»Das Peristyl ist der stumme Zeuge der einsamen Spaziergänge der Kaiserin. Hier stört sie niemand, hier wagt sich niemand her, ohne gerufen zu sein«, erinnert sich Irma Sztáray, eine der letzten Reisebegleiterinnen, die Elisabeth in ihrem Tross noch duldete.
1 Angelos Gialliná: Das Peristyl im Achilleion, 1893. Aus dem persönlichen Korfu-Album Elisabeths
Die ungarische Hofdame beschreibt das Peristyl im Achilleion, jenem Refugium auf »Scheria« (altgriechisch: Korfu), das den Traum einer melancholischen Monarchin vom antiken Griechenland zum Leben erwecken sollte.
Mehrmals täglich betrachtete die fast immer schwarz Gekleidete dort, in ihrem privaten Olymp der Feen und Nymphen, eine blendend weiße Marmorfigur. Die Darstellung einer jungen Frau mit langen Locken und Schmetterlingsflügeln – wobei der Schmetterling für die Flüchtigkeit des Lebens und die Vergänglichkeit steht. Die Fee hält ein schlafendes Kind im Arm und gleitet auf einem Schwan über die Fluten des Ozeans. Zu diesem Wesen aus der Anderswelt kam Elisabeth jeden Morgen und jeden Abend. Ihr griechischer Vorleser, der kleine, bucklige – und deswegen für die im Alter abergläubische Kaiserin besonders glückverheißende – Philosophiestudent Konstantin Christomanos durfte sie gelegentlich begleiten: »So oft die Kaiserin vorübergeht, bleibt sie minutenlang in Anblick der Statue versunken; ja sie hat bestimmte Stunden, an welchen sie die Lichtfee aufsucht.«
Die »Lichtfee« trägt den Namen Peri, sie hat einen kurzen Auftritt in John Miltons Versepos »Paradise Lost« aus dem Jahr 1668. Als schöner, anmutiger, übermenschlicher Geist wird sie in der persischen Mythologie beschrieben, doch ist sie von übelwollendem Charakter. Peri kann einen Kometen oder eine Sonnenfinsternis bewirken, Regen verhindern, Missernten und Tod bringen. Diese Ambivalenz ist typisch für John Milton, dessen Werk Elisabeth gekannt und offenbar geschätzt hat.
Der Dichter, bereits völlig erblindet, soll die monumentale Geschichte des Sündenfalls seinen drei Töchtern diktiert haben. Obwohl sich bei »Paradise Lost« vordergründig alles um den Tod dreht, steht im Mittelpunkt Miltons Alter Ego, der Teufel. Ein verführerischer, charmanter, gegen Gott aufbegehrender Satan, der sich einen Streiter der Freiheit nennt: »Lieber in der Hölle herrschen als im Himmel dienen.« Erstmals in der Literaturgeschichte wird Satan beschrieben, wie er den Menschen ihre Potenziale bewusst macht, damit sie selbst zu Wissen und Göttlichkeit gelangen können. Milton hat in diesem größten englischen Epos den Teufel rehabilitiert: Der Verlust des Paradieses ist sein Werk und lässt sich selbst von Gott nicht rückgängig machen. Das Gute hat nicht gesiegt und das Böse sich in der Welt festgesetzt. Milton interpretiert den Teufel als intelligenten, egozentrischen Archetypus: Er ist gewissermaßen der erste »Byronic Hero« der Literatur.
Lord Byron, ein britischer Dichter um 1800, spielte in Kaiserin Elisabeths Welt eine wichtige Rolle, war er doch auch griechischer Freiheitskämpfer. Sie bewunderte ihn und die von ihm erschaffenen Protagonisten, allesamt Außenseiter und Rebellen. Sie kämpfen nicht für das »Allgemeinwohl« oder gesellschaftliche Veränderungen, sondern sind auf sich selbst fixierte Einzelgänger. Zynismus und Arroganz beschreiben ihren Charakter. Regeln, Sitten und soziale Reglements werden von ihnen verachtet, dennoch – oder gerade deswegen – gehören solche Antihelden immer einem höheren Stand an, verfügen über entsprechenden Wohlstand und luxuriösen Lebensstil. Byrons Gestalten bevölkern eine Welt der »Schwarzen Romantik«, es umgibt sie oft ein düsteres Geheimnis. Außerdem müssen sie sich mit einem hohen Maß an Frustration auseinandersetzen und zeigen selbstzerstörerische Tendenzen. Die Figuren sind – wie Miltons Satan – abstoßend und faszinierend zugleich.
