MARINA BELLEZZA
Roman
Aus dem Italienischen von
Michael von Killisch-Horn
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Klett-Cotta
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Marina Bellezza«.
© 2013 RCS Libri S.p.A., Milan
Für die deutsche Ausgabe
© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagillustration von Francesca Leoneschi unter
Verwendung eines Fotos von © Rachel Baran Edwin
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98018-9
E-Book: ISBN 978-3-608-10716-6
Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.
Für Sara, meine Mutter
Ein unbestimmter Schimmer leuchtete irgendwo zwischen den Bäumen, etwa zehn Kilometer von der SP 100 entfernt, die sich zwischen zwei gewaltigen schwarzen Bergen hindurchzwängte. Er war das einzige Zeichen, dass es noch Leben in diesem Tal gab, an der nackten und vergessenen Grenze der Provinz.
Sie sahen ihn durch die Windschutzscheibe auftauchen. Dann, in der nächsten Kurve, verloren sie ihn aus den Augen.
Sie verlangsamten die Geschwindigkeit an einer Kreuzung, umgeben vom Nichts, vor der Ruine eines Restaurants. Zwei verrammelte Fenster und eine Tafel, auf der MENÜ und weitere unleserliche Worte verblassten. Einer von ihnen erinnerte sich, dass er hier seine Erstkommunion gefeiert hatte. Zwanzig Jahre später waren nur noch das Dach und die Eisengitter übrig. Zwanzig Jahre später war alles vorbei.
Sie beschleunigten wieder. Auf diesem Straßenabschnitt gab es keine Laternen, keinen Maschendraht, der sie vor den Felsmassen schützte, die bedrohlich vorragten. Im Scheinwerferlicht wurden Bruchstücke von Schluchten voller Brombeersträucher sichtbar und von Zeit zu Zeit ein einsames verfallenes Haus. Selbst die Straßenschilder verloren sich hier oben in der leeren Nacht.
Sie waren die Einzigen, die auf der SP 100 zwischen der Talsohle und der Verlassenheit unterwegs waren. Sie fuhren in einem alten Volvo Kombi zwischen Schluchten die Haarnadelkurven hinauf, die sie schon ihr ganzes Leben kannten. Je höher sie kamen, desto gespenstischer erschienen die Laubbäume. Die Wände des Tals verengten sich steil auf den Wildbach zu, und durch die geöffneten Wagenfenster drang nur das eintönige Tosen des Wassers herein.
Das Licht erschien erneut, schwach, halb verdeckt von einem Bergrücken. Sie betrachteten es, ohne etwas zu sagen.
Sie kamen nach Andorno. Die Ampeln blinkten orange, und der Volvo brauste mit 90 Stundenkilometern dahin, ohne sich um Stoppschilder und Vorfahrten zu kümmern.
Nach dem Friedhof, nach dem, was von dem kleinen Fußballfeld übriggeblieben war, auf dem sie groß geworden waren, erwartete sie das schäbige Gebäude der Bar Sirena mit seinem erloschenen Schild. Sie parkten und stiegen aus. Einer war groß, einer untersetzt, und der Dritte hatte Augen schwärzer als Öl. Sie näherten sich der Tür. Im Innern kein Geräusch. Sie zogen trotzdem an ihr.
»Geschlossen.«
Sebastiano, der Große, blieb wie angewurzelt vor dem Eingang stehen. Er starrte die Tür finster an und versetzte ihr einen Tritt, und dann noch einen. Die Tische draußen waren übereinandergestapelt und mit einer Schnur zusammengebunden, als könnte jemand auf die Idee kommen, sie zu stehlen. Auf der Erde lagen zusammengeknüllte Zigarettenschachteln.
Luca, der Untersetzte, ging um das Gebäude herum und inspizierte die Rückseite.
»Nichts, es ist wirklich geschlossen.«
»Gehen wir«, sagte Andrea.
Er war ganz ruhig.
»Und wohin?«
Sebastiano war nervös, er sah Andrea an, als müsste er ihn herausfordern, und erwartete eine Antwort von ihm. Luca zog sein Handy aus der Tasche und scrollte die Namen im Telefonbuch durch.
»Keine Ahnung«, sagte Andrea. Er rückte seinen Hemdkragen zurecht und zündete sich eine Lucky Strike an. Die Stadt war nichts für ihn, er hatte sich nie wohlgefühlt in den Lokalen der Hauptstadt. Er zog die seit Jahrzehnten von den Menschen verlassenen Berge vor, hier fühlte er sich wenigstens nicht als Fremder.
Er drehte sich um und betrachtete oben, zwischen der Valle Cervo und der Valle Mosso, das Licht, das noch nicht ganz verschwunden war und sich in der Feuchtigkeit der Nacht trübte. Mit einer Kopfbewegung machte er die anderen darauf aufmerksam. Sie sahen ihn zweifelnd an und stiegen wieder in den Wagen.
Sebastiano ließ den Motor an und fuhr erneut durch Andorno. Diesmal wechselte er die Straße und nahm die SP 105 nach San Giuseppe di Casto. Jetzt war der Schimmer deutlich besser zu sehen. Sie sagten nichts, beschlossen aber, ihm zu folgen. Vielleicht war es nur ein Feuer, aber sie entschieden, ihm trotzdem nachzufahren.
In San Giuseppe gab es einen Zeitungskiosk, einen Lebensmittelladen und eine Kirche. Nach ein paar Kilometern erschien der Ort im Rückspiegel. So waren alle Dörfer in dieser Gegend: verlassen, die Fensterläden geschlossen und die Schilder erloschen. Doch sie hatten nie daran gedacht wegzuziehen, im Gegenteil: Ihre Gefühle und ihr Orientierungssinn wurden von diesen Straßen, von diesen Bergen diktiert.
An manchen Abenden, wie diesem, waren sie sehr wortkarg. Andrea lehnte mit der Schläfe am Fenster und blickte hinaus. Sebastiano fuhr und genoss seine Freiheit, die er nach neun Monaten Hausarrest wiedergewonnen hatte. Nur ganz kurz fragte er sich, was sein Sohn eines Tages, wenn er groß wäre, von ihm denken würde.
Die Ortschaft Golzio. Die Stereoanlage war kaputt, und sie sprachen noch immer nicht. Der enge Kontakt mit den Wäldern und den Felsen hatte sie schweigsam gemacht. Luca scrollte noch immer die Namen im Telefonbuch durch auf der Suche nach einem Mädchen, das er anrufen könnte – eine Freundin, irgendeine –, konnte sich jedoch nicht entschließen.
»Ich würde gern wissen, wohin wir fahren«, sagte er.
Niemand antwortete ihm. Die Wälder waren dunkle Massen, in denen die Äste sich ineinander verhakten. Sebastiano fragte sich die ganze Zeit, ob Mathias auf ihn oder auf seine Mutter, diese blöde Kuh, hören würde. Andrea dagegen dachte an seinen Vater und redete sich ein, erwachsen genug zu sein, um ihm die Stirn zu bieten. Alle starrten auf die in der Dunkelheit begrabenen Schluchten, ein Niemandsland. Kleine verfallene Dörfer zwischen den Felsen. Hundert, zweihundert Einwohner.
