Der Eisprinz und die große Liebe

In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche ein, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren.

Winterträume

Es war ein kalter, aber klarer Tag. Dick eingepackt radelte Carolin Baumgarten, genannt Caro, nach Lindenhain und genoss die Mittagssonne, die ihr ein wenig den Rücken wärmte. Sie freute sich auf ihr Pferd Sternentänzer. Einen wunderschönen mondhellen Araberhengst. Seit Tagen schon herrschte klirrende Kälte, heute war es zum ersten Mal ein kleines bisschen sonnig – Carolin wollte dies für einen Ausritt nutzen. Endlich mal wieder!

Voller Vorfreude blinzelte Carolin in die Mittagssonne, während sie in den Reiterhof bog und ihr Rad langsam bis zum Haupthaus rollen ließ. Mein Lindenhain!, seufzte sie glücklich und ließ den Blick über die weitläufige Anlage schweifen, die sich auf einem sanften grünen Hügel zwischen großen, alten Linden erhob. Für Carolin war Lindenhain der schönste Reiterhof der Welt. Sie parkte ihr Rad und nahm den Rucksack vom Gepäckträger.

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Haupthaus, und Vicky kam heraus. Vicky Heuber war die Lebensgefährtin von Gunnar Hilmer, dem Besitzer von Lindenhain. Seit Kurzem hatten die beiden eine kleine Tochter – Luisa. Die Familie wohnte im oberen Stock des Haupthauses. Etwas umständlich bemühte sich die junge Frau gerade, den Kinderwagen aus dem Hausinneren über die Treppe nach draußen zu hieven.

„Hi, Vicky! Warte, ich helf dir!“ Carolin lief zu ihr und fasste mit an.

„Danke dir, Caro.“ Mit vereinten Kräften schafften die beiden den Kinderwagen nach draußen. Vicky holte tief Luft, als das Teil schließlich auf dem Hof stand. „War schon anstrengend genug, den Kinderwagen allein die Treppen im Haus herunterzuschleppen!“

„Wo ist denn Gunnar?“, wunderte sich Carolin.

„Unterwegs, wie immer, wenn man ihn braucht“, meinte Vicky etwas verschnupft. Dann nickte sie Carolin aufmunternd zu. „Was ist mit dir? Magst du uns zwei bei unserem Spaziergang begleiten?“

„Na ja, ich wollte eigentlich mit Sternentänzer ausreiten“, erklärte Carolin mit ehrlichem Bedauern. Sie mochte Vicky und auch die kleine Luisa sehr gern und genoss die gemeinsamen Spaziergänge. Aber da sie nun ein paar Tage nicht ausgeritten war, wollte sie das günstige Wetter heute unbedingt nutzen. „Wer weiß, vielleicht wird’s ja bald wieder kälter, dann kann ich nicht mehr raus!“

„Verstehe“, nickte Vicky. Sie beugte sich über den Kinderwagen und zupfte das rosafarbene Mützchen so zurecht, dass es möglichst viel von Luisas kleinem Gesicht bedeckte. Dann setzte sich Vicky selbst eine Mütze auf, schlüpfte in dicke Fäustlinge und umfasste den Lenker des Kinderwagens. „Dann viel Spaß, dir und deinem Sternentänzer!“, rief Vicky ihr noch zu, bevor sie mit dem Kinderwagen über den Hof davoneilte.

Rasch lief Carolin mit ihrem Rucksack Richtung Stall – schnurstracks in Sternentänzers Box. „Hallo, mein Süßer!“, begrüßte sie ihr Pferd.

Sternentänzer spitzte die Ohren und schnaubte leise. Carolin umfasste seinen Hals mit beiden Armen und liebkoste ihr herrliches Pferd. Doch Sternentänzer war nicht nur wunderschön, sondern er besaß auch eine ganz besondere Gabe. Eine magische Gabe. „Du hast schon auf mich gewartet, stimmt’s, mein Schöner?“ Sie drückte Sternentänzer einen Kuss auf die samtweichen Nüstern.

