt, und seine ärztliche Anmaßung bestand zum Beispiel in solchen Therapien wie: »Wir bekämpfen das Fieber, indem wir es nicht messen.«

Noch heute glaube ich, dass er gerne Arzt geworden wäre, wie sein Vater und wie sein Großvater und sein Urgroßvater, denn in »Dammschtadd« verheirateten die jüdischen Bankiers ihre Töchter mit Ärzten, Hofärzten des Großherzogs von Hessen-Darmstadt, versteht sich. Und sogar seine Dissertation, mit der er, wenn auch nicht zum Dr. med., sondern zum Dr. phil. promoviert wurde, galt Georg Büchner, der ja auch Mediziner war.

In der Zeit, als mein Vater schon lange in der DDR lebte und weit weg von jeder ärztlichen Wissenschaft in einem sozialistischen Kulturbetrieb herumlavierte, erhielt ich einmal einen Brief von ihm. Ich glaube, er hatte ihn während der Zeit der Trennung von der Schauspielerin, die sich ziemlich lange hinzog, geschrieben, es ging ihm nicht gut in der Seele, und sein Körper bescherte ihm, auch wenn er es nicht zugeben mochte, eine Angina pectoris, also eine Herzkrankheit, eine »Enge in der Brust«, man hatte ihm deswegen eine Kur in Bad Elster, dem Kurort im sächsisch-bayrisch-böhmischen Länderdreieck verordnet, und von dort schrieb er mir. »Weißt Du, mein liebes Kind, ich lebe hier während dieser vier Wochen ganz einsam und finde das wohltuend, denn wenn ich mir die Leute ansehe, die da herumlaufen und im Speisesaal und manchmal sogar an meinem Tisch sitzen, und mir vorstelle, welchen fürchterlichen Unsinn sie erzählen würden, tut es mir gar nicht leid. So komme ich viel zum Nachdenken und möchte Dich an einer meiner Erkenntnisse teilhaben lassen: Richte, liebes Kind, Dein Leben heute so ein, dass Du nicht später sagen wirst — oh, hätte ich doch damals —, wie es sich Dein armer Vater immer wieder sagt.«

Georgs Vater schloss nach Leonies Tod und nach dem Ende des Krieges sein Sanatorium in Wiesbaden und kehrte nach Gießen zurück, wo er seine ärztliche Laufbahn begonnen und sich habilitiert hatte. Dort wandte er sich der Geschichte der Medizin zu und gab die Zeitschrift »Hippokrates« heraus, deren Artikel er zum größten Teil selbst verfasste. Im Zentrum der Zeitschrift standen Betrachtungen zur Rolle des Arztes zwischen der Wissenschaft und der Heilkunst, nach seiner Auffassung sollte sich der Arzt viel mehr dem einzelnen Menschen und seiner Lebensgeschichte, seinen Symptomen und Traumata zuwenden, statt sich nur der diagnostischen und therapeutischen Vervollkommnung hinzugeben. Es hieß dann von ihm, er habe »eine Aussprache über das, was man später die Krise der Medizin genannt hat, eröffnet«. Er verstand sich als Reformer der Medizin, wahrscheinlich nicht als Revolutionär, hielt in Gießen Vorlesungen zur Geschichte der Medizin und schrieb das Buch »Vom Wesen der Heilkunde«, dem er die Widmung »Dem Andenken meines Sohnes Heinrich, gefallen in Frankreich am 17. September 1918« voranstellte.

Vielleicht hat sich Georg später als »eingebildeter Arzt« betragen, um noch irgendeine Bindung an seinen Vater zu bewahren, aber für die Suche seines Vaters nach den Symptomen und Traumata der Seele im Körper, der »Enge des Herzens« etwa, hatte er überhaupt kein Verständnis und kein Interesse und fand das geradezu lächerlich und unwissenschaftlich, das konnte er als »eingebildeter Arzt« ja gut beurteilen. Später in England unterzog er sich einmal ein paar Wochen oder Monate einer psychoanalytischen Kur, wahrscheinlich hatte ihm Ruth, die damals seine Frau war, dazu geraten, denn Georg litt sein ganzes Leben an Depressionen, verstummte und versteinerte dann für einige Tage oder Wochen. Das haben alle seine Frauen so erlebt, sie haben es mir so berichtet, Ruth, Litzy, Gisela und Liselotte, ich aber habe meinen Vater nicht in diesem Zustand erleben müssen, jedenfalls habe ich keine Erinnerung daran; vielleicht konnte er sich vor seinem Kind verstellen, dass es die Verstimmung nicht merkte, vielleicht wollte er das seinem Kind nicht zumuten. Aber auch über die Analyse bei Winnicot hatte er nur Schlechtes zu berichten und tat diese Seelenkur, die den Theorien und der ärztlichen Praxis seines Vaters so nah war und der er sich offensichtlich gegen seinen Willen, nur unter dem Druck seiner Frau unterzog, als Unsinn ab, spottete noch jahrelang darüber. Vielleicht haben dieser Spott und die Ablehnung zur Trennung von Ruth beigetragen, die, nachdem sie so wie er Journalistin gewesen war, in England noch einmal Medizin studierte, sich auf die Psychiatrie spezialisierte und dann viele Jahre am Charing Cross Hospital in London an der Heilung gestörter und kranker Menschen arbeitete. Im Gegensatz zu Georg konnte sie kein Heil in der politischen Bewegung entdecken, die er später durch Litzy, meine Mutter, in London kennenlernte — den Kommunismus. Georg aber fühlte sich vom Kommunismus offensichtlich ebenso angezogen wie von Litzy selbst, und der wurde dann zur »dritten Sache« des neuen Paares, die sie einige Jahre zusammenhielt.

Die Großmutter Anna nahm das »goldisch Bubsche«, statt es mit seinem Vater nach Gießen ziehen zu lassen, mit zu sich nach »Dammschtadd« und versuchte, ihm in ihrem Haus die Mutter zu ersetzen und Bildung und Erziehung nach ihrem Stil zu geben. Manchmal führte sie den Enkel nach Frankfurt, die große Stadt neben Darmstadt, zeigte ihm die Kunstsammlung des Städel-Museums und den Palmengarten, wo Georg fleischfressende Pflanzen zu sehen bekam, die die große Faszination seiner Kindheit blieben, wie er oft erzählt hat.

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