Mehr als 14000 Kilometer ist Hermann Warth auf Nepals unzähligen Pfaden durch die wilde Natur gewandert. In diesem Band erinnert er sich an Erkundungen und Bergexpeditionen, an flüchtige Begegnungen und Weggefährten, die seinen Blick auf die Welt verändert haben.
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Hermann Warth (*1940) lebte als Landesbeauftragter des Deutschen Entwicklungsdienstes in den 1970er- und 1980er-Jahren insgesamt neun Jahre in Nepal. In dieser Zeit lernte er sowohl die Menschen als auch die Natur des Landes zu schätzen.
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Lebensrad und Windpferd
Wege in Nepal
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Etwa 12.000 Kilometer hatten mich meine Beine auf Nepals Wegen in fast alle Teile des Landes getragen. Ich war unterwegs als Landesbeauftragter des Deutschen Entwicklungsdienstes, als Gutachter und Tourist und war dankbar für jeden Meter, den ich auf Nepals Pfaden wandern durfte. Nach den ersten Touren war ich so begeistert, dass ich zu meiner Frau einmal sagte: »Ich möchte solange in Nepal wandern, bis ich in allen Teashops gerastet und mich an allen chautaras (Rastplätze unter Schatten spendenden Feigenbäumen) erholt habe.« Dietlinde erging es nicht anders. Ihr Kommentar nach jedem Trek war: »Zu kurz!« Am Ende meiner Vertragszeit mit dem Deutschen Entwicklungsdienst machte sie den Vorschlag, nun den längsten Trek in Nepal zu unternehmen. Ich hatte keine Vorstellung, welchen sie meinte. Sie ließ mich raten, bis sie sagte: »Durch ganz Nepal und zwar der Länge nach.« Es wurde ein 111-tägiges Unternehmen mit ungefähr 2.000 Kilometern, die wir zu Fuß bewältigten.1 Meist fühlte ich mich wie ein Pilger, wenn ich auch kein guter war. Ein rechter Pilger misst zum Beispiel nicht die Länge der zurückgelegten Strecke, sondern die Fortschritte in seiner charakterlichen Besserung. Viele Stunden verbrachte ich auch auf den Straßen und im Flugzeug und mit der Lektüre von Aufsätzen und Büchern über das Land und seine Menschen. Ich war dabei so manchen Lebenssituationen und Lebenswegen begegnet und hatte guten und weniger guten Einfluss auf die Nepali genommen. Doch ganz sicher habe ich mehr von ihnen erhalten als sie von mir.
Es gibt so ein paar Schlüsselerfahrungen im Leben. Die Jahre in Nepal gehören dazu. Sie waren ein bedeutender Einschnitt. Ich habe sie dem Zusammenspiel von glücklichen Umständen zu danken: Vom Deutschen Entwicklungsdienst (DED) wurde ich nach Nepal gesandt. So konnte ich durch meine Arbeit (als Landesbeauftragter des DED 1975–78 und 1980–84 und danach als Gutachter für verschiedene Organisationen) der nepalischen Gesellschaft wohl näherkommen als wenn ich mich als Tourist nur kurz in dem Land aufgehalten hätte. Gleichzeitig befand ich mich im körperlich leistungsfähigsten Alter und konnte meinem Hobby, dem Genießen möglichst wilder Natur, nachgehen. Ich war privilegiert und bin dankbar, dass ich mit den Nepali unterwegs sein konnte. Was habe ich mit ihnen erlebt auf diesen Wegen, Umwegen, Irrwegen im »Lebensrad«? Zu welchen Zielen waren wir unterwegs? Welche hatten wir uns vorgenommen? Welche wären möglich gewesen, warum haben wir sie nicht verfolgt? Welche liegen vor uns? Millionen Gebetswimpel in ganz Nepal – viele tragen das Bild des geschmückten und von Gebetstexten umrahmten »Windpferds« – senden unablässig die Sehnsucht und das Streben der Menschen nach Besserung ihrer Lebensumstände hinauf in den Himmel über dem Himalaya … Wird uns das Windpferd aus dem scheinbar unendlichen Kreisen des Rades hinaustragen zu Leidlosigkeit, Frieden und Glück? Woher kommt das Windpferd? Ist es in uns selbst?
Die nachfolgenden Kapitel sind eine Sammlung einiger Erfahrungen und Einsichten, die ich während insgesamt zwölf Jahren als Arbeitender, Wanderer und Bergsteiger in diesem Land gewinnen konnte. Es sind Beispiele des Wegsuchens, des Irrens und Wegfindens. Ich war Zeuge des Lebens im Rad und Zeuge von Versuchen, es zu verlassen, um die begehrten Früchte Kraft, Erkenntnis und Glück zu erhalten. Einige dieser Erlebnisse möchte ich mit den Lesern teilen. Sie mögen selbst entscheiden, welche Kapitel und Abschnitte der Symbolik des Lebensrades und welche derjenigen des Windpferdes zuzuordnen sind.