Sie verfolgten nach wie vor das Licht dort oben, das nichts versprach, so klein jetzt, dass es einer Kerzenflamme ähnelte. Während sie die leere Straße hinauffuhren und sich in diesen Schlund von Tannen und Gestrüpp stürzten, grübelten sie weiter vor sich hin, ohne zu wissen, wie sie einen Billardsaal, eine offene Bar finden, was sie anstellen könnten, damit irgendetwas in dieser Stille geschähe.
Und als Sebastiano sich im Bruchteil einer Sekunde zu den Rücksitzen umdrehte und Andrea fragte, ob er ihm eine Zigarette anzünden könnte, und Luca sich ebenfalls umdrehte, um das Feuerzeug an sich zu nehmen, das Andrea heruntergefallen war, geschah tatsächlich etwas.
Es schoss in wahnsinniger Geschwindigkeit aus einem Busch und tauchte mitten auf der Straße auf. Doch anstatt sie zu überqueren, blieb es stehen. Und es war lebendig. Es war riesig. Und es rührte sich nicht. Es stand da, als hätte eine unbekannte Macht es versteinert.
Zwei gelbe Kreise leuchteten in der Nacht auf und brachen das Licht der Scheinwerfer wie Spiegel, nur dass die drei nichts sehen konnten. Und noch bevor sie begriffen hatten, noch bevor Sebastiano sich endlich umdrehte und instinktiv auf die Bremse trat, prallte der Volvo dagegen.
Der Zusammenstoß war verheerend. Es war der Zusammenprall eines Körpers aus Blech mit einem anderen noch härteren Körper. Scheinwerfer und Motor gingen gleichzeitig aus. Luca war mit dem Gesicht gegen die Windschutzscheibe geknallt, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Andrea war eingeklemmt zwischen den Vordersitzen. Es herrschte eine Stille, die ebenso abgrundtief war wie die stockdunkle Nacht, in die sie gestürzt waren. Sebastiano hielt noch immer das Lenkrad umklammert.
Es gab einen Augenblick der Panik, in dem alle drei mit weit aufgerissenen Augen keuchten, zu etwas anderem waren sie nicht fähig. Dann wurde ihnen klar, dass der Volvo mitten auf der Straße seinen Geist aufgegeben hatte.
»Verdammte Scheiße«, schrie Sebastiano. Und suchte die anderen mit dem Blick.
Sie hatten dunkelrote Gesichter, und ihr Herz schlug so heftig, dass sie gegenseitig ihren Herzschlag hören konnten. Sie waren am Leben.
»Was war das denn?«, fragte Luca.
»Was immer es gewesen sein mag«, sagte Andrea, »es ist immer noch dort draußen.«
Diese einfache Feststellung genügte, damit sie wie angewurzelt sitzen blieben.
»Und wenn wir einen getötet haben?«
»Einen?«
Sie verstummten, wie gelähmt durch den Gedanken an die Folgen.
Dann fasste Sebastiano sich und schlug mit der Faust auf das Lenkrad.
»Scheiße, was redet ihr da? Ich geh nicht wieder in den Knast zurück.« Er versuchte den Motor anzulassen. »Er springt nicht an …«
Er beugte sich vor, um durch die vom Regen und den Fliegen verschmutzte Scheibe nach vorn zu sehen. Er stellte fest, dass die Motorhaube zusammengeknautscht war. Daraufhin riss er wütend die Wagentür auf.
Auch die anderen stiegen aus. Die Dunkelheit bewegte sich im Wind zwischen den Schluchten und den Wäldern wie ein Lebewesen. Die linke Seite der Motorhaube schien ganz und gar zusammengepresst worden zu sein, da war nichts mehr zu machen. Einer der Scheinwerfer existierte nicht mehr. Aber das war kaum zu erkennen; es drang kein anderes Licht zu ihnen als das sehr schwache des Mondes.
Sie gingen nachsehen, obwohl sie hofften, dass es nichts zu sehen gäbe. Aber da war etwas: ein ausgedehnter Fleck auf dem Asphalt, etwa zehn Meter entfernt auf der durchgehenden Linie, die die Fahrbahn teilte, und er bewegte sich.
Sebastiano näherte sich als Erster, während die anderen zurückblieben. Er beugte sich leicht vor und machte dann einen plötzlichen Satz nach hinten.
»Scheiße!«
»Was ist los?«
Die Straße war leer, die Handys hatten keinen Empfang.
»Luca, schalte die Scheinwerfer an, sofort!«, rief Sebastiano schockiert.
Andrea war stumm geblieben, wie zu Eis erstarrt durch die nächtliche Szene, die keinen Sinn ergab und doch geschehen war.
Sebastiano hörte nicht auf, sich vorzubeugen und sich wieder zurückzuziehen, als hätte er noch nicht den Mut gefunden hinzublicken. Luca drehte mit schweißnassen Fingern den Schlüssel im Schloss, doch der Motor sprang nicht an.
Andrea ging zu Sebastiano und dann zu der dunklen leblosen Gestalt, die dort mitten auf der Landstraße lag. Er kniete sich hin, um sie zu betrachten, um zu erkennen, wer oder was das war, doch in dem Augenblick gelang es Luca, den Motor in Gang zu bringen, und der rechte Scheinwerfer flammte plötzlich auf und blendete ihn.
In manchen Augenblicken denkst du an nichts, weißt du nichts und bist niemand.
In manchen Augenblicken, mit siebenundzwanzig, kennst du nur eines, das Wichtigste, das Wahrste von allem: die Angst.
Als Andrea die Augen wieder öffnete, sah er unter sich eine grauenvoll braune, blutige Masse. Und als er das Gleichgewicht verlor und versehentlich mit dem Fuß dagegenkam, stieß sie einen herzzerreißenden Schrei aus, zugleich unmenschlich und menschlich, und begann am ganzen Körper zu zittern.
»Es lebt …«
Das Mädchen, das in seinem Peugeot 206 Cabrio zwischen den Reisfeldern fuhr und jetzt die Geschwindigkeit drosselte an der Kreuzung von Carisio, suchte ein Motel, in dem es nie gewesen war.
Es hätte da sein müssen, dreihundert Meter vor der Mautstelle, stattdessen sah sie nur ein unfertiges Gebäude und eine Reihe rostiger Container.
Auf dem Gelände einer Tankstelle kehrte sie um und versuchte, in eine Nebenstraße einzubiegen. Es war derartig dunkel, dass selbst jemand von hier die Orientierung verlieren konnte, und erst recht sie, die die Autobahn so selten genommen hatte.
Dann sah sie einen blinkenden Pfeil, der eine Richtung angab, und dahinter das Wort NEVADA, dem zwei Buchstaben fehlten. Sie konnte sich nicht mehr verfahren. Sie drückte das Gaspedal und merkte, dass die Reifen auf dem Pflaster durchdrehten, aber sie hatte es zu eilig, um vorsichtig zu fahren.
Nevada befand sich auf der anderen Seite des Ozeans, es war der Staat der Neonlichter und der Kasinos aus dem Fernsehen. Hier jedoch, an der Verwaltungsgrenze zwischen Biella und Vercelli, war es ein alleinstehendes vierstöckiges Mehrfamilienhaus mit heruntergelassenen Rollläden und sonst nichts.