Über einen ihrer toten Lieblingshelden, Achilleus, sagte die Kaiserin: »Er war stark und trotzig und hat alle Könige und Traditionen verachtet und die Menschenmassen für nichtig gehalten, gut genug, um wie Halme vom Tode abgemäht zu werden. Er hat nur seinen eigenen Willen heilig gehalten und nur seinen Träumen gelebt, und seine Trauer war ihm wertvoller als das ganze Leben.«
Elisabeths erklärter Lieblingsdichter Heinrich Heine widmete dem philhellenischen Lord Byron ein Gedicht:
Eine starke, schwarze Barke
Segelt trauervoll dahin.
Die vermummten und verstummten
Leichenhüter sitzen drin.
Toter Dichter, stille liegt er,
Mit entblößtem Angesicht;
Seine blauen Augen schauen
Immer noch zum Himmelslicht.
Aus der Tiefe klingt’s, als riefe
Eine kranke Nixenbraut,
Und die Wellen, sie zerschellen
An dem Kahn, wie Klagelaut.
Die Zeilen beschreiben die Überführung der einbalsamierten Leiche des klumpfüßigen Dichters, der eine Tochter mit seiner Schwester hatte, auf einem Schiff nach England. Byron war 36-jährig in Griechenland gestorben. Allein vom Inhalt her könnte das Gedicht von der Kaiserin selbst stammen.
Als der französische Maler und Grafiker Gustave Doré, bekannt vor allem für seine bizarren Darstellungen von Fabelwesen, Monstern und Skeletten, Miltons »Paradise Lost« im 19. Jahrhundert dem Zeitgeschmack entsprechend romantisch illustrierte, erlebte das Werk eine Renaissance. Vermutlich hat Kaiserin Elisabeth ebenfalls eine Ausgabe besessen und dürfte darin ihre Weltanschauung bestätigt gesehen haben.
Wie populär Miltons Erzählung gewesen ist, zeigt auch ein Gemälde des ungarischen »Malerfürsten« Mihály Munkácsy. Er hatte im Jahr 1878 das Bild »Milton diktiert seinen Töchtern ›Das verlorene Paradies‹« auf der Pariser Weltausstellung präsentiert und damit die Goldmedaille gewonnen. Das Thema machte Munkácsy europaweit berühmt.
2 Die marmorne »Peri« im Entrée der Hermesvilla
Elisabeth hat ihre steinerne »Peri« 1890 auf einer Reise durch Italien angekauft. Hergestellt wurde das Stück aus Sterzinger Marmor vom englischen Bildhauer Charles Francis Fuller, dem das »Verlorene Paradies« wohl auch gut bekannt war. Die Kaiserin war dabei, ihren neuen Wohnsitz auf Korfu auszugestalten; die Möbel und Ziergegenstände kaufte sie in erster Linie in Italien ein. So gelangte auch die »Peri« per Schiff auf die griechische Insel. Einige Jahre später, als Sisis Interesse am Achilleion längst abgekühlt war, wurden zahlreiche Ausstattungsstücke in das vom Kaiser geplante Altersretiro, die Hermesvilla im Lainzer Tiergarten, transferiert. Darunter befand sich auch die »Peri«, welche heute die Besucher im Eingangsbereich der Villa begrüßt. Die Figur ist drehbar: Während der Familiendiners blickte sie einst in den Speisesaal des Kaiserpaars.
»Peri« verfügt noch über weitere verborgene Qualitäten.