Die Auswahl ist höchst unvollständig. Millionen Nepali sind unterwegs, viele auf ganz unterschiedlichen Pfaden. Es ist naturgemäß unmöglich, sie angemessen zu beschreiben. Deshalb ist dieses Buch mit dem Lichtstrahl einer Taschenlampe zu vergleichen, der subjektiv gerichtet begrenzte Ausschnitte der nepalischen Wirklichkeit beleuchtet und Abschnitte der Wege in ihr. Der ländliche Raum steht dabei im Vordergrund, bedingt durch meine Arbeit und mein bevorzugtes Interesse an Lebensweisen außerhalb der Städte.
Die Beschreibungen sind außerdem oberflächlich, müssen es sein, da es unmöglich ist, ins Innere der Wandernden zu schauen. Als Nicht-Nepali blickt man von außen und mit »westlichen Augen« auf die Gesellschaft. Und auch wenn man viele Jahre in diesem Land verbringt, reicht das nicht aus, um es in seiner Vielfalt und Tiefe angemessen darzustellen. 47 Jahre lebte der amerikanische Historiker Ludwig F. Stiller in Nepal. Er sagte einmal: »Um Nepal wirklich zu erfassen, reicht ein Leben nicht.« So können die nachfolgenden Beschreibungen nur als Annäherung verstanden werden, als mein Sichaufdenwegbegeben, um Wege in Nepal zu erkunden und zu verstehen.
Vielen Kapiteln ist eine Jahreszahl vorangestellt, die anzeigt, wann ich Wegsuchenden in Nepal begegnete bzw. wann ich selbst als solcher in dem Land unterwegs war. Manche Kapitel mögen heutigen Nepalinteressierten und -reisenden nicht aktuell erscheinen und wie ein Abgesang auf eine vergangene Zeit wirken. »Doch das Vergangene ist nie tot, es ist nicht einmal vergangen.« Diese Feststellung William Faulkners wird deutlich in den Kapiteln im zweiten und besonders im dritten Teil des Buches, wo beschrieben wird, wie geschichtliche Hypotheken der nepalischen Gesellschaft in die Gegenwart hineinwirken. Vom duldenden »stillen Schrei« in der Vergangenheit ist dort die Rede. Er hat sich zu lautem, teils gewalttätigem Aufbegehren in der Gegenwart gewandelt.
Die Veränderungen in Nepal scheinen immer schneller vonstatten zu gehen, verursacht durch Entwicklungszusammenarbeit mit westlichen Institutionen, durch temporäre Arbeitsaufenthalte Hunderttausender Nepali im Ausland, durch Tourismus, internationalen Handel, Elektrifizierung, Fernsehen, Internet und Straßenbau. In den Jahren 2006, 2007, 2009 und 2014 konnte ich als Tourist das Land wieder besuchen. Die Veränderungen sind offensichtlich. Doch sie beziehen sich vorrangig auf die Städte und die größeren Orte, die nun über Straßen erreichbar sind. Im Allgemeinen wird in den Dörfern abseits davon gearbeitet und gewirtschaftet, gefeiert und getrauert, soziale Nähe oder Distanz gepflegt wie zuvor. Wandel gibt es auch dort. Doch mit dem »Wirbelsturm« der Veränderungen in Kathmandu, Pokhara und in anderen großen Städten ist er noch nicht vergleichbar, noch nicht … Einige kleine, schlichte Erlebnisse verdeutlichen wohl besser als lange Erklärungen: Nach dem Essen in einem ländlichen Teashop im Westen Nepals bat ich den Wirt noch um heißes Wasser für meine Thermosflasche. Er füllte einen Topf, setzte ihn auf den Ofen und öffnete nochmals den Hahn der Gasflasche. Dann nannte er den Preis für das Essen. Ich bezahlte etwas mehr wegen der Zubereitung des heißen Wassers. Energisch lehnte er die zusätzlichen Rupien mit den Worten ab: »Nein, nein, wir sind hier nicht in Kathmandu!« Noch weiter westlich, am Ufer des Flusses Seti, traf ich mit meinen Begleitern auf einen Schnapsbrenner. Zum Kochen unseres Mittagessens überließ er uns einen Teil seiner Werkstatt, die Kochstelle und Brennholz und meinte: »Hier zu leben ist am besten. Man muss nicht für jeden kleinen Dienst zahlen und für einen Händler wie mich gibt es nicht so viele Vorschriften.« Er hatte offensichtlich nicht so gute Erfahrungen in der neuen, veränderten Welt gemacht …
Jedenfalls, gleichgültig ob sich Wandel in Nepals Gesellschaft in verschiedenen Regionen rasch oder sehr langsam vollzieht, ist es wohl reizvoll, Vergleiche anzustellen zwischen »damals« und »heute«, so wie es reizvoll ist, auf die Pfade anderer und die eigenen zu blicken.