Sie fuhr auf den Parkplatz. Schwärme von kleinen Fliegen schlugen gegen die schwachen Lichter der Laternen. Sie parkte und schaltete das Radio aus, in dem gerade in diesem Augenblick »Someone Like You« von Adele lief. Ihr Lieblingssong, den sie eines Tages live vor Millionen von Fernsehzuschauern ihm widmen würde, und nur ihm.
Als sie aus dem Wagen stieg, merkte sie, dass sie fror. Sie hatte fast nichts an. Sie versuchte zu laufen, doch die Absätze versanken im Kies, und es war unmöglich, schneller zu gehen.
Sie hatte Angst, er könnte bereits fort sein, und blickte auf die Uhr: Es war nach acht. Sie fürchtete, er hätte vielleicht nicht auf sie gewartet, und sie hatte nur wenig Zeit, um ihn zu überzeugen, ja, ihn zu zwingen, mit ihr zu kommen.
Die Galà della Canzone würde in weniger als einer Stunde beginnen, vierzig Kilometer entfernt, und sie wollte um jeden Preis, dass er dabei wäre, vor der Bühne, und ihr applaudierte. Wenigstens an diesem Abend.
Sie riss die Tür auf und stürmte in die Halle. Der Portier und zwei Ausländer am Empfang blickten sie an, versteinert, als hätten sie ein Gespenst gesehen. Sie dagegen sah niemanden an, stellte keine Fragen. Instinktiv bog sie in den Flur zur Linken. Der Teppichboden war abgewetzt und blassblau, die Tapete an den Wänden verblasst.
Sie ging ein paar Stufen hinauf, bemerkte einen unangenehm muffigen Geruch nach schmutziger Wäsche und vermied es wohlweislich, sich zu fragen, welche Art von Menschen wohl in einem Stundenhotel an einer Autobahnausfahrt Zuflucht fanden. Dann betrat sie eine schwach beleuchtete Gaststube, und ihr blieb fast das Herz stehen.
Alle Tische waren unbesetzt außer einem. Und da saß er.
Da saß er in Begleitung einer Frau, an die sie keinen Blick verschwenden wollte. Er nippte an einem Drink und lächelte, während er leise sprach. Rasiert, elegant in seinem rauchfarbenen Anzug, faszinierend wie kein anderer.
Obwohl er nicht wirkte wie jemand, der ungeduldig auf jemanden wartet, obwohl er sie, die ihn von der obersten Treppenstufe aus betrachtete, noch nicht bemerkt hatte und obwohl er die Hand des zwanzig Jahre jüngeren Mädchens hielt, spürte sie, wie eine plötzliche und hemmungslose Freude sie überfiel.
Sie lief durch den Raum, wobei sie mit ihrer Tasche gegen die Stühle und Tische schlug, und warf sich ihm an den Hals, ja, kletterte fast auf seine Schultern.
Seit sechs Monaten hatte sie ihn nicht gesehen.
»Papa!«, rief sie.
Und Raimondo Bellezza lächelte und drückte sie mit seinen gewaltigen Armen.
»Mein Schatz, du bist gekommen …«
Seine Begleiterin stellte sich vor und streckte die Hand aus. Sie schüttelte sie nicht und würdigte sie auch keines Blicks.
»Wie lange bleibst du?«, fragte sie ihn sofort.
»Oh, zwanzig, fünfundzwanzig Minuten …«
»Was denn? Du kommst nicht mit, um mich singen zu hören? Es beginnt um neun … Ich bitte dich!«
Raimondo nestelte an seinem Krawattenknoten. Er trug einen Goldring am linken kleinen Finger, mit einem Topas in der Mitte.
»Du weißt, dass ich nicht kann, wir müssen sofort weiter. Aber wir haben immerhin auf dich gewartet.«
Sie versteckte ihr Gesicht in den Falten seiner Jacke. Sie hatte sich auf seinen Schoß gesetzt wie damals, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, und machte keine Anstalten, sich von ihm zu lösen, der ihr übers Haar strich und fröhlich und freundlich lachte, wie ein Mann, der nur die angenehmen Seiten des Lebens kennengelernt hat.
»Was nimmst du?«, fragte er, um sie abzulenken. »Willst du einen Prosecco?«
Seine Freundin, die möglicherweise sogar jünger war als sie und endlos lange, spitze, fuchsiafarben lackierte Fingernägel hatte, blickte sie nach wie vor schweigend an, augenscheinlich sichtlich genervt.
»Dann einen Negroni? Was ist dir lieber? Na komm, sei kein Dummerchen …«, drängte ihr Vater. »Champagner? Willst du ein Glas Champagner?«
»Ja«, maulte sie.
»Ich wusste es.« Raimondo zwinkerte seiner Begleiterin zu. »Meine Tochter hat eben Stil, was glaubst du? Das hat sie von mir … Entschuldige. Drei Gläser Dom Pérignon bitte!«, rief er dem Kellner zu, der in dem Augenblick hereinkam.
»Wir haben keinen Dom Pérignon.«
»Dann einen anderen, Hauptsache französisch.«
Raimondo strich seiner Tochter noch immer übers Haar.
»Du kommst nie zu meinen Konzerten«, protestierte sie, hob den Kopf und zog einen kindlichen Schmollmund. Sie versuchte ihm Schuldgefühle einzuimpfen, doch vergeblich.
»Mein Schatz, du weißt doch, dass dein Papa zu tun hat …«
Sie löste sich von ihm und setzte sich ihm gegenüber. »Aber es ist Sonntagabend! Was hast du zu tun?«
Raimondo Bellezza roch nach Zigarre und Kölnischwasser. Seine Augen waren blau wie die von Paul Newman, und er hatte die gleichen Gesichtszüge wie seine Tochter.
»Du wirst immer hübscher, weißt du?«
»Ich weiß. Sag mir, wo du heute Abend hinmusst.«
Raimondos neue Flamme hatte sich dem Geschehen inzwischen vollkommen entzogen und war in ein Spiel auf ihrem Handy vertieft, das merkwürdige Geräusche von sich gab.
»Wir müssen bis elf in Monte Carlo sein und haben noch dreihundert Kilometer vor uns. Aber das nächste Mal …«
Ein nächstes Mal würde es nicht geben, das wusste sie.
Sie blickte ihren Vater an und sah in seinem Gesicht die Welt gespiegelt, die sie seit ihrer Kindheit verfolgte, seit er tage-, wochenlang fort gewesen war und sie geweint hatte, weil sie sich gewünscht hatte, er würde sie mitnehmen. Sie sah das Leben, von dem sie träumte, jenes, das sie immer noch und nur woanders finden konnte und das Namen wie Campione d’Italia, Saint-Vincent oder Monte Carlo trug.
Seit Raimondo endgültig von zu Hause weggegangen war und sie mit ihrer Mutter allein gelassen hatte, wünschte sie sich jenes Leben, das sie sich geprägt von Markenkleidung, durchgefeierten Nächten und Luxushotels vorstellte. Und obwohl er nie vergessen hatte, ihr ihren monatlichen Scheck auszustellen, Blumen zum Valentinstag zu schicken und alles Gute zur »Festa della Donna« zu wünschen, und obwohl er ihr Hunderte von Postkarten aus allen Orten an der Riviera und der Côte d’Azur geschickt hatte, wo er regelmäßig verkehrte, hatte er sie stets im Stich gelassen.