Nach einer Weile ließ sie von ihrem Pferd ab, packte ihren Rucksack aus und holte eine Reithose heraus. Es war eine uralte beigefarbene Hose, die sie eigentlich schon längst ausrangiert hatte. Zwar blöd, aber bei den frostigen Temperaturen momentan geht’s ohne eine zusätzliche Verpackung nicht!, dachte sie und zog die zweite Hose über die Hose, die sie schon anhatte. Dabei musste sie die Luft anhalten, um den Reißverschluss schließen zu können. „Puh! Ich komm mir vor wie dieses dicke Männchen aus der Reifenwerbung“, murmelte sie. „Noch eine Pizza mehr, und ich platze aus allen Nähten.“

Carolin deponierte den Rucksack in einer Ecke der Box, dann ging sie in die Sattelkammer und holte Sternentänzers Sattel und Zaumzeug. Zuletzt streifte sie noch ihre Reithandschuhe über, setzte ihre Kappe auf und führte ihr Pferd gesattelt nach draußen.

Auf dem Hof schwang sie sich auf Sternentänzers Rücken. „So, mein Schöner, los geht’s!“ Es war so kalt, dass jedes ihrer Worte einen eisigen Hauch in der Luft zurückließ. Carolin schielte nach oben. Eine einzelne Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Verschwinde, Wolke! Sonst fallen mir bei der Kälte noch die Hände ab, dachte sie und trieb den Hengst an.

Gehorsam setzte sich Sternentänzer in Bewegung. Das erste Stück legten sie gemächlich im Schritt zurück, bevor sie schließlich in den Leichttrab übergingen. Als sie den geraden Weg erreichten, der am Waldrand entlangführte, ließ Carolin ihr Pferd galoppieren. Es war ein herrliches Gefühl, auf Sternentänzers Rücken dahinzujagen. Und auf einmal fühlte es sich auch gar nicht mehr so kalt an.

Ohne dass Carolin das Kommando gegeben hätte, schlug Sternentänzer plötzlich den Weg ein, der zum kleinen See führte. „Du willst ans Wasser?“, stellte Carolin fest. „Na meinetwegen“, nickte sie und ließ die Zügel locker.

Als sie schließlich am See ankamen, stoppte Carolin ihr Pferd und glitt aus dem Sattel. Der kleine See sah aus wie ein verzaubertes Winterwunderland. An den Zweigen und Grasspitzen rundum glitzerten Eiskristalle, vom Ufer her hatte sich bereits eine Eisschicht gebildet. In der noch eisfreien Mitte des Sees tummelten sich einige Enten, die sich das Gefieder reinigten.

Carolin hielt sich an einem dicken Ast fest und tippte mit der Fußspitze prüfend auf das Eis am Uferrand. „Hält“, stellte sie fest. Sie wagte sich mutig einen kleinen Schritt weiter nach vorne. „Cool!“, freute sie sich und zeichnete erst mit einem Fuß einen kleinen Kreis auf das Eis, dann mit dem anderen. Vorsichtig tat Carolin ein paar Schritte auf dem Eis – ganz nahe am Ufer entlang. Plötzlich packte sie der Übermut, und sie schlitterte mit weit ausgestrecken Armen zwei, drei Meter über das Eis. „Wow!“, strahlte sie dabei und fühlte sich fast so schwerelos und unbekümmert wie beim Ausritt mit Sternentänzer. Kichernd versuchte sie, mit einem eleganten Schwung auf dem Eis zu wenden, was ihr aber nicht ganz gelang, und sie fiel auf die Knie. „Zum Glück hält das Eis“, rief sie Sternentänzer übermütig zu. „Sonst wär ich jetzt klatschnass! Ist wohl noch ein weiter Weg bis zur Eisprinzessin, stimmt’s, mein Schöner?“

Sternentänzer bewegte den Kopf ein paar Mal rauf und runter und wieherte – so, als wolle er zustimmen. Ein bisschen wirkte es auch, als würde er lachen.