Das Jahr 1886 hatte für die mittlerweile fast 50-jährige Hausherrin der Hermesvilla weitreichende Bedeutung. Der von einer Mauer umgebene Bau »im mailich ergrünenden Walde« (Elisabeth) wurde fertiggestellt, ihr einst guter Freund, der bayrische König Ludwig II., starb unter ungeklärten Umständen und die einzige Bezugsperson, an die die alternde Kaiserin sich regelrecht gekettet hatte, begann ihr zu entgleiten: Marie Valerie, jüngste Tochter von Franz Joseph und Elisabeth, hatte ohnehin schon versprechen müssen, nicht vor ihrem 20. Geburtstag zu heiraten – sehr ungewöhnlich für eine Angehörige des Hochadels, die in ganz Europa als höchst begehrenswerte Partie galt. Im Jänner 1886 tanzte sie auf dem »Hofball« und auch auf dem besonders elitären »Ball bei Hof« mehrmals mit Franz Salvator aus der toskanischen Nebenlinie der Habsburger. Elisabeth gab ihren Sanktus, da sie der Lieblingstochter versprochen hatte, sie dürfe heiraten, wen sie wolle, »auch einen Schornsteinfeger«. Ihr Vater und ihr Bruder Rudolf waren – ausnahmsweise – einmal einer Meinung, und zwar dagegen. Der Auserwählte sei vom Stand her der Schwester nicht ebenbürtig. Dennoch, nach dem Weggang Valeries litt die kindisch eifersüchtige Mutter am meisten. Sie fühlte sich vereinsamt, als habe sie nicht eine verheiratete, sondern eine tote Tochter:
Fort zieht es dich aus meiner Näh’
Zu jenem blassen Knaben
Trotzdem ich ehrlich dir gesteh’,
Ich möchte ihn nicht haben.
Du siehst im Geiste um dich her,
Der Kinder zwölf schon wogen,
Zwölf Rotznäschen liebst du dann mehr
Als mich, die dich verzogen.
(…)
Ich aber breite trauernd aus
Die weiten weissen Schwingen,
Und kehr’ ins Feenreich nach Haus –
Nichts soll mich wieder bringen.
An die von ihr ersehnte ideale Mutter-Kind-Beziehung mag Elisabeth möglicherweise beim Erwerb der »Peri« auch gedacht haben. Sie sah sich selbst als junge Frau mit der kleinen Valerie, die sie überängstlich behütet und mit einem Übermaß an Liebe überschüttet hatte. Vermutlich kam es nur für die Mutter überraschend, dass das Mädchen sich innerlich schon früh von ihr entfernte, bieder und fromm wurde, den fantasielosen Vater vergötterte und ihr Lebensziel in Heirat und Mutterschaft suchte. Das langlockige, alterslose, in einen mit Sternen bedeckten Schleier gehüllte und geflügelt auf dem Meer schwerelos dahingleitende Wesen kann als Wunsch- oder Traumbild Elisabeths aufgefasst werden: So wollte sie sich selbst als Frau an der Schwelle zum Alter sehen, ein Bild, ebenso weit von der Realität entfernt wie ihre Vorstellungen von der idealen Zukunft ihrer Tochter.
»Peri«, also Elisabeth, scheint einem unklaren Ziel entgegenzuschweben. Emile M. Cioran, der bedeutende Philosoph der Melancholie, erklärt dieses Lebensgefühl Elisabeths: Die Lawine von familiären Unglücksfällen in den 1880er-Jahren wurde von der Kaiserin als Bestätigung aufgefasst, dass es kein Vertrauen in die Menschen ihrer Umgebung geben könne. Dass man auf sich selbst gestellt und allein sei. Zuversicht und Hoffnung waren der Kaiserin fremd. Sie hatte ihre eigene, von der Literatur der »dunklen Romantik« stark beeinflusste Art, mit der eigenen Individualität umzugehen.
Der Anker, an den die Fee sich lehnt, ist »Peris« einzige Stütze auf ihrer ungewissen Fahrt über die Meere. Ende der 1880er-Jahre, als Elisabeth wieder viel unterwegs war und sich in Gedanken mit ihrem Exil in Griechenland befasste, kehrte sie von einer Seereise mit einem unerwarteten Souvenir zurück. Im Hinterzimmer einer Hafenkneipe hatte sie sich einen Anker auf die Schulter tätowieren lassen. In diesen Jahren waren Tattoos nicht mehr nur bei Matrosen beliebt, sondern hatten den Aufstieg in Adelskreise bereits hinter sich.