Innerlich buchstabierte sie langsam Mon-te Car-lo. Dieser Name bezeichnete alles, was ihr vorenthalten, was ihr genommen worden war: die zusammen verbrachten Geburtstage, die Ausflüge in die Vorstädte, der Beifall während der Konzerte. Sie begann ihn wieder zu hassen.
»Aber du siehst doch, wir haben einen Umweg gemacht, um dich zu treffen.«
Sie sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich weiß nicht, wie du es schaffst, hierzubleiben, mein Liebling, zum Glück fängst du bald an zu arbeiten … Ach übrigens, wann fängt eigentlich die Übertragung an? Immer wenn ich in diese Gegend komme, ist es ein bisschen schlimmer geworden, findest du nicht, Nadia? Das reinste Niemandsland, der reinste wilde Westen, verdammtes Elend!« Und er lachte.
Das prachtvolle, strahlende Lachen eines Geschäftsmanns. Sein Nadelstreifenanzug, sein blaues Hemd, seine violette Seidenkrawatte.
»Warum nimmst du das nächste Mal nicht mich nach Monte Carlo mit? Warum rufst du mich nicht an, warum holst du mich nicht ab und nimmst mich mit anstatt dieser x-ten Scheißnutte?«
Raimondo konnte gerade noch die Augen aufreißen, und Nadia war im Begriff, den Mund aufzumachen, um ihrer Altersgenossin zu antworten: He, wer ist hier die Nutte?, als der Kellner mit dem Tablett kam.
Es herrschte eine bleierne Stille, seine Tochter sah ihn mit hasserfülltem Blick an, doch er wusste stets, wie er sich herauswinden und ungeschoren davonkommen konnte.
»Cin cin!«, rief er und erhob einen Plastikkelch. »Auf den künftigen Erfolg meiner Tochter! Denn du wirst es schaffen, du wirst der Star der …« – er hustete, weil er den Namen vergessen hatte – »… des Programms sein. Und dann wirst du mich mitnehmen!« Er zwinkerte ihr zu. »Du wirst es ihnen zeigen, du wirst sie alle in die Tasche stecken. Und vergiss nicht, zeig ihnen, was du kannst.«
Sie stießen an. Er behandelte sie wie ein kleines Mädchen, und sie tat alles, um als solches behandelt zu werden. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren versuchte sie immer noch, die Rückstände ihrer Kindheit einzutreiben.
Sie begann zu reden, versuchte von der Sendung zu erzählen, an der sie teilnehmen würde, übertrieb gewaltig die Vorhersagen der Einschaltquoten, erfand die Namen der Gäste, bemühte Piedro Chiambretti und Simona Ventura, um ihren Vater zu beeindrucken. Und er hörte ihr zu, streichelte sie, schielte auf die Uhr und sandte mit dem Blick Signale an seine einfältige Freundin, die jetzt angefangen hatte, Bubble Gun zu spielen.
»Vergiss nicht, zeig es ihnen. Zeig ihnen stets, was du kannst! Nichts auf der Welt wird mich davon abhalten, mir alle Folgen anzusehen, das verspreche ich dir. Und wenn du einen Rat brauchst, einen Hinweis, ich bin rund um die Uhr für dich da.«
Dann standen ihr Vater und seine lästige Begleiterin ganz plötzlich auf, noch bevor sie ihr Glas austrinken konnte, unter dem Vorwand, sie seien fürchterlich spät dran. Sie umarmte ihn wieder und wieder, jene zwanzig, dreißig Sekunden erbettelnd, in denen sie ihm einen weiteren schmatzenden Kuss geben konnte.
Ihre Mutter und ihr Vater waren völlig verschieden, das hatte sie begriffen. Sie wusste es, weil er sie auf diese Weise verlassen hatte, auch wenn sie sich nicht daran erinnern wollte. Sie wusste, dass ihre Mutter eine Versagerin war und er nicht. Er hatte sie in den wichtigen Augenblicken immer sich selbst überlassen, und deswegen hasste sie ihn, verabscheute ihn, und doch liebte sie ihn abgöttisch. Vielleicht würde sie ihm niemals verzeihen können, doch jetzt hätte sie ihre Seele verkauft, nur um weitere zehn Minuten mit ihm zusammen sein zu können und ihn zu überzeugen, mit ihr zu kommen und ihr auf der Galà della Canzone zu applaudieren und nach der Vorstellung mit ihr zu Abend zu essen. Nur sie beide.
Stattdessen hatte ihr Vater sich zusammen mit dieser Nadia bereits auf den Weg nach draußen gemacht, und sie folgte ihnen widerwillig auf den Parkplatz. Sie sah, wie sie in den Wagen stiegen und die Türen schlossen. Während er sich entfernte, sagte er aus dem Wagenfenster noch etwas zu ihr, das sie nicht verstand. Sie sah, wie sie wegfuhren. In einem prachtvollen schwarzen Maserati, der ganz sicher nicht gemietet war.
Und selbst wenn jemand zu ihr gesagt hätte: Hör mal, solche Wagen mietet dein Vater nur, wenn er Eindruck schinden muss, hätte sie es niemals geglaubt.
»Ruf mich an, ja?«, schrie sie. »Schick mir eine Nachricht, wenn du angekommen bist!«
Doch er war schon weit weg, er konnte sie nicht mehr hören. Und dieses blonde, einen Meter fünfundsiebzig große Mädchen, dem alle Männer zu Füßen lagen, stand jetzt da, auf einem Parkplatz aus mit Kies bedeckter gestampfter Erde, mit herabbaumelnden Armen und Tränen in den Augen.
Sie ging langsam zu ihrem gebrauchten Peugeot 206. Sie öffnete die Wagentür und blieb stehen, ohne sich zu rühren, in die Dunkelheit zwischen den Lichtkegeln der Laternen starrend.
Es war ihr jetzt egal, ob sie zu der Galà della Canzone zu spät kam. Ohne sie würden sie sowieso nicht anfangen können. Sie starrte auf die Schranke der Mautstelle in der Ferne. Sie sah, wie sie sich hob, den Maserati durchließ und sich anschließend sofort wieder senkte.
Dort hinten erstreckte sich die Ebene, verzweigten sich die großen Verkehrsadern, die nach Mailand, nach Rom führten, zu jedem Ort der Welt, der eine Reise wert war.
Und auf der anderen Seite war die Leere. Das Niemandsland. Eine Traube von Laternen, ein schwacher Schimmer im Nordwesten.
Und über der Hauptstadt die Berge.
Von dort aus konnte man die Reliefs der Bergrücken in der Dunkelheit erkennen. Da war Oropa mit seiner Wallfahrtskirche, dort Piedicavallo und weiter rechts Camandona. Der Ort, wohin sie musste, war nur ein kleiner Punkt verloren in den Wäldern.
Eine Mauer aus Granit, ohne Zukunft, ohne Geschichte. Vom Motel Nevada aus konnte sie die ganze Alpenkette mit der Faust eines Blicks umschließen. Das war das Ende, die Grenze.
Nur, dass dahinter nichts war.
Überall war Blut. Blut auf dem Asphalt, Blut auf dem Bauch, Blut auf der Schnauze, Blutspuren sogar auf den Hörnern.
Andrea beugte sich über die gewaltige Masse, die ohnmächtig zappelte und sich abmühte, auf die Beine zu kommen.