„Hast ja recht, mein Schöner“, gluckste Carolin. „Ich muss echt noch etwas üben.“ Mit einem Satz hüpfte sie zurück ans Ufer. Dort ging sie in die Hocke und ließ ihren Blick über den fast zugefrorenen, glitzernden See schweifen. „Das erinnert mich an neulich“, seufzte sie. „An die tolle Eisgala im Fernsehen. Es sah so toll aus, wie die Mädchen federleicht übers Eis geglitten sind.“ Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie Hand in Hand mit ihrem Freund Ferdi Schlittschuh lief. Wie sie an seiner Hand eine elegante Pirouette auf dem Eis drehte, wie er sie mühelos auf seine starken Arme hievte und nach oben hob, wie sie elfengleich wieder zurück auf die Beine fand, wie sie zusammen nebeneinander über das Eis schwebten, in die Unendlichkeit …

Sie öffnete die Augen. „Carolin Baumgarten!“, sagte sie schmunzelnd. „Träum weiter! Ein Paarauftritt mit Ferdi in einer Eisshow scheitert allein schon am Outfit! Ich würde lieber in einem Entenkostüm herumlaufen als in einem Tüllröckchen … Ganz abgesehen von meinen recht bescheidenen Eislaufkünsten.“ Sie seufzte. „Ferdi würde so was bestimmt locker hinkriegen. Bei ihm würde das sicher super aussehen.“ Ferdi spielte nämlich Eishockey in einer Profi-Mannschaft und war auf Schlittschuhen genauso sicher unterwegs wie andere zu Fuß. Bei dem Gedanken an ihren Freund huschte ein Lächeln über Carolins Gesicht, und sie hielt einen Moment inne, um dem angenehmen Gefühl nachzuspüren, das ihren Körper durchströmte.

Dann richtete Carolin sich wieder auf. Blickte sich noch einmal um und ging zurück zu Sternentänzer. Sanft tätschelte sie seinen Hals, strich über den kleinen schwarzen Stern auf seiner Stirn. „Wir reiten jetzt besser wieder weiter, Sternentänzer. Wenn du allzu lange hier herumstehst, kühlst du sonst zu sehr aus.“

Carolin saß auf, ließ Sternentänzer zum Warmwerden erst einmal im Schritt gehen, bevor sie ihn antrieb. Irgendwie kam es ihr auf dem Rückritt kälter vor als zuvor, und als sie schließlich zurück auf den Reiterhof kamen, war sie ziemlich ausgefroren. Mit etwas klammen Fingern glitt sie aus dem Sattel und führte Sternentänzer gleich zurück in seine Box.

Rasch sattelte sie den Schimmel ab und rieb ihn trocken. Danach holte sie das Putzzeug, striegelte ausgiebig sein mondhelles Fell und kratzte seine Hufe aus.

„Hi, Caro!“ Tim kam in Sternentänzers Box geschlendert und lehnte sich gegen die Boxenwand. Der sympathische Junge machte auf Lindenhain zurzeit eine Ausbildung als Pferdewirt. Carolin mochte ihn sehr und unterhielt sich gern mit ihm. So oft es ging, ritt sie auch mit ihm aus.

„Hi, Tim!“, grüßte Carolin, sah nur kurz auf und striegelte weiter. „Hoffentlich war es beim Ausreiten nicht zu kalt für Sternentänzer“, meinte sie besorgt. „Ich muss ihm noch eine Stalldecke überlegen.“

„Quatsch!“, beruhigte Tim sie gleich. „Pferde kommen mit Kälte, Temperaturschwankungen und Wind sehr gut klar, sie sind sogar wichtig für ihre Abhärtung und ihr Training“, erklärte er. „Pferde brauchen Wind und Wetter. Ist wie beim Menschen: Wer den ganzen Tag nur im warmen Bett rumlungert, kommt nicht in die Gänge.“

„Gut!“, zeigte sich Carolin ein wenig beruhigt und klopfte sanft Sternentänzers Hals. „Ich glaub, inzwischen hat er sich auch wieder aufgewärmt.“

„Aber du offenbar noch nicht, Caro, deine Lippen sind ganz blau“, stellte Tim besorgt fest.