Landsberg am Lech, im Pferd-Jahr 2014
Ein Kosmos voller Götter, Geister und Dämonen und zahllose Geschichten, die über sie immer wieder erzählt werden, Ursprungsmythen der verschiedenen Stämme, Legenden und Märchen, Riten und Gebräuche, Feste und Prozessionen, Tänze und Gesänge, Beschwörungen, Opfer und Gebete; Sadhus, Yogis und Schamanen, die großen Tempel und kleinen Steinskulpturen, Bildstöcke, Schreine, Butterlampen, Glöckchen und Bilder, die Gebetsfahnen, Manimauern und Chörten am Wege – Oberflächliche könnten meinen, die Nepali seien ein Volk von Träumern und Phantasten, das in einer Art Märchenwelt lebt. Doch man sollte sich nicht täuschen. Die allermeisten Nepali sind »stocknüchtern«, pragmatisch und immun gegenüber Spekulationen, Traumtänzereien und Verrücktheiten, denen sich mit schrecklichen Folgen Utopisten, Magier, Ideologen und ihre großen Gefolgschaften vor allem in der westlichen Hemisphäre der Welt hingegeben haben.
Viele Missverständnisse, Kommunikationsprobleme, falsche Beurteilungen und Vorurteile, Enttäuschungen und Irrwege entspringen dem Zusammentreffen von Realismus und Illusion. Die schlimmsten aktuellen Wunschvorstellungen und Verirrungen müssen, wenigstens in sehr kurzer Form, erwähnt werden, auch um Auswirkungen der Globalisierung auf die nepalische Gesellschaft in Wirtschaft, Handel und Politik, im Tourismus und in der Entwicklungszusammenarbeit verstehen zu können. Westlicher ideologischer Imperialismus verschiedener Ausprägung machte vor Nepal nicht halt.
Da haben wir zum Beispiel die Vorstellung des französischen Philosophen der Aufklärung Marie Jean Condorcet, die Menschheitsgeschichte würde sich mithilfe der autonomen Vernunft der intellektuellen Elite auf einem Pfad des Fortschritts (progrès) zu einem Paradieseszustand der Vervollkommnung von Industrie und allgemeiner Wohlfahrt hinbewegen und alle Gesellschaften würden der Zivilisation und Aufgeklärtheit Frankreichs und Anglo-Amerikas zustreben, vorneweg die Zivilisierten, dahinter die weniger Zivilisierten und Wilden und Letztere würden verschwinden. Das würde die unausweichliche Konsequenz des Fortschritts und freien Handels sein (Esquisse d’un Tableau Historique des Progrès de l’Esprit Humain, 1793). Wie euphorisiert begrüßt und beschreibt Condorcet die anbrechende neue Epoche der Menschheit auf ihrem Weg der Vervollkommnung und zählt Maßnahmen auf, um diese rasch zu verwirklichen. – So wird er mit seiner Vision der vereinheitlichten Menschheit gemäß französisch-angloamerikanischen Normen zu einem geistigen Wegbereiter der Zerstörung anderer Zivilisationen, die in seinem Verständnis allesamt rückständig sind: »Traditionelle« Gesellschaften haben der »Modernisierung« zu weichen.
Der französische Mathematiker und Soziologe Auguste Comte dachte sich als Ziel der Menschheitsentwicklung die glückliche industrielle Gesellschaft herbei unter der wissenschaftlichen Herrschaft von Intellektuellen, Finanzmagnaten und Industriekapitänen. Nach dem theologischen und metaphysischen Zeitalter der geistigen Menschheitsentwicklung sei jetzt das der positiven Wissenschaft angebrochen. Von Belang sei nur noch die Auseinandersetzung mit Sichtbar-Gegebenem, mit Mess- und Zählbarem (Positivismus). Die Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens und der menschlichen Natur sei veraltet, überflüssig und nicht zulässig (Système Politique Positive, 1851–1854).2 – Ausgegrenzt sind hiermit alle nicht-industriellen und nicht-matieriellen Betätigungen und somit ein großer Teil der Menschheit, der sich mit ihnen befasst.
Der Beitrag deutscher Philosophen von Hegel über Marx, Nietzsche bis Heidegger war auch nicht geeignet, nüchtern auf Geschichte zu blicken als die Summe guter und schlechter Taten der Menschen. Er war nicht geeignet, Respekt vor anderen Kulturen zu erzeugen und ein allgemeines Bewusstsein vom Unrecht staatlich organisierten Mordens zum Zweck von nationaler Glorie, rassischer Reinheit und klassenloser Gesellschaftsordnung zu fördern. Er diente revolutionären Praktikern als Rechtfertigung für ihr Tun.