Luca kam zu ihnen und hielt sich eine Hand vor den Mund. Nein, das war kein Mensch, aber es riss die Augen auf, als wäre es einer. Und sein stummer Blick drückte schiere Angst aus.
Sebastiano kniete noch immer auf dem Asphalt und begann langsam zu begreifen. Und er gab sich eine Ohrfeige.
»Ist euch eigentlich klar, was passiert ist?«, schrie er und erhob sich. Er starrte auf die verbeulte Motorhaube und dann erneut auf das Tier, das klagende Laute von sich gab.
»Die Karre ist alles, was ich habe, verdammte Scheiße!«
Er versetzte dem Tier einen Fußtritt, der es zusammenzucken ließ.
Der Motor des Volvo stotterte, als wollte er sich beklagen. Doch es gelang ihm nicht, das anhaltende dumpfe Röcheln des Tieres zu übertönen.
»Stell den Motor ab«, befahl er Luca.
Luca ging wie abwesend zum Wagen zurück. Das Blut machte ihn benommen, es hatte einen durchdringenden Geruch, wie Metall oder Feuer.
Andrea war noch immer über den wild zuckenden Körper gebeugt, der lebte und aus der Schnauze blutete. Er beugte sich über das weit aufgerissene Auge, das nicht sterben wollte. Er sah sich in diesem Auge gespiegelt, das nichts sagte, das nichts sagen konnte, und fühlte sich wie gelähmt.
»Stirb!«, schrie Sebastiano. Er versetzte ihm einen Tritt gegen das Brustbein.
Der Hirsch senkte die Schnauze und versuchte sich zurückzuziehen.
»Hör auf damit«, sagte Andrea.
Sebastiano rauchte wütend und versetzte ihm einen weiteren Tritt gegen die Schnauze.
»Stirb endlich, verdammter Hurensohn!«
Doch der Hirsch starb nicht.
»Was machen wir?«, fragte Luca.
Andrea betrachtete noch immer sein Spiegelbild im braunen Auge des Tieres, und jetzt war er überzeugt, dass es ihn ebenfalls ansah. Es gelang ihm, den körperlichen Schmerz des Tieres zu spüren. Er hatte das Gefühl, Teil dieses Schmerzes zu sein.
Aus den dunklen Massen der Wälder drang nur tiefe, ohrenbetäubende Stille.
»Wir können ihn nicht hierlassen«, sagte er.
»Ja, aber wir können auch nicht warten, bis er stirbt«, protestierte Luca. Die Wut verwandelte sich in Angst und die Angst in Gewalt. »Früher oder später wird jemand vorbeikommen, wir stehen mitten in der Kurve …«
Ja, sie standen in der Kurve, mitten in der Nacht, mit einem sterbenden Hirsch und einem schrottreifen Volvo. Die Dinge konnten nur noch schlimmer werden.
»Schaffen wir ihn weg«, sagte Sebastiano.
»Und wohin?«
Das Licht des einzigen Scheinwerfers warf einen Lichtkegel in die Mitte der Straße, und auf dieser Straße befanden sich drei Personen, ein Hirsch und das Nichts.
»Ich weiß nicht, wohin!«, schimpfte Sebastiano. »Werfen wir ihn dahin, über die Leitplanke.«
Sie schauten beide, was dahinter war: eine Schlucht. Sie gingen im Kreis um den Wagen, betrachteten ihre Rücken und schimpften auf ihre Eltern, auf sich, auf alles.
Andrea dagegen blieb, wo er war, reglos neben dem Hirsch.
Er wollte die Hand auf seinen Bauch legen. Eine sinnlose Geste, aber es war stärker als er. Er spürte die Wärme nur ein paar Zentimeter entfernt, das raue Fell, auch ohne es zu berühren, und sein Leben, das wütend kämpfte.
Und er stand da und versuchte ihn zu streicheln.
Das Geweih war gewaltig, er war sehr alt. Er war ein großes erwachsenes Männchen. Ein Leben, geprägt von Instinkten, Gefahren, Alarmsignalen.
»Ich werfe ihn nirgendwohin«, sagte Andrea plötzlich.
Sebastiano drehte sich um und sah ihn böse an. »Hast du sie noch alle?«
Andrea erwiderte seinen Blick, immer noch eine Hand auf dem Bauch des Hirschs, als wollte er ihn beschützen.
»Was soll das? Willst du ihn etwa nach Hause mitnehmen?«
»Ja, ich will ihn nach Hause mitnehmen.«
Luca starrte ihn entgeistert an. Fehlte nur noch, dass sie anfangen würden zu streiten.
Doch gegen alle Erwartung gab Sebastiano nach.
»Okay, Andre’, du hast recht.« Und er lachte. »Nimm du ihn auf der einen Seite, ich nehm ihn auf der anderen.« Und sich mit erhobenem Zeigefinger dem Hirsch nähernd, fügte er hinzu: »Mein Lieber, ich warne dich. Das ist eine Entführung.«
Jetzt musste auch Luca lachen. Sie lachten beide wie die Wahnsinnigen, aber vielleicht war es nur die Angst. Die Angst, das alles könnte ihnen aus den Händen gleiten, was tatsächlich bereits der Fall war.
Andrea dagegen blieb stumm.
Sie versuchten, das Tier zu berühren, dann nahmen sie all ihren Mut zusammen, packten es und hoben es an den Beinen hoch. Doch es wog eine Tonne, zappelte und wehrte sich. Es hörte nicht auf zu bluten und seinen unartikulierten Schrei auszustoßen, der weder Hilferuf noch Protest bedeutete.
Andrea hielt ihn an den Vorderbeinen fest, Sebastiano an den Hinterbeinen und Luca am Geweih, doch der Hirsch ergab sich nicht und schüttelte verängstigt die Schnauze.
Vielleicht war es das: Die Angst des Tieres machte sie verrückt.
Luca und Sebastiano fingen an, ihm wütende Stöße zu versetzen. Und dann ließen sie ihn auf den Boden fallen. Und versetzten ihm Fußtritte.
Andrea war unfähig zu reagieren, er fühlte sich ohnmächtig. Er spürte, wie seine Arme und Beine zu Eis erstarrten. Er bemerkte einen merkwürdigen Ausdruck auf den Gesichtern seiner Freunde, er erkannte sie kaum wieder. Sie lachten immer noch und traten wütend auf das Tier ein.
»Es reicht!«, schrie er.
Für einen Augenblick trat Stille ein. Und sie begriffen.
Sie transportierten ihn zum Wagen. Öffneten den Kofferraum, der riesig war, und legten ihn hinein. Doch um ihn hineinzubekommen, mussten sie zu dritt mit aller Kraft schieben, seinen Kopf beugen und ihm dabei den Hals verdrehen. Sie versuchten, ihn mit bloßen Händen zu zerbrechen, mit einer Kaltblütigkeit, derer sie sich nicht für fähig gehalten hätten. Sie senkten die Heckklappe, doch sie schloss sich nicht. Sie schlugen sie mehrmals zu. Jedes Mal ertönte das gleiche dumpfe Geräusch des Geweihs, das gegen das Blech stieß. Bis zum letzten Schlag, dem wütendsten. Und der Kofferraum schloss sich.
Als sie schweißgebadet in den Volvo stiegen, keuchten sie.