Carolin schüttelte den Kopf. „Nee, das passt schon, mich nerven nur die beiden Reithosen übereinander. Darin kann ich mich kaum bewegen.“

„Sieht man!“ Tim grinste. „Da gibt es jetzt beheizbare Unterwäsche, extra für Reiter, das wär doch was.“

„Mit eingebautem Thermostat, oder was?“, feixte Carolin. „Sieht bestimmt witzig aus.“

„Nee, ohne Thermostat. Es sind versilberte Polyamidfäden in die Reitunterwäsche eingestrickt, und die erwärmen sich direkt auf der Haut. Im Dauerbetrieb hält das bis zu sechs Stunden warm. Der Akku im Handy-Format stört selbst bei schneller Gangart nicht.“

„Was du alles weißt!“, staunte Carolin, während sie sich mühsam aus der zweiten Reithose schälte. „Klingt aber gut“, fuhr sie fort. „Wo gibt’s denn so was?“

Tim zuckte die Schultern. „Kann man im Internet bestellen, ich besorg dir den Namen des Herstellers“, antwortete Tim und verließ die Box.

Carolin packte ihre Reithose in den Rucksack, verabschiedete sich von Sternentänzer und folgte Tim.

Tim begleitete Carolin noch zu ihrem Rad, dann verschwand er Richtung Haupthaus.

Mit immer noch leicht klammen Fingern nahm Carolin ihr Rad aus dem Ständer. „Beheizbare Handschuhe wären auch nicht schlecht“, murmelte sie, wickelte sich ihren Schal bis weit über die Nase und radelte nach Hause.

Hat Paps Sehnsucht?

Carolin wohnte zusammen mit ihrer Mutter Ines Baumgarten-Sander, ihrem Stiefvater Dr. Joachim Sander und dessen Sohn Thorben im Ahornweg 16 in Lilienthal. Das hübsche gelbe Häuschen mit den grünen, leicht ausgeblichenen Fensterläden und der kleinen Veranda neben der Eingangstür erinnerte ein wenig an die Villa Kunterbunt. Ein kleiner Garten mit ein paar alten Obstbäumen und vielen Sträuchern gehörte auch noch dazu.

Die Familie hatte das Häuschen kürzlich gekauft. Der Hauskauf hatte eine positive und eine negative Auswirkung. Gut war, dass Ines jetzt sämtliche Umzugspläne gestrichen hatte und die Familie auf jeden Fall für längere Zeit hier wohnen bleiben würde. Weniger gut war, dass das Geld seither knapper war.

Die beheizbare Reithose kann ich eh knicken, überlegte Carolin, während sie die Haustür aufschloss.

„Wer ist da?“, rief Ines aus der Küche.

„Ich bin’s, Mam! Caro.“

Statt einer Antwort kam Ines höchstpersönlich aus der Küche. „Ich gehe mal davon aus, dass du deine Hausaufgaben für morgen schon erledigt hast“, begann sie zuckersüß.

„Ähm …“

„Dachte ich mir“, fuhr Ines streng fort und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Augenbrauen hatte sie so eng zusammengezogen, dass sie wie ein Strich wirkten.

„Mach ich aber jetzt gleich, Ma, sofort“, erklärte Carolin und wollte sich schleunigst nach oben verziehen.

„Moment bitte noch, Carolin!“

Oh nee! Wenn Ines ihre Tochter Carolin nannte, war es ernst, sehr ernst.

„Deine Noten in letzter Zeit lassen sehr zu wünschen übrig! Du weißt ganz genau, was wir vereinbart haben: Die Schule kommt vor deinem Ponyhof.“

Ponyhof! Mam! Lindenhain ist kein Ponyhof! „Ich bin ja gerade dabei …“

„Es dämmert schon, Caro. Du hast den ganzen Sonntag auf Lindenhain vertrödelt.“

„Im Dunkeln kann ich nicht ausreiten, und außerdem kann ich mich abends besser konzentrieren“, behauptete Carolin rasch und schlüpfte an Ines vorbei nach oben.

Wenn man etwas Unangenehmes erledigen muss, macht man alles Mögliche andere, nur um das Unangenehme so weit wie möglich hinauszuschieben. So ging es Carolin gerade. Zuerst leerte sie sorgfältig ihren Rucksack, steckte ihre Reithose in die Wäsche, danach inspizierte sie ihren Schrank, sortierte alle Hosen und Pullis nach Farben. Dann wischte sie sogar noch den Bildschirm ihres Computers mit einem Reinigungstuch ab, bevor sie sich schließlich an den Schreibtisch setzte und mit Todesverachtung ihre Mathesachen aus der Tasche holte.