3 Peri mit ihrem Anker
Über ein Jahrtausend war es her, dass tätowierte Frauen und Männer aus Europa verschwunden waren. Im 8. Jahrhundert wuchs der Einfluss des Christentums. Leute mit Hautzeichen wurden zu »Heiden« erklärt und verfolgt. Nun, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man bereits von einer regelrechten Tätowierungswut sprach, ging es vor allem um modernitätskritische Referenzen in Anlehnung an imaginierte exotisch-archaische Sehnsüchte nach einer einfacheren, freieren Welt. Diesem Trend folgten etwa der deutsche Kaiser Wilhelm II., Sisis Sohn Rudolf oder der »schöne Erzherzog« Otto, Bruder des heute aufgrund der Ereignisse in Sarajevo 1914 wesentlich bekannteren Franz Ferdinand. Aber auch weibliche Angehörige europäischer Fürstenhäuser ließen sich tätowieren, nicht allerdings im selben Ausmaß wie Männer. Die bürgerliche Mittelschicht verschmähte den Körperschmuck (noch), zahlte jedoch viel Geld, um in Vergnügungsetablissements wie beispielsweise dem Wiener Prater ganzkörpertätowierte Schaustellerinnen zu begaffen. Auch in den Bordellen musste man, vergleichbar mit der obligaten Schwarzen oder »Orientalin«, für das Vergnügen mit einer tätowierten Frau tiefer in die Tasche greifen.
Adolf Loos, wie immer »anti-ornamental« unterwegs, hielt nichts von der neumodischen Zeiterscheinung:
es gibt gefängnisse, in denen achtzig prozent der häftlinge tätowierungen aufweisen. die tätowierten, die nicht in haft sind, sind latente verbrecher oder degenerierte aristokraten. wenn ein tätowierter in freiheit stirbt, so ist er eben einige jahre, bevor er einen mord verübt hat, gestorben.
Als Elisabeth den Anker ihrem Ehemann vorführte, dürfte dieser recht sprachlos gewesen sein. Er fragte Valerie, ob sie auch schon über die »furchtbare Überraschung, dass sich nämlich Mama einen Anker auf der Schulter einbrennen liess«, geweint habe. Sisi selbst brachte das neue Tattoo mit der bevorstehenden Verlobung und Hochzeit der Tochter in Zusammenhang. Ein Zeichen dafür, dass es nun endgültig nichts mehr gab, was sie an den Hof zurückbringen könnte. Ein Symbol für die letzte Reise, den Tod.
Der Anker ist auf vielen Friedhöfen in Mitteleuropa als Grabgestaltung präsent. Vor allem Gräber aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den Jahren um 1900 zeigen den Anker in verschiedensten Ausführungen. Beim Trauerschmuck der viktorianischen Epoche ist das nautische Emblem ebenfalls häufig anzutreffen.
Ein Anker-Tattoo kann auch heute nicht schaden. Hundert Jahre nach der großen Tattoo-Welle im 19. Jahrhundert setzte in den 1980er-Jahren eine Renaissance des Tätowierens ein. Angehörige der gesellschaftlichen Mittelschicht tragen bisweilen Tattoos unter Anzug oder Kostüm. Weithin sichtbare Tätowierungen sind meistens jenen vorbehalten, die sich, in welcher Form auch immer, gegen den Mainstream abgrenzen wollen. Moderne Grenzgänger unterschiedlichster Metiers warten mit einem Anker auf, zum Beispiel das englische Topmodel Kate Moss, der Sänger der finnischen Black-Metal-Band Horna, Shatraug, oder die amerikanische Musikerin und Stil-Ikone Beth Ditto.
Und der heutige Hochadel? Verhält sich tattootechnisch äußerst zurückhaltend. Adolf Loos wäre zufrieden.
4 Trauertaschentuch mit Trauerkette, um 1890/1900. Der Anhänger zeigt zwei Todessymbole: Kreuz und Anker.
Bald aber naht ein Bote,
Hermes nennen sie ihn,
Mit seinem Stab regiert er die Seelen:
Wie leichte Vögel,
wie welke Blätter treibt er sie hin.
Du schöner, stiller Gott!
Hugo von Hofmannsthal/Richard Strauss:
Ariadne auf Naxos, 1912
Junge Leute des 21. Jahrhunderts assoziieren »Hermes« in erster Linie mit einem Postdienst, der das Neueste aus dem Internet ins Haus liefert. Im Prinzip ist der Firmenname sinnvoll gewählt, denn Hermes fungierte in der antiken griechischen Mythologie als Bote und (Ver-)Mittler. Der Sohn des Zeus und der Plejade Maia war einer der jüngsten der olympischen Götter. Er galt als schnell, listig und gewandt, ein Patron und Beschützer der Reisenden, Hirten und Diebe, Redner und Dichter, Athleten und Sportler, Erfinder und Kaufleute. Zu seinen Attributen gehörten der geflügelte Helm und ebensolche Sandalen sowie das Kerykeion, der Heroldsstab, abgeleitet vom griechischen Begriff »keryx«, der Herold. Zwei Schlangen winden sich um den obersten Teil des Stabes, sie blicken einander an und stehen für die Verbindung gegensätzlicher Kräfte. Auch die griechische Götterbotin Iris und die römische Göttin des Glücks Felicitas tragen das Kerykeion. Im Altertum war dieses Symbol das Erkennungszeichen der Boten. Es sollte die Immunität dieser Überbringer militärischer Befehle oder geheimer Nachrichten signalisieren und ihre schadlose Rückkehr garantieren. Später wandelte sich das Zeichen in den Merkurstab, ein Symbol des Handels.
Eine besondere, heute weniger bekannte Zuständigkeit des Hermes (römisch: Merkur) war in der Vorstellung der Gläubigen des Altertums jedoch seine wichtigste: Hermes führte den Beinamen »Psychopompos«, der Seelenführer. Auf die Verbindung gegensätzlicher Kräfte wurde bereits hingewiesen: Als göttlicher Grenzüberschreiter geleitet Hermes die Seelen der Verstorbenen an die Gestade der Flüsse Acheron (»der Kummervolle«), Styx (»der Verabscheuungswürdige«) und Lethe (»das Vergessen«) und somit zu Charon, dem Fährmann des Totenreichs. Hermes kontrolliert den »Verkehr« zwischen »Oben« und »Unten« und sorgt dafür, dass die Trennung zwischen den Welten aufrecht und die göttliche Ordnung somit gewahrt bleibt. Abgesehen von den definitiven Beherrschern des Jenseits, Hades und seiner geraubten Gemahlin Persephone, ist Hermes der Einzige, der die Unterwelt problemlos betreten und – nicht ganz unwichtig – wieder verlassen kann.
Die Vorstellung des Totenführers korrespondiert mit den Walküren, die die gefallenen Krieger heim nach Walhalla holen, oder dem Engel Azrael, der von Allah eine Liste mit den todgeweihten Menschen erhält und in den darauffolgenden 40 Tagen diese Aufgabe abarbeitet. Interessant ist auch der Riese Christophorus, der in frühchristlicher Zeit die Toten zur Himmelspforte begleitete und – wie sein altägyptisches Pendant und direkter Vorgänger, der Schakalgott Anubis – hundsköpfig dargestellt wurde.
Allgemein ist der »Seelenführer« eine mögliche Form der Personifikation des Todes. Abgesehen von Gottheiten oder Engeln können auch Geister oder Dämonen diese Aufgabe übernehmen. Neben dem Transport der Seele liegt die Bedeutung des Psychopompos darin, die Sterblichkeit zu akzeptieren. Altgriechische Vasenbilder oder Grabstelen zeigen auffallend oft Frauen, die von Hermes in die Unterwelt begleitet werden – eine Tatsache, die eventuell auch Elisabeths Interesse an dieser griechischen Gottheit gefördert haben mag.
5 Psychopompos Hermes wacht über Elisabeths Alterssitz im Lainzer Tiergarten.
An der Gartenfront der Hermesvilla begrüßte also gewissermaßen der Tod in Gestalt eines jungen Gottes die Hausherrin Elisabeth, ihre Familie und geladene Gäste. Heute betreten die Besucher das Haus durch den ehemaligen Personaleingang und erfahren von dieser besonderen Eigenart der Villa bei Lainz nur noch im Rahmen einer Spezialführung. Wäre es nach dem Kaiser gegangen, sollte die Hermesvilla ja den wenig originellen Namen »Villa Waldruh« tragen.