Der christlichen Heilsgeschichte bis hin zu ihrem jenseitigen Ziel kann man sich nur im Glauben annähern ebenso wie dem Geheimnis der göttlichen Dreifaltigkeit. Das genügte Georg F. W. Hegel nicht. Er zwängte diese Glaubensinhalte in eine innerweltliche Geschichtskonstruktion, in der das jenseitige Göttliche, der »Geist«, sich entwickelt, in dialektischen Schritten zum »Weltgeist« wird und im menschlichen »absoluten Wissen«, d.h. im »reinen Fürsichsein des Selbstbewußtseins« des »reinen Ich« erkennbar wird und sich als »subjektiver Weltgeist« vollendet. Als »objektiver« vollendet er sich im »Staat«. Besonders in den europäischen Imperien eines Caesar, Napoleon und Friedrich II. wird das Walten des Weltgeists vorübergehend sichtbar. Um den dialektischen Vorgang zu unterstützen, empfiehlt Hegel den Regierungen, die Gesellschaft »von Zeit zu Zeit durch Kriege zu erschüttern«, damit das »Ganze nicht auseinanderfalle und der Geist verfliege«. Der »Endzweck« des Geschichtsprozesses ist erfüllt, wenn der Weltgeist vollendet und damit alle Abhängigkeit aufgehoben ist. Dann leben Mensch und Gesellschaft in »absoluter Freiheit«, frei von allen bisherigen Bindungen durch Philosophie und Offenbarung. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von 1807 erklärt Hegel: »Daran mitzuarbeiten, dass die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, – ist es, was ich mir vorgesetzt.« Offenbarung und Philosophie sind das »unentwickelte Einfache«, Ausdruck des »rohen Bewusstseins«. Jetzt, seit der Französischen Revolution und Hegel, »bilden sie die Schädelstätte des absoluten Geistes«. Um seine Konstruktion nicht zu gefährden, scheute sich Hegel nicht, die Geschichte anderer Gesellschaften entweder zu ignorieren oder sie so der europäischen anzugliedern, dass dieser das Privileg erhalten bleibt, Höhepunkt der Entwicklung und Maßstab für außereuropäische Gesellschaften zu sein. – Welch eine Einladung zu Staatshörigkeit, Eurozentrismus und Egomanie! Und welch eine Abkehr eines Philosophen vom Wesen der Philosophie als offener, suchender Wissenschaft, die er durch seine Gewissheit des Wissens und das »System der Wissenschaft« als das Ende und die Vollendung der Geschichte zu ersetzen versucht!
Karl Marx war wie seine Vorgänger und Zeitgenossen, die sog. Frühsozialisten Englands, Frankreichs und Deutschlands, erschüttert vom Arbeiterelend zur Zeit der beginnenden Industriellen Revolution. Er sah alle bisherige Geschichte als Geschichte des Klassenkampfes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten und propagierte das klassenlose Reich absoluter Freiheit gegründet auf einer vom Menschen organisierten Welt des materiellen Überflusses, »wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat …, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt … zu werden, wie ich gerade Lust habe«. Nicht Hegels Weltgeist sondern die ständige Verbesserung der materiellen Produktionsverhältnisse bestimmt nun den Fortgang der Geschichte. Dafür ist »eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann …, die die Arbeit beseitigt und die Herrschaft aller Klassen und die Klassen selbst aufhebt«. »Der Kommunismus schafft … die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden« und entwickelt sie zu »totalen Individuen«. Dazu gehört auch und im Besonderen die Befreiung von Philosophie und Religion (Die Deutsche Ideologie, 1844; Manifest der kommunistischen Partei, 1848). – Auch hier: Aufruf zu Egomanie des absolut freien, totalen Individuums, das aber – ein riesiger Widerspruch bei Marx – völlig von der Gesellschaft abhängig ist, die ja die materielle Produktion so regelt, dass das Individuum jederzeit tun kann, wozu es gerade Lust hat. Und ferner: Diese intellektuelle Arroganz, welche wider besseres Wissen die ganze Geschichte auf eine Geschichte des Klassenkampfs verengt und Erlösung durch revolutionäre Veränderung des Menschen verspricht; diese Engstirnigkeit, die ausschließlich Stufen des materiellen Fortschritts als relevant ansieht und philosophische und religiöse Einsichten anderer Menschen ausblendet!
Sprachgewaltig verkündete Friedrich Nietzsche, dass Gott nun tot sei, ermordet durch den »Übermenschen«, der sich an seine Stelle setzt. Er ist das Ziel der Menschheit und erscheint immer wieder in »höchsten Exemplaren« wie zum Beispiel als Caesar und Napoleon. Es ist ein Mensch zu entwickeln, der dem Menschen, wie er nun mal ist, übertrifft (Die fröhliche Wissenschaft, 1882; Also sprach Zarathustra, 1883–85; Ecce homo, 1888). – Solche »Philosophie« ist nicht nur selbstverliebte Theatralik, grandiose Vermessenheit und Selbstüberhebung im schriftlichen Werk eines Denkers sondern sie bietet die willkommene Berufungsgrundlage für revolutionärer Praktiker, um den »alten« Menschen durch den »neuen« zu ersetzen. Mit Theatralik und Selbstüberhebung wurde in den Ersten Weltkrieg gezogen, buchhalterisch-industriell durchgeführte Menschenvernichtung folgte im Dritten Reich, um für die »arische Rasse« Raum zu schaffen.