„Ich hab keinen Bock!“, knurrte sie leise. „Ich mag nicht … Hilft nicht, Carolin Baumgarten, du musst aber!“ Sie schlug das Buch auf und lehnte sich zurück. Ihr Blick wanderte im Zimmer herum, blieb schließlich auf dem Bild von Sternentänzer haften, das in einem Silberrahmen auf ihrem Schreibtisch stand. „Mein lieber Sternentänzer“, seufzte sie leise und dachte an den herrlichen Ausritt, den sie mit dem Schimmel heute gemacht hatte. Erinnerte sich an den frostig glitzernden See. „Manno, Caro!“, versuchte sie, sich selbst zu disziplinieren. „Schluss damit! Konzentrier dich endlich auf deine Hausi.“ Carolin schnaufte tief durch, stützte ihren Kopf auf den Händen ab und blickte in das Buch. „Also …“

Keine fünf Minuten später klingelte ihr Handy. „Nein, du gehst jetzt nicht ran, Caro!“ Sie hielt sich die Ohren zu, blieb tapfer über ihrem Buch sitzen. Doch es klingelte weiter. „Vielleicht ist es was Dringendes! Ich sollte wenigstens mal nachgucken, wer es ist … nein … doch … ach was!“ Carolin sprang auf, hechtete zum Bett und schnappte sich das Handy, dessen Klingelton in diesem Moment verstummte. Carolin klappte es auf. „Lina!“

Lina Schniggenfittich war ihre beste Freundin. Ein Mädchen mit roten Locken und leuchtend grünen Augen. Linas Eltern waren fast das ganze Jahr über unterwegs auf Jahrmärkten. So wohnte Lina zusammen mit ihrer Großmutter Ami auf einer Wohnwagenwiese am Ortsrand von Lilienthal. Was wollte Lina denn? Carolin bugsierte ihr Handy von einer Hand in die andere. Ich kann sie ja später zurückrufen, nach den Hausaufgaben, überlegte sie. Andererseits hat Lina es bestimmt so lange klingeln lassen, weil sie mir was Wichtiges sagen wollte. Carolin setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und wählte Linas Nummer. „Hi, Lina!“

„Hi, Caro! Ich hab dich eben angerufen.“

„Weiß ich. Was gibt’s?“

„Ich bin grad angekommen.“ Lina klang aufgeregt.

„Grad angekommen? Wo denn?“, fragte Carolin verwundert nach.

„Na, im Zauberkurs natürlich! Im ultimativ genialen Kurs des fantastischen Zaubermeisters Glasgow. Hallo, du stehst aber auf der Leitung!“

„Ey Lina, klar weiß ich, dass du heute los bist! Ich war nur eben auf einem völlig anderen Stern“, entschuldigte sich Carolin. Glasgow war ein Meister der Magie. Er war ein alter Mann mit einem weißen Bart, las Orakel in Feuerschwaden und kannte Linas ungewöhnliche Großmutter Ami schon viele Jahre. Nur sehr selten veranstaltete er Zauberkurse, und dann nur mit ganz wenigen, ausgewählten Teilnehmern. Lina war sofort Feuer und Flamme gewesen, als sie erfahren hatte, dass sie teilnehmen durfte. Allerdings musste sie dafür kurze Zeit in der Schule fehlen. Mit Engelszungen hatte sie ihre Eltern überredet, sodass die schließlich um eine Sonderbeurlaubung für ihre Tochter gebeten hatten. Wahrscheinlich hatte es sehr geholfen, dass Lina in der Schule beste Noten schrieb. Offiziell war sie nun mit ihren Eltern unterwegs. Denn von dem Zauberkurs durfte natürlich sonst niemand in der Schule wissen.

„Es ist voll cool hier. Jeder hat ein eigenes Zimmer, daher hab ich von den anderen noch nicht viel gesehen. Ich bin megagespannt, was hier so abgeht und was ich alles lernen werde.“ Sie kicherte ausgelassen. „Vielleicht lerne ich ja auf einem Besen fliegen!“

„Was auch immer du da lernst, es wird in jedem Fall cooler sein, als hier in die Schule zu gehen“, seufzte Carolin. „Ich sitz grad über der Mathe-Hausi und die bringt mich noch zur Verzweiflung.“ Sie seufzte noch tiefer. „Drück mir die Daumen, dass wir morgen keine Stegreifarbeit schreiben, sonst bin ich fällig. Ich kann ja nicht mal bei dir spicken, wenn du nicht da bist.“

„Schick mir eine SMS, wenn ihr eine Arbeit schreibt, dann setz ich mich auf meinen Hexenbesen und düse los“, alberte Lina herum. „Oder vielleicht lern ich ja auch, wie man sich unsichtbar macht?! Dann kann ich mich neben dich stellen, und wir lösen alle Aufgaben gemeinsam.“

„Ach wär das schön!“, sagte Carolin grinsend. „Aber ich schätze mal, dass ich mich darauf nicht verlassen kann. Deshalb sollte ich jetzt besser noch ordentlich büffeln.“

„Ich hab noch eine andere Idee“, fuhr Lina scherzhaft fort. „Du kommst her und machst bei dem Kurs mit.“

„Ja klar, ich sag meiner Mam, dass sie mich von der Schule befreien muss, weil ich einen Zauberkurs besuchen will“, gab Carolin zurück. Als sie sich dabei das Gesicht ihrer Mutter vorstellte, prustete sie laut los.

Lina fiel kichernd mit ein. „Tja, schätze, das wird nichts.“

„Genau, und deswegen muss ich nun hier weitermachen“, erklärte Carolin immer noch grinsend.

„Alles klar, ich melde mich mal zwischendurch“, versprach Lina und verabschiedete sich.

Caro legte das Handy weg, schaltete es diesmal ganz aus. Sicher ist sicher! Sie setzte sich wieder auf den Stuhl. „So! Jetzt!“ Entschlossen griff sie nach ihrem Stift und legte los.

„Caro!“, hörte sie nach einiger Zeit ihre Mutter von unten rufen.

Oh nee, was ist denn nun schon wieder? „Ich kann jetzt nicht, ich mach Hausi“, schrie Carolin durch die geschlossene Zimmertür zurück.

„Kommst du bitte runter ans Telefon?“, rief Ines zurück. „Schnell!“

Ans Telefon?, wunderte sich Carolin. Lina sicher nicht. Aber wer dann? Ferdi? Bestimmt! Wahrscheinlich hat er es auf dem Handy probiert und war irritiert, dass es aus ist!

„Caro!“ Ines klang streng.

Carolin sprang auf. „Ich komm ja schon.“ Sie raste die Treppe hinunter und schnappte sich den Telefonhörer, der auf dem Tisch lag. „Hallo, Ferdi! Ich …“

„Hallo, Caro!“

„Paps?“

„Ja, ich bin’s! Wie geht es denn meiner Lieblingstochter?“

„Lieblingstochter? Du hast ja nur eine – und der geht es sehr gut“, antwortete Carolin lachend.

„Auch wenn ich fünfzehn hätte, wärst du ganz klar meine Lieblingstochter.“

„Fünfzehn …bloß nicht“, gab Carolin gut gelaunt zurück. Hielt aber im nächsten Augenblick inne. Es war heute der vierte Abend in Folge, dass ihr Vater anrief. Höchst ungewöhnlich. Sonst meldete er sich einmal im Monat, wenn überhaupt. Kurz nach der Scheidung war ihr Vater Paul Baumgarten nach Mallorca gezogen, wo er nun mit Carmela, einer jüngeren Frau, zusammenlebte. Kann es sein, dass er mir was sagen will, aber nicht weiß, wie? Kann es sein, dass …?

„Paps … wirst du wieder Paps? Bekomme ich ein Geschwisterchen? Ich meine, ist Carmela schwanger?“

Schweigen am anderen Ende des Telefons.

„Paps? Hab ich recht?“

„Nein, Caro, nein, ganz sicher nicht! Nein, nein, ich will einfach nur hören, wie es dir geht, was du so machst, wie es in der Schule läuft, wie es deinem Sternentänzer geht. Einfach so.“

„Tja, in der Schule …“, begann Carolin, „läuft es so, dass ich jetzt dann noch ziemlich büffeln muss, wenn ich halbwegs auf einen grünen Zweig kommen will. Sternentänzer geht es super, wir haben heute einen voll coolen Ausritt gemacht. War allerdings recht frostig.“

„Hier auf Mallorca ist es angenehm warm, ich stehe gerade im kurzärmligen Hemd auf der Veranda“, erzählte Paul.

Carolin sah die ockerfarbene Finca vor sich, umgeben von dem schönen, großen Garten mit den vielen rosa und weiß blühenden Oleanderbüschen. Carolin hatte ihren Vater vor einiger Zeit auf Mallorca besucht, zusammen mit Sternentänzer. Es waren wirklich schöne und aufregende Ferien gewesen. Carolin erinnerte sich mit einem wehmütigen Lächeln daran.

„Hier kann man noch gut ausreiten, ich sehe immer wieder Reiterinnen am Strand und muss dann jedes Mal an dich denken“, sagte Paul, seine Stimme klang melancholisch. „Fand’s schon toll, als du hier warst.“

„Mir hat’s auch gefallen! Vielleicht können wir das ja mal wiederholen“, erwiderte Carolin munter.

Statt der erwarteten Begeisterung kam von Paul aber nur ein sehr gedämpftes „Mal sehen!“ Doch bevor Carolin verwundert nachfragen konnte, stellte Paul schon die nächste Frage. „Erzähl doch mal etwas mehr von der Schule, Caro. Wenn ich mich recht erinnere, war Mathe immer ein wenig problematisch für dich.“

Falsches Thema! Ganz falsches Thema! „Tja … ach, na ja, passt schon!“

„Verstehe“, nickte Paul ins Telefon.

„Und wie geht es dir mit Ferdi?“

„Alles bestens, Paps“, versicherte Carolin. „Du …“

„Und wie geht es deinem Pferd?“

„Auch gut, Paps. Ich will nicht drängeln, aber ich muss mich jetzt echt wieder an meine Hausi setzen.“

„Klar doch“, erklärte Paul. „Maria winkt auch schon zum Abendessen, sie hat eine Paella zubereitet.“

„Paella … mhm, lecker!“ Carolin verdrehte schwärmerisch die Augen. „Marias Paella ist echt spitzenmäßig.“ Eigentlich mochte Carolin keine exotischen Gerichte, doch Marias Paella schmeckte oberlecker. Maria war Pauls Köchin und Hausperle.

„Ich esse eine Portion für dich mit“, versprach Paul. „Tschüss, mein Schatz! Mach’s gut!“

„Ja, du auch. Hasta la vista!“ Mit einem Schmunzeln legte Carolin auf. Sie wollte gerade wieder nach oben laufen, als ihr Blick auf ihre Mutter fiel, die in der Küchentür lehnte.

„Paul ruft in letzter Zeit ziemlich häufig an“, bemerkte Ines beiläufig.

„Fast täglich“, nickte Carolin.

„Ich finde es ja erfreulich, dass er sich endlich mal um seine Tochter kümmert“, fuhr Ines fort.

„Ich freu mich auch“, sagte Carolin zustimmend.

„Aber ich stelle eine absolut bemerkenswerte Steigerungsrate fest“, fügte Ines trocken hinzu. „Von null auf hundert sozusagen.“

„Also null kann man nicht sagen“, verteidigte Carolin gleich ihren Vater. „Er hat früher auch immer mal wieder angerufen.“

Ines nickte. „Aber nicht jeden zweiten Tag. Also mir kommt das schon ein bisschen spanisch vor.“

„Ist doch egal“, winkte Carolin lässig ab. „Lass ihn doch, wenn es ihm Spaß macht. So, und ich muss mich nun wieder meiner Hausi widmen.“

„Tu das! Und denk daran, wir essen pünktlich“, meinte Ines und verschwand in der Küche.

Carolin ging hoch in ihr Zimmer, doch viel wurde nicht aus der Hausi. Sie brütete noch über eine Stunde über den Aufgaben, dann schlug sie genervt Bücher und Hefte zu und ging nach unten zum Abendessen.

Unerwartetes Zusammentreffen