»He, wir fahren mit einem Hirsch im Kofferraum durch die Gegend«, sagte Sebastiano und stellte den Motor an. »Daran werden wir uns ein Leben lang erinnern.«
Wie durch ein Wunder setzte sich der Volvo in Bewegung. Andrea drückte sein Ohr an den Rücksitz. Er konnte ihn immer noch röcheln hören. Er kannte die Sprache der Tiere, sein Großvater hatte sie ihn als Kind gelehrt.
»Okay, nachdem wir Gaddafi eingesammelt und verstaut haben, sagt mir, was wir heute Abend machen.«
Das Licht, dem sie anfangs gefolgt waren, war vollkommen verschwunden.
»Gaddafi«, wiederholte Luca lachend, »er sieht wirklich wie Gaddafi aus.«
Auch der Mond war jetzt fast verschwunden.
Andrea schnupperte an seinen Fingerkuppen, sie rochen nach Wild und Eisen.
»Wie lange wird er brauchen, bis er stirbt?«, fragte er sich laut.
»Der Punkt ist nicht, wie lange er braucht, um zu sterben, sondern wie lange ich brauche, um das Geld für die Autowerkstatt zusammenzubekommen.«
Sie ließen Callabiana und die Nelva hinter sich. Sebastiano beschleunigte, obwohl der Volvo, geschunden und überlastet, immer wieder ins Schlingern geriet. Es kam eine scharfe Kurve, die der Scheinwerfer nur teilweise beleuchtete und die bei dieser Geschwindigkeit unmöglich zu nehmen war.
Sebastiano wagte es trotzdem, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Andrea dachte, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen, doch er tat nichts, um ihn daran zu hindern.
Und dann explodierte plötzlich der Schimmer, den sie ganz vergessen hatten, zwischen zwei Felsen, auf der SP 105 auf der Höhe von Camandona. Er explodierte wie ein Knallfrosch oder ein Feuerwerk, und mit einem Mal zog die Nacht sich zurück und mit ihr ihre Gefahren.
Unten in der tiefen Talschlucht wurden lange Reihen von Autos sichtbar, die in beiden Fahrtrichtungen parkten. Ganze Familien bewegten sich wie ein Schwarm auf denselben Punkt zu, angelockt von dem einzigen Licht, das jetzt ganz in ihrer Nähe war.
Sie streckten ihre Köpfe ungläubig aus den Wagenfenstern, und das Herz hämmerte in ihrer Brust, während die Menge zu Fuß die Landstraße hinunterging. Ein Scheinwerferpaar erleuchtete über die Rotbuchen hinweg taghell eine steil abschüssige Lichtung, von der ein immer lauteres Geschrei und eine ferne Musik, vielleicht eine Mazurka, zu ihnen drangen.
Sie parkten in zweiter Reihe.
Sie blickten sich in die Augen: Sie waren gerettet.
Sebastiano und Luca verloren keine Zeit, sie öffneten die Wagentüren und stürmten voller Begeisterung nach draußen. Als wäre nichts geschehen. Sie mischten sich unter die Großmütter, die ihre Enkelkinder an der Hand hielten, und folgten einer Gruppe jugendlicher Pfadfinder.
Andrea blieb zurück, er ließ sich Zeit mit dem Aussteigen. Er versuchte seine Angst zu unterdrücken. Er legte eine Hand auf den Kofferraum, aus dem jetzt kein Geräusch mehr drang, und zwang sich, ihn nicht zu öffnen. Dann blickte er geradeaus, wo ein Transparent von Pro Loco aufgehängt war, und erinnerte sich, dass er schon einmal hier gewesen war.
Als Kind, mit seinen Eltern und seinem Bruder. Und als er größer gewesen war, mit seinen Freunden. Und schließlich ein letztes Mal, an das er sich um keinen Preis erinnern wollte.
Er musste an sie denken. Er musste an das gelähmte Auge des Hirschs denken.
Zwischen den Bäumen ging er die Stufen aus gestampfter Erde hinunter, die zum Volksfest von Camandona führten. Er zündete sich eine Zigarette an und erkannte mit einem traurigen Lächeln die Küchen, das Tanzzelt und sogar die Bühne aus Holzbrettern von damals wieder, als sie zusammen getanzt hatten, die Hände auf die Taille gelegt.
Genau hier, wohin das ferne Licht sie an diesem Abend geführt hatte.
Verkehr nicht mit einer Saitenspielerin,
damit du nicht durch ihre Töne gefangen wirst.
Wegen einer Frau kamen schon viele ins Verderben,
sie versengt ihre Liebhaber wie Feuer.
Buch Jesus Sirach, 9, 4,8
Andrea hatte keine einfache Beziehung zu seiner Vergangenheit. An den größten Teil seines Lebens wollte er sich nicht erinnern. Doch jetzt war er auf dem Volksfest von Camandona, eingehüllt in den typischen Gestank der Dorffeste: Fleisch vom Holzkohlengrill und Chemieklos hinter den Zelten.
Er stand ein paar Minuten auf der vorletzten Stufe der Treppe und rauchte. Er betrachtete von oben die Lichtung, auf der das Volksfest aufgebaut worden war, ganz wie damals: mit den Transparenten, den Abzeichen und der Livemusik. Und da war auch der kleine Markt, dessen Stände Kunsthandwerk und typische Produkte feilboten. Zur Rechten, neben einem kleinen Birkenwäldchen, spielte das Orchester Tanzmusik in der behelfsmäßigen Diskothek. Und rundherum, als wäre es eine Insel aus Licht, lauerte die Dunkelheit wie ein ruhiges, aber feindseliges Meer.
Das weiße Zelt mit der Bar, dem Restaurant und den rechteckigen Tischen, an denen sich die Familien mit vollen Tabletts drängelten, um einen Platz zu finden, war heruntergekommener als in seiner Erinnerung. Auch die Bühne dort unten, für die großen Anlässe, schien aus Pappmaché zu sein. Als wäre mit der Zeit alles kleiner und schlichter geworden, verglichen mit dem großartigen Eindruck, den es in der Kindheit auf ihn gemacht hatte.
Er drückte seine Kippe aus und ging die restlichen Stufen hinab, wobei er ein Paar anrempelte, das sich küsste. Dann ging er zwischen zwei Reihen von Ständen weiter und verlor sich in der Menge.
Er sah Kinder, die die Hand nach Krokant und Lutschern ausstreckten, und Frauen, die ihnen einen Klaps gaben und sie ausschimpften, wie seine Mutter es stets getan hatte. Eine leise Musik wiederholte sich im Hintergrund, teilweise übertönt vom Stimmengewirr. Er kannte das Lied, dessen war er sicher, hätte aber nicht sagen können, wie es hieß.
Er bahnte sich seinen Weg mit den Ellbogen, kam aber kaum voran in dem Gedränge, als hätten sich alle Einwohner der Provinz Biella hier versammelt, um einer Katastrophe zu entrinnen. Er hatte es nicht eilig, die anderen wiederzufinden. Die Art und Weise, wie Sebastiano auf den Hirsch eingetreten und Luca es ihm nachgemacht hatte, hatte sich ihm auf den Magen geschlagen.