Am 1. Juli 1882 hatte Franz Joseph verfügt, in unmittelbarer Nähe der Stadt, aber doch schon in der stillen Abgeschiedenheit der Natur aus kaiserlichen Privatmitteln ein Gebäude zu errichten. Es glich einem Märchenschloss und sollte seinen Bewohnern fernab von Hofzwang und Zeremoniell als Erholungsort dienen. In nächster Umgebung des Hauses wurde das ansteigende Gelände terrassiert und dort steht die Statue des Hermes, geschaffen vom Berliner Bildhauer Ernst Herter, die namensgebend für das Bauwerk werden sollte. Dieses war zwar schon 1886 fertiggestellt, der Hermes jedoch folgte erst später, auf Elisabeths Wunsch. Sie bestellte die Plastik persönlich bei Herter, was unzählige Aktenstücke in der Registratur ihres Privatsekretariats bestätigen. Auch der Preis ist bekannt: 15 730 Gulden (zum Vergleich: 2000 Gulden = ca. 7000 Euro).
Überliefert ist, dass die Kaiserin bei der ersten Besichtigung der Innenräume nur den Kopf geschüttelt haben soll. Die Gestaltung entsprach nicht ihrem Geschmack, sondern kann eher als architekturgewordenes Psychogramm des Kaisers aufgefasst werden. Es waren von ihm favorisierte Künstler, die das Erscheinungsbild des Gebäudes bestimmten, das Franz Joseph Elisabeth zuliebe schließlich »Villa Hermes« nannte.
Auch im Achilleion, Elisabeths Privatresidenz auf Korfu, gab es eine »Hermesterrasse«. Ein ruhender Hermes war dort zu sehen, die Kopie einer Bronzestatue aus Herculaneum. Bilder von den Ausgrabungen in den »Städten unter der Asche«, also in Pompeji, Herculaneum und Stabiae, vor allem aber die Neuigkeiten aus »Troja«, das der deutsche Kaufmann Heinrich Schliemann entdeckt haben wollte, beflügelten die Fantasien der Archäologiefans des 19. Jahrhunderts. Die Altertumskunde war dabei, sich als ernst zu nehmende Wissenschaft zu etablieren, um sich von Schatzsuchern, Grabräubern und selbst ernannten »Experten« abzugrenzen. Wer über die notwendigen Mittel und viel Zeit verfügte, schiffte sich nach Smyrna, Neapel oder Alexandria ein und ging den »Sensationen der Vergangenheit« vor Ort auf den Grund.
Elisabeth war als Wittelsbacherin mit engen Beziehungen zu Griechenland aufgewachsen. Immerhin war 1832 der bayrische Prinz Otto, ein Sohn von Ludwig I., als künftiger König nach Griechenland geschickt worden. Die griechischen Nationalfarben Blau und Weiß erinnern noch heute an diese Episode. »Baiern« hieß schon seit 1825 »Bayern« mit einem griechischen Ypsilon. Später wurde Otto aus dem Land vertrieben, von den »schuftigen Griechen«, wie Franz Joseph sie nannte. Die Wittelsbacher verließen Griechenland ernüchtert und verbittert, das philhellenische Abenteuer konnte als gescheitert abgehakt werden.
Als Elisabeth das erste Mal nach Korfu kam, im Jahr 1861, war die Insel englisches Protektorat. Später, als Korfu schon griechisch war, herrschte dort ein weiterer ausländischer Monarch, Georg I., der eigentlich Wilhelm hieß, aus Dänemark kam und 1913 in Thessaloniki ermordet werden sollte. Die kaiserliche Touristin aus Österreich war mehr am ersten Präsidenten Griechenlands interessiert, Ioannis Kapodistrias. Er stammte aus Korfu, war jedoch 1831 ebenfalls ermordet worden, in Nauplia, als er gerade zur Kirche des hl. Spiridon, des Schutzheiligen seiner Heimatinsel, unterwegs war. Elisabeth verehrte den republikanischen Politiker in besonderem Maß, liebte sie ja Griechenland nicht zuletzt als Mutterland der Demokratie.
Auf Korfu suchten die Reisenden die klassischen Gegenden und Szenen und vermeinten in den Korfioten die Ebenbilder des alten Griechentums wiederzufinden. Viele antike Plätze und Ruinenstätten auf dem griechischen Festland waren vor 150 Jahren trostlose Orte, mit Unrat übersät, in den Überresten der Tempel hausten Schafe und Ziegen … Die Mitteleuropäer fühlten sich in ihrem realitätsfernen Bildungstraum gestört und wechselten nach Korfu, das von den Türken nicht erobert worden war und eine venezianische Eleganz ausstrahlte. Elisabeth schrieb an Valerie, dass es »nichts Schöneres auf der Welt« gebe als Korfu, ihr Herz könne sich »gar nicht fassen vor so viel ewiger Herrlichkeit«.
Doch beließ es die österreichische Monarchin nicht beim Schwärmen. Sie las altgriechische Literatur und beschäftigte zu diesem Behufe verschiedene Griechischlehrer, junge »Exoten und Sonderlinge«, die ihr eifersüchtiger Mann durchwegs nicht leiden konnte. Elisabeth verbrachte wesentlich mehr Zeit in der Gesellschaft der jungen Griechen als mit ihrem Kaiser, der die hellenischen Alleinunterhalter mit wechselnden, wenig schmeichelhaften Epitheta wie »der Schreiende« (Nikolaos Thermojannis), »der Bucklige« (Konstantin Christomanos), »der Großhaxerte« (Rhoussos Rhoussopoulos) oder »der Parfümierte« (Alexander Mercáti) bedachte.
Besondere Bedeutung für die Nachwelt sollte der Student Christomanos erlangen, der in seinen »Tagebuchblättern« die Begegnungen mit Elisabeth in der Art eines Chronisten festhielt. Bei seinem Antrittsbesuch bedeutete man ihm, in der Nähe der Hermesvilla zu warten. Er dürfte wohl sehr nervös gewesen sein:
Plötzlich stand sie vor mir – eine schlanke, schwarze Frau. Ihr Kopf hob sich vom Hintergrund eines weißen Schirms ab, durch den Sonnenstrahlen drangen. In der Linken hielt sie einen schwarzen Fächer, leicht an die Wange geneigt. Ihre Augen fixierten mich goldhell.
Drei Stunden spazierten die Kaiserin und ihr zukünftiger griechischer Vorleser durch den frühlingshaften Lainzer Tiergarten: »Dieses Wandern zwischen den hellen Stämmen der Birken und Buchen in die violetten, fast körperlich greifbaren Märchenschatten hinein, unhörbaren Schrittes auf der schwarzen feuchten Erde, über vermoderte Blätter vom vorigen Herbst.«
Abgesehen von der Statue des Hermes kündet in Lainz noch eine weitere Figur von Elisabeths Griechenlandkult. Eine marmorne Aspasia war einst im Freien aufgestellt, heute befindet sie sich aus konservatorischen Gründen im Stiegenhaus der Hermesvilla. Ignaz Weirich hatte die Figur in Rom geschaffen, sie kam erst 1898 in kaiserlichen Besitz. Aspasia wurde von der Hausherrin besonders geschätzt. Geboren im 5. Jahrhundert v. Chr. im kleinasiatischen Milet, wurde sie die zweite Ehefrau des Perikles. Politischer Einfluss war ihr wichtig, sie gab Unterricht in Rhetorik und die Sokratiker berichteten positiv über sie. Wie so viele Frauen, die den Versuch machten, sich über ihren Stand zu erheben, wurde sie als Hetäre und Bordellbesitzerin öffentlich verhöhnt. Nur mit Mühe gelang es Perikles, eine gegen seine Frau eingebrachte Klage wegen »Gottlosigkeit und Kuppelei« abzuwehren. Die geistreiche, gut aussehende und mutige Aspasia, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge souverän behauptete, scheint auf Elisabeth großen Eindruck gemacht zu haben.
6 Ein Vorbild für Elisabeth: Aspasia, Ehefrau des Perikles, im Stiegenhaus der Hermesvilla
Einer Zeitgenossin, die viel Zeit in der Hermesvilla verbringen sollte, setzte die Kaiserin auf ihre Art ein Denkmal, als sie im Mai 1887 von einer Reise nach Rumänien in die Villa im Tiergarten zurückkehrte:
Doch ist dies nicht wert des Lärmes;
Glück lebt nur in Phantasien,
Beiden sei darum verziehen;
Denkt da draußen Schutzgott Hermes.
Wem soll man verzeihen? Und was eigentlich?