Aus der Wiederkunft Christi, die nur dem Glauben zugänglich ist, wurde im Denksystem Martin Heideggers das innerweltliche Sein, das sich im Seienden zeigt und verwirklicht und zum »Anwesen« und »Dasein« im verstehenden Ich wird, auf das es gerichtet ist. Der Mensch ist der Sinn gebende Grund der Wirklichkeit. Glaube und Philosophie werden durch Wissen ersetzt. Dabei ist Heideggers Sein nicht das jenseitig Absolute, sondern die »Ur-Zeit«, die »sich zeitigende Zeit: das sich je anders zuschickende Geschick«. In diesen Prozess des schicksalhaften Entbergens, Erscheinens und der Ankunft hat sich der Mensch zu fügen und ist aufgerufen, ihn mitzugestalten (Sein und Zeit, 1927; Einführung in die Metaphysik, 1953). – Und Heidegger fügte sich und zwar auch dem nationalen Ausbruch der Rassenideologie als Seinserscheinung. Von 1933–1945 war er Mitglied der NSDAP. Er gehörte zu den Rednern und Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat. Der von Vielen zum Denker epochalen Formats emporgehobene Heidegger wirkte in Schrift und Rede mit am arischen »Tausendjährigen Reich«.3
Manche der geschilderten Endzustände kämen von selbst durch Evolution im Ablauf der Zeit, andere würden erreicht durch revolutionäres Tun. Mittlerweile wissen wir: Die Rassenideologie führte geradewegs in die Konzentrationslager, den Orten der »Endlösung«, die das deutsche Volk von allen Übeln befreien sollte; das erträumte Reich absoluter Freiheit endete im Gulag Stalins und auf Pol Pots Killing Fields und unter dem materiellen Fortschrittswahn leiden weltweit Mensch und Natur. Zu keiner Zeit wurde so viel wie im 20. Jahrhundert zerstört und gemordet. Auch das irrsinnigste Produkt technischen Fortschritts, die Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden und alles Leben bis zum letzten Baby auslöschten, stammte aus der westlichen Hemisphäre.
Spekulationen und Phantastereien über einen innerweltlichen Glückszustand der Menschheit als Ziel der Geschichte sind den meisten Nepali fremd. Damit befinden sich Hindus und Buddhisten in Gemeinschaft mit abendländischen Denkern, die sich ebenfalls gegen ideologische Verengungen des Denkens verwahrt haben. Die Geschichte der westlichen Hemisphäre beinhaltet nicht nur geistige Verirrungen, Kriege, Mordorgien und Naturzerstörung sondern auch geistige Anstrengungen, welche die Grundlagen schufen für die Formulierung der Menschenrechte und für das Entstehen demokratisch verfasster Gesellschaften. Auch mit diesem Erbe ist die nepalische Gesellschaft in Kontakt, besonders nachdem 1951 die Grenzen für einreisende Ausländer und ausreisewillige nepalische Staatsbürger geöffnet wurden.
Für Platon und Aristoteles kann eine kranke Gesellschaft nur durch die Medizin der suchenden »Liebe zum Guten«, von dem sie sich ordnen lassen muss, geheilt werden. Sie ist allumfassend und betrifft das Göttliche, das Ich und die Mitmenschen. Sie ist Voraussetzung für »politische Freundschaft«, die den Bürgern »das Zuträgliche und Gerechte« zukommen lässt, und für »Eintracht im Gemeinwesen«. Die Denker der klassischen Philosophie, Heraklit, Platon und Aristoteles, waren zudem gefeit vor realitätsfernen Geschichtsspekulationen. Sie verstanden es, die Balance zu halten zwischen den im ganzen Kosmos gültigen Gesetz, dass Entstandenes wieder zugrunde geht und neu entsteht auf der einen Seite und dass in jedem Organismus Kräfte liegen, die auf seine Entwicklung und Vollendung zielen, auf der anderen. Sie nannten diese treibenden Kräfte im Menschen Liebe, Hoffnung und Glaube. Die Balance verhindert sowohl Weltflucht in paradiesische Endzustände als auch romantisch-fatalistische Hingabe an den Lauf der Dinge (Heraklit, Fragmente; Platon, Politeia, Nomoi; Aristoteles, Nikomachische Ethik, Politik).
Polybios der sich mit der Geschichte des griechisch-römischen Kulturkreises von 264–146 vor Christus befasste, kam zum Schluss, dass »Vernunft«, »Gerechtigkeit« und »das Vorherrschen des sittlich Guten« den positiven Zustand einer Gesellschaft hervorbringen, der sich ins Negative wendet, wenn unkontrollierte »Begierden« und »Hass« die Oberhand gewinnen. Um möglichst lange dem »inneren Verfall« einer Gesellschaft vorzubeugen, ist für Polybios Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle von Verfassungsorganen unabdingbar (Geschichte, Buch VI).
Niccolo Machiavelli schreibt 1531 in den Discorsi: »Denn die menschlichen Dinge sind immer in Bewegung, sie steigen oder fallen … infolge des Wechsels der Sitten.« »Wenn man den Schatten mehr als die Sonne liebt, ist das der Anfang des Verfalls.« Sollen Gemeinschaften lange bestehen, müssen sie »sich häufig erneuern …, Religion wie sie ihr Stifter gegründet hat und Gerechtigkeit erhalten und die guten Bürger achten und deren Tugenden«.
Henri Bergson spricht von der »geschlossenen und offenen Seele« und entsprechend von »geschlossenen und offenen Gesellschaften«. Erstere sind ausschließlich dem leiblichen Wohl zugewandt und deshalb steril, unfruchtbar und »gleichgültig«, ja »aggressiv« gegenüber den Mitmenschen. Offene Seelen und Gesellschaften dagegen sind charakterisiert durch »Empfangen und Weitergeben von Liebe«. Sie sind deshalb »in Bewegung«, lebendig, schöpferisch und erfinderisch im Überwinden von Schwierigkeiten (Les deux sources de la Moral et de la Religion, 1932).
Für Eric Voegelin ist eine Gesellschaft in guter Verfassung, wenn die Einsicht in die allen Menschen gemeinsame Natur (universal humanity) weit verbreitet ist und die Gesellschaft danach handelt. »Universal humanity« ist charakterisiert durch die menschliche Teilhabe an der materiellen und nichtmateriellen Wirklichkeit bis hin zum Bereich des fragenden Strebens nach dem göttlichen Grund der Existenz, aus dem sie sich ordnen kann. Mit dieser ganzheitlichen Teilhabe sind Bedürfnisse verbunden. Eine Gesellschaft in gutem Zustand ermöglicht deren Befriedigung (Order and History, 1956–2000; besonders Band IV: The Ecumenic Age).
Nach umfangreichen empirischen Studien kam Arnold Toynbee zu dem Schluss, dass Zivilisationsgesellschaften wachsen gemäß ihrer Fähigkeit, auf eine Reihe von äußeren Herausforderungen erfolgreich zu antworten, indem Probleme nicht negiert werden sondern nach Lösungen gesucht wird. Das schließt ein, dass sich eine Gesellschaft selbst als Gegenstand der Herausforderung erfährt. Ohne die Fähigkeit zur Selbstkritik gibt es keine Kreativität, die den Herausforderungen erfolgreich begegnen könnte. Die wachsende Selbstfindung und Selbstbestimmung verlagert sich also vom »Makrokosmos« zum »Mikrokosmos« der Gesellschaft. Nicht abstrakte Ideen oder Gesetzmäßigkeiten sind nach Toynbee die entscheidenden Triebkräfte der Geschichte, sondern das Wirken konkreter Menschen: Deshalb sind für ihren Untergang Zivilisationen selbst verantwortlich. »Sie sterben durch Selbstmord, nicht durch Mord«, wenn dem materiell-technischen Zuwachs nicht ein geistig-moralischer entspricht (A Study of History, 1934–1961). An anderer Stelle begründet Toynbee den Untergang einer Zivilisationsgesellschaft damit, dass sie übermäßig ins Militär investiert und erarbeiteten Wohlstand nicht gerecht verteilt (Mankind and Mother Earth, 1976).
Ganz im Sinne Toynbees schreibt der Nepali Dipak Gyawali: »Gesunde Veränderung bedeutet, dass die Gemeinschaft auf Änderungen natürlicher und menschlich verursachter Faktoren, wie Stress auslösend sie auch immer sein mögen, antworten kann ohne in Verzweiflung zu geraten. Fehlendes Zutrauen, solche Herausforderungen zu bewältigen, führt zu Reaktionen wie Rückzug in Fundamentalismus, ethnische Anpassung, Korruption und Fatalismus. Gesunde gesellschaftliche Systeme ziehen schmerzvolle Veränderungen freiwilligem Selbstmord vor, doch kranke, in ihrer törichten Angst vor der Zukunft, sind gelähmt und unfähig, Initiativen zu ergreifen. Das Ergebnis ist Verkümmerung und Verfall. Zu schnelle Veränderung verschlechtert oft die Situation« (Gyawali, Stress, Strain and Insults, 1992).
Das Geschichtsbild der Nepali gleicht den unzähligen Pfaden in ihrem gebirgigen Land. Es ist ein ständiges Auf und Ab, wobei das Aufwärts bestimmt ist durch tugendhaftes Verhalten und das Abwärts durch unkontrolliertes Ausleben der Leidenschaften. Man kann wohl von einer wellen- oder sinusförmigen Figur der Geschichte sprechen. Individuen, Familien, Sippen, Stämme und die ganze Gesellschaft sind dem ehernen Gesetz von Ursache und Wirkung (karma) unterworfen. Wenn die Mitglieder der Gesellschaft mehrheitlich Gutes tun, dann befindet sie sich in karmischem Aufstieg. Andere Mittel, die dem Menschen zuhanden wären, wie Abkürzungen zu Glück und Unsterblichkeit oder gar einen Automatismus, der zur Vervollkommnung führte, gibt es nicht.
Zwei Symbole stehen für das Geschichtebild des hinduistisch-buddhistischen Kulturkreises: Das »Lebensrad« (samsara, bhavachakra) – bedeutungsgleich mit »Rad des Werdens«, »leidvoller Kreislauf der Wiedergeburt« – ist Sinnbild des Verharrens in Verblendung, Gier und Hass, wodurch der Mensch wie in einem Laufrad gefangen bleibt. Es ist auf unzähligen Darstellungen zu finden. Das Verlassen des Rades wird durch das Glück bringende »Windpferd« (ashvavayu, rlung-rta) symbolisiert, dessen Bild Millionen von Gebetsfahnen tragen. Das Windpferd steht für das menschliche Bestreben, die leidvolle Existenz zu verlassen, was nur durch rechtes Tun (dharma) möglich ist. Es steht aber auch für die Hoffnung und Zuversicht, dass es dafür Hilfe von »außen«, überirdischen Beistand gibt.
Lebensrad
»Das Rad des Werdens ist … eine Darstellung … des leidhaften Wiedergeburtenkreislaufs (samsara), aus dem Befreiung zu finden jedermann bemüht sein sollte … Der grimmige, scharfzähnige Dämon des Todes (mara) hält das Werdensrad in seinen Krallen. Außerhalb des Rades, frei von der Wiedergeburt, stehen der Buddha und der Transzendente Bodhisattva (Avalokitesvara). Mit ausgestrecktem Arm weist der Buddha auf den vollen Mond, um so an die Vollmondnacht … zu erinnern, in der ihm der Weg aus dem Samsara offenbar und er selbst zum ›Erwachten‹ (buddha) wurde. Das Mitleid des Bodhisattva Avalokitesvara durchdringt alle Sechs Reiche, Welten oder Existenzformen der Wiedergeburt. Seine rechte Hand ist in der Gewährungsgeste nach unten ausgestreckt. Sinnfällig verkörpert durch Schwein, Schlange und Hahn jagen sich im Zentrum des Werdensrades die in die Wiedergeburt verstrickenden Leidenschaften Gier, Hass und Dummheit im Kreise. Der an das Zentrum angrenzende Ring deutet in der rechten Hälfte den karmischen Abstieg, in der linken den karmischen Aufstieg an: die beiden Möglichkeiten, zwischen denen jeder zu wählen hat. Die Sechs Reiche, Welten oder Existenzformen, in denen die Wesen je nach Taten und Tatabsichten wiedergeboren werden, sind in den sechs Sektoren des breiten Ringes dargestellt. In jeden der Sechs Reiche ist … Avalokitesvara bemüht, den Wesen dort Erleichterung ihres Loses … zu bringen. Der Außenring symbolisiert … die Stationen des konditionalen Entstehens …«
Hans Wolfgang Schumann, Buddhistische Bilderwelt, 74–81
»Entsprechend karmischer Gesetzmäßigkeit geht keine unserer Handlungen und keiner unserer Gedanken verloren. Jeder hinterlässt einen Eindruck in unserem Charakter, und die Gesamtsumme der so geschaffenen Eindrücke oder psychischen Tendenzen unseres Lebens bildet die Basis für das nächste. Solange aber die Menschen sich nicht dieser Kontinuität bewusst sind, handeln sie nur unter dem Zwang ihrer augenblicklichen Bedürfnisse und Wünsche oder entsprechend ihrer begrenzten Ziele, indem sie sich mit ihrer gegenwärtigen Persönlichkeit und Lebensspanne identifizieren. Auf diese Weise werden sie richtungslos von Existenz zu Existenz geworfen und finden nie eine Gelegenheit, die Kettenreaktion von Ursache und Wirkung zu durchbrechen.«
Lama Anagarika Govinda, Der Weg der weissen Wolken, 184
Die bildliche Darstellung des Lebensrades leitet sich aus den Texten her, wie sie Hindus und Buddhisten geläufig sind:
»Wie er handelt, wie er wandelt, so kommt er nach dem Tode zur Entstehung. Einer der gut handelt, kommt als Guter zur Entstehung, einer der schlecht handelt, als ein Schlechter.«
Upanishaden, BAU 4.4.6
»Die an Genuss und Herrschaft hängen … erlangen niemals die Weisheit der Entschlossenheit und kehren, o Arjuna, auf den Pfad des sterblichen Daseins zurück …«
Bhagavadgita II, 44; IX, 3
»Durch das Nichtverstehen, Nichtdurchdringen von vier Wahrheiten, ihr Jünger, haben sowohl ich als auch ihr diese lange Zeit des Daseins durcheilt, das Dasein durchwandert. Von welchen vier Wahrheiten? Durch das Nichtverstehen, Nichtdurchdringen der edlen Wahrheit vom Leiden, von der Leidens-Entstehung, von der Leidens-Erlöschung und den zur Leidens-Erlöschung führenden Pfad.«
»Von Gier, Hass und Verblendung getrieben, überwältigt und gefesselt wirkt man zum eigenen Schaden, zu des anderen Schaden, zu beiderseitigem Schaden …«
Buddha, nach Nyanatiloka, Das Wort des Buddha, 15, 39
Windpferd
»Dieses Glückssymbol stellt das Windpferd … mit dem flammenden Juwel … dar, das alle Wünsche erfüllt. Die Verbreitung des Wunsches, der allen Wesen Glück bringen soll, wird durch mythologische Tiere betont, welche die Weltrichtungen anzeigen und deren Namen in den Ecken angegeben sind: Tiger, Löwe, Urvogel und Drache. Die heiligen Formeln … gelten der Invokation von Vajrapani, Manjushri und Avalokiteshvara für Kraft, Weisheit und Barmherzigkeit.«
Blanche Christine Olschak / Geshé Thupten Wangyal, Mystik und Kunst Alttibets, 5
»Das Pferd ist Symbol für Glück und Sieg. Es heißt, es könne in den endlosen Himmel fliegen … Der Hengst symbolisiert die Bewegung von der unfreundlichen in die freundliche, von der schlechten zur guten Welt …«
Gyonpo Tshering, An astrological Guidebook for everyday Life, 11, 76
Manchmal ist das Windpferd in blauer Farbe dargestellt.
»Seine blaue Farbe lässt es als eine Manifestation des Adi-Buddha erkennen, der das letztliche Wesen der Wirklichkeit repräsentiert – endlos und ohne Gestalt wie der weite Himmelsraum.«
Bernbaum, Der Weg nach Shambhala, 1884
Die bildliche Darstellung des Windpferdes leitet sich aus den Texten her, wie sie Hindus und Buddhisten geläufig sind:
»Der höchste Urgeist wird erlangt durch Liebe, er, in dem alle Wesen sind, durch den die ganze Welt gemacht.«
»Wer für mich wirkt, mich als sein Ziel betrachtet, mich verehrt, frei von Begierde und ohne Feindschaft gegen alle Geschöpfe ist, der gelangt zu mir.«
»Die Weisen handeln sich mühend um der Menschheit Wohl.«
Bhagavadgita, VIII, 22; XI, 55; III, 25
»Sich dem sinnlichen Genuss … und sich der Selbstkasteiung hingeben, … diese beiden Extreme hat der Vollendete vermieden und den mittleren Pfad erkannt, der … zur Stillung, Durchschauung, Erleuchtung und zum Nirwahn führt. Was aber ist jener mittlere Pfad? Es ist jener edle Achtfache Pfad, nämlich rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Tun, rechter Lebensunterhalt, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit, rechte Sammlung.«
»Kein andrer Pfad wie dieser ist’s,
Der zur Erkenntnisreinheit führt.
Drum wandelt diesen Pfad entlang,
Dann wird der Mahr geblendet sein.
Denn wenn ihr diesem Pfade folgt,
Macht ihr ein Ende allem Leid.
Gelehrt hab’ ich den Pfad, erkannt
Wie man vom Stachel sich befreit.
Ihr selber müsst euch eifrig müh’n,
Die Buddhas zeigen bloß den Weg.
Wer diesem folget selbstvertieft,
Wird aus den Banden Mahrs erlöst.«5
Lebensrad und Windpferd – die Symbole aus dem hinduistisch-buddhistischen Kulturkreis sind Ausdruck zeitloser allgemeiner Erfahrung, wie auch die kurzen Ausführungen zu Platon, Aristoteles, Polybios, Machiavelli, Bergson und Toynbee zeigten. Zweieinhalbtausend Jahre nach Buddha schreibt der weit gereiste italienische Journalist und Schriftsteller Tiziano Terzani: »Ich bin zur einzigen Revolution übergegangen, die etwas bringt, nämlich die, die in einem selbst stattfindet. Wozu die anderen führen, siehst du ja. Alles wiederholt sich, immer wieder, denn ausschlaggebend ist letztlich die menschliche Natur. Und wenn der Mensch sich nicht ändert, wenn der Mensch keinen Qualitätssprung schafft, wenn er nicht auf Gewalt verzichtet, auf die Herrschaft über die Materie, auf den Profit, auf seinen Eigennutz, dann wiederholt sich alles bis in alle Ewigkeit.«6
Wie sich Partner im Dialog beeinflussen, so auch Gesellschaften und Kulturen, wenn sie aufeinander treffen. Es ist ein Geben und Empfangen. Seit 1951 wurde Nepal besonders durch westliche Entwicklungshilfe und Tourismus rasch und tiefgreifend beeinflusst, so intensiv, dass nepalische Analytiker immer wieder eine Denkpause fordern. Sie sei zu nutzen, um sich klar zu werden, welcher Art die Beeinflussung von außen wäre und welche Auswirkungen sie auf die nepalische Gesellschaft habe: Will man im Westen entwickelte Ideologien mit ihren Folgen zum Vorbild nehmen oder sich an den Vertretern einer offenen und ganzheitlich orientierten Gesellschaft ausrichten? Nepals westliche Partner haben beides im Gepäck und Angebot. Die Denkpause sei des Weiteren zu nutzen, um sich der selbstverschuldeten Missstände in der Gesellschaft – wovon ausführlich die Rede sein wird – sowie der eigenen ethischen und kulturellen Quellen bewusst zu werden. Herauszufinden wäre, welche der eingeschlagenen und einzuschlagenden Wege dem samsara und welche dem rlung-tra zuzuordnen wären. – Nepal zwischen Lebensrad und Windpferd.