Er sah eine Art Tombola mit einem Kaninchenstall voller Tiere und wandte sofort den Blick ab. Er sah eine Reihe alter Margari, Kuhhirten, die sich von zu Hause Klappstühle mitgebracht hatten und in aller Ruhe abseits von den anderen stumm das Treiben beobachteten, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Plötzlich überfiel ihn eine tiefe Sehnsucht nach seinem Großvater. Und dann sah er den Schießstand.
Jenen Schießstand. Und in den Regalen mit den Preisen, genau in der Mitte, einen großen Koalabären aus Plüsch. Der nicht nur eine Puppe war, sondern sich bewegte. Er bewegte den Kopf und die Pfoten im Rhythmus der Musik, der Musik von eben, an die er sich nicht erinnern wollte. Die Filmmusik zu Rocky III: »Eye of the Tiger«.
Und jetzt erkannte er ihn wieder: das gleiche weiß-graue Fell, die gleichen traurigen Glasaugen. Er hatte diesen Plüschbären jahrelang auf dem Brett über seinem Bett aufbewahrt, wie eine Trophäe, wie das höchste Ziel, das man erreichen kann. Denn er hatte ihn gewonnen, indem er ihn seinem Bruder streitig gemacht hatte, mit nur einer einzigen Patrone. Für einen Augenblick hatte er sich als Sieger gefühlt.
Er drehte sich um, um wegzugehen, und fand sich zwischen zwei Käseständen wieder. Und da bemerkte er das Plakat, das am Fuß eines Scheinwerfers klebte, ein gelber Aushang, der in großen Buchstaben ankündigte: GALÀ DELLE CANZONE, SONNTAG 16. SEPTEMBER UM 21 UHR.
Doch 21 Uhr war schon längst vorbei, was ihm allerdings nicht auffiel.
Die Bühne war leer, die meisten Leute standen noch an der Kasse an, und er schenkte dieser Ankündigung keine weitere Beachtung. Freiwillige standen an riesigen Aluminiumtöpfen. Sie trugen alle das gleiche T-Shirt mit dem Aufdruck Pro Loco.
Andrea streifte ziellos umher, bis er etwa zwanzig Meter vor sich Sebastiano und Luca sah. Sie standen in der Schlange und lasen die Speisekarte, die mit einem Filzstift auf ein Laken geschrieben worden war. Er nahm ihnen ihr Verhalten immer noch übel, konnte ihnen aber nicht wirklich böse sein. Während er zu ihnen ging, fiel ihm wieder ein, wie sein Vater sie einmal naserümpfend genannt hatte: »Die beiden Desperados.«
»He, wo hast du gesteckt?«, rief Luca ihm zu.
Andrea packte ihn am Kopf, krümmte den Ellbogen und tat so, als wollte er ihn erwürgen. Luca war kräftig, einen Meter sechzig groß, und ihm fehlte ein Zahn. Er glaubte, ein gefälschtes Polohemd von Dolce&Gabbana genüge schon, um die Mädchen anzuziehen.
»Also, was essen wir?«, fragte Sebastiano.
Sie standen mitten im Licht, mitten im Gedränge, und hatten Hunger. Doch in dem Augenblick drehten sie sich, da sie sich beobachtet fühlten, zu einer kleinen Gruppe um, die aus der Ferne auf sie zeigte. Daraufhin sahen sie auf ihre Jeans, ihre T-Shirts und ihre Schuhe. Und bemerkten, dass sie alle drei blutverschmiert waren.
»Ihr sagt, er ist tot?«, fragte Luca.
Andrea verging sofort der Appetit.
»Wollen wir nachschauen?«, schlug er vor.
»Hör mit dem Unsinn auf!«, rief Sebastiano. »Gaddafi läuft bestimmt nicht weg!«
Die Schlange wurde kürzer.
»Andrea, was willst du?«
»Ein Bier, sonst nichts.«
»Gut, dann such uns schon mal einen Tisch.«
Es gab etwa dreißig Tische, fünf oder sechs Meter lang wie früher bei den Hochzeiten. Die Leute saßen dichtgedrängt, die Frauen hatten die Kinder auf dem Schoß. Andrea fand eine Lücke zwischen zwei Gruppen, räumte die zurückgelassenen Plastikteller zusammen und setzte sich.
In aller Ruhe dachte er über diesen Ort nach, der aus der Vergangenheit wiederaufgetaucht war.
Ein Transparent, das er vorher nicht bemerkt hatte, ausgefranst und schmierig, hing in der leichten Brise, die von den Gipfeln des Monte Casto und des Bo herabwehte, über der leeren Bühne. Darauf stand: GALÀ DELLA CANZONE.
Das Orchester spielte eine Polka, und ein paar ältere Paare tanzten Wange an Wange. Eng umschlungen, als wollten sie sich davor schützen hinzufallen, bewegten sie sich über die Tanzfläche.
In dem letzten September, in dem sie hier gewesen waren, hatten auch sie getanzt. Die Mamas mit den Papas, sein Bruder mit seiner Cousine, er mit Marina. Marina … An jenem Abend hatte sie ein engtailliertes blaues Kleid getragen, an das er sich verblüffenderweise noch genau erinnern konnte.
Dann kamen die beiden anderen mit ihren Tabletts und setzten sich neben ihn.
Seit drei Jahren hatte er nichts mehr von ihr gehört, seit er zum x-ten Mal vor dem Fitnessstudio vergeblich auf sie gewartet hatte, Heiligabend 2009.
Er öffnete das Bier mit dem Feuerzeug und nahm einen Schluck aus der Flasche.
Vielleicht lag es an dem Volksfest oder vielleicht an diesem Hirsch, dass er sich an sie erinnerte. Doch das hatte jetzt keine Bedeutung mehr.
»Wann hast du vor, deinen Vater wegen der Sennerei zu fragen?«
Andrea bemerkte ein paar Freiwillige, die einen alten Verstärker hochhoben und auf die Bühne zu bringen versuchten. Er drehte sich zu Sebastiano um.
»Morgen«, erwiderte er.
»Und du sagst, er wird sie dir geben? Bist du sicher? Wir sprechen immerhin von deinem Vater.«
Sein Vater war der Rechtsanwalt Caucino, Strafrechtler und außerdem ehemaliger Bürgermeister von Biella; einer, der sich nur dann herabließ, die Volksfeste in den Dörfern zu besuchen, wenn gerade Wahlkampf war.
»Ich sage ihm, dass es ihn nichts kostet. Er hasst den Ort.«
Sebastiano und Luca aßen mit den Händen, sprachen mit vollem Mund und stellten sich dabei vor, was sie dort oben machen könnten, in diesem abgelegenen Haus auf dem Monte Cicco ohne Strom und ohne Kanalisation.
»Es wäre großartig, hm«, sagte Luca, »wenn das klappen würde.«
Andrea trank sein Bier aus und nickte.
»Es sei denn«, sagte Sebastiano nachdenklich, »du hast die Absicht, es für deinen Bruder herzurichten, damit er häufiger zurückkommt.«
Andreas Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Seine großen schwarzen Augen verfinsterten sich zu zwei Kohlestücken.
»Mein Bruder hat genug bekommen. Außerdem wird er so schnell nicht zurückkommen.«
Daraufhin wandte Sebastiano seinen Blick ab, zerknirscht darüber, dass ihm dieser Satz herausgerutscht war. Luca holte einen kleinen Umschlag aus Stanniolpapier mit Hasch hervor und versuchte es mit der Flamme des Feuerzeugs weicher zu machen. Enttäuscht warf er einen Blick auf sein Handy: »Nicht einmal Daniela hat mir geantwortet …«
Es war doch wieder ein Abend wie tausend andere geworden.
»Ach übrigens, habt ihr das Mädchen dort drüben bemerkt?«
»Wo?«
»Da an der Bar.«
Andrea warf einen Blick zu dem Zelt und entdeckte ein Mädchen mit auf der einen Seite rasiertem grünem Haar, das Bier zapfte. Er dachte an die Sennerei, wie sie damals gewesen war, als sein Großvater das Vieh von Mai bis September auf die Alm getrieben hatte, und wie sie jetzt war, den Brombeersträuchern überlassen.
Dieser Ort stand ihm von Rechts wegen zu, er war alles, was ihm von seinem Großvater geblieben war. Dann fiel ihm wieder der Hirsch ein, das dumpfe Geräusch des Geweihs, das gegen die Klappe des Kofferraums schlug. Es hatte die ganze Zeit dagegen geschlagen.
Sie ließen die Überbleibsel des Essens zurück und gingen zu dem Tresen, wo die junge Barfrau mit ihrer Punkfrisur und ihrem Pro-Loco-T-Shirt sie mit einem nicht sehr freundlichen Blick empfing.
Sie bestellten.
Andrea hörte, wie Sebastiano zu ihr sagte: »He, meine Schöne, woher kommst du?«
Die Wahrheit war, dass es ihn traurig machte, hier zu sein. Das letzte Mal war er mit achtzehn hier gewesen, und jetzt war er siebenundzwanzig. Und er hatte noch nichts von dem verwirklicht, was er sich vorgenommen hatte.
Beim letzten Mal hatten sie zusammen getanzt, vor dem gleichen Orchester, das jetzt immer noch spielte; und sie hatte von einer Sekunde auf die andere aufgehört zu tanzen und ihn mit einer gewissen Schalkhaftigkeit und auch einer reizenden Frechheit aufgefordert, sie zu begleiten, sie müsse Pipi machen, habe aber Angst, allein zu gehen.
Und er hatte sie begleitet. In das Birkenwäldchen hinter einen umgestürzten Stamm. Sie hatte das Höschen heruntergezogen und war in die Hocke gegangen. Und es war so lang her und peinlich, die Szene mit den Augen von heute wiederzusehen.
Dann rief Luca ihn, zog ihn an der Jacke.
»He, schaut mal, da …«
Auf der rechten Seite der Bühne, wo Absperrungen errichtet waren, hatte sich eine Schlange von Frauen, jungen Dingern und sogar kleinen Mädchen aus der Grundschule, die von ihren Müttern an der Hand gehalten wurden, gebildet, jede mit einer numerierten Kokarde an der Brust.
Einige, mit Dekolletés und Miniröcken, lachten und steckten die Köpfe zusammen. Andere, weniger jung, blickten sich verstört um, rauchten oder richteten ihre Frisur mithilfe eines Taschenspiegels, den sie weiterreichten.
Andrea, Sebastiano und Luca schauten ihnen ungläubig zu. Hier oben hatte man noch nie so viele Frauen auf einem Haufen gesehen, noch dazu so auffällig gekleidet.
Plötzlich durchbrach ein Mädchen die Absperrung, ohne die Schlange zu respektieren. Zwei Mütter protestierten wütend, andere Konkurrentinnen benutzten die Ellbogen, um vorwärtszukommen. Ein kleines Mädchen brach in Tränen aus. Eine Vierzigjährige holte sich eine Laufmasche und fluchte.
»Wenn wenigstens eine Anständige darunter wäre«, kommentierte Sebastiano, der sein Opfer bereits gewählt hatte. Sie hieß Mirella.
»Das stimmt nicht, die Dritte von rechts ist nicht schlecht«, sagte Luca.
Das Gedränge wurde immer schlimmer. Einer der Organisatoren brüllte, man habe eine Dreiviertelstunde Verspätung im Zeitplan, der Star sei noch immer nicht da und: »So kann man einfach nicht arbeiten!« Es erschien ein junger Bursche mit Kopfhörern im Ohr, der das Mischpult aufstellte und eine Reihe von Stühlen, an denen Blätter mit der Aufschrift JURY klebten.
Luca musterte immer noch aufmerksam die jüngeren Mädchen und zeigte sie Andrea, für den die ganze Sache jedoch nichts anderes war als der erbärmliche Versuch, die Atmosphäre von Canale 5 nach Camandona zu bringen.
Auf den Stühlen der Jury nahmen ein Mann Platz, der vielleicht der Tabakhändler von Andorno war, und eine mit Schmuck behängte Frau mit feuerroten Haaren, die ihm bekannt vorkam, weil sie von Zeit zu Zeit in die Bibliothek kam.
Dann erschien eine Schar von Journalisten des Eco und der Nuova Provincia und eine Fernsehkamera mit dem Aufkleber »Tg Regionale«. Daraufhin änderte sich der Gesichtsausdruck der Konkurrentinnen, die jetzt ernster dreinschauten. Die Freiwilligen legten einen Zahn zu, brachten die letzten Kabel fast im Laufschritt, und die Leute ringsum senkten ihre Stimme und machten sich gegenseitig auf die Anwesenheit der Fernsehkamera aufmerksam. Schließlich postierten sich zwei kleine Mädchen vor dem Objektiv. Sie riefen: »Forza Milan. Juve Scheiße!«, und machten unanständige Gesten.
Jemand mit einer fuchsiafarbenen Paillettenjacke über der Jeans und Tennisschuhen stieg auf die Bühne, um eine Mikrofonprobe zu machen. Jemand, der jemand anderem ähnelte, der Doppelgänger von irgendjemandem.
Luca fiel der Name nicht ein. »Ist er es, oder ist er es nicht?«
»Für mich sieht er aus wie Umberto Smaila …« Sebastiano musste lachen.
Die Lichtung verwandelte sich in eine undurchdringliche Masse aus schwitzenden Menschen. Die Kinder spielten weiter Billard und Darts. Die Alten saßen auf ihren Campingstühlen und beobachteten das Treiben. Und über allem bedrohlich die ungeheuren schwarzen Silhouetten der Berge mit ihrem hartnäckigen Schweigen.
Als die Schweinwerfer ohne Vorwarnung erloschen, ging auf der Bühne eine Reihe von Neonleuchten an, die einer Weihnachtsbeleuchtung ähnelten. Schütterer Beifall war aus der Küche und von der Tanzfläche zu hören, auf der jetzt nur noch drei Paare ohne Musik tanzten.
Der Ansager machte einen Satz auf die Bühne und hustete ins Mikrofon, das knisterte. Er kratzte sich am Kopf und erklärte den Wettbewerb zur Wahl der musikalischen Hoffnung der Provinz Biella für eröffnet.
»Ich denke, es ist an der Zeit zu gehen«, sagte Andrea.
»Ich denke«, erwiderte Sebastiano, »wir sollten diesen Jahrmarkt der Traurigkeit genießen.«
Es wurde der Gemeinde, der Provinz, der Nudelfabrik, dem Feinkostladen und den anderen Sponsoren gedankt, die in diesen Zeiten, angesichts der Krise Crème de la Crème unserer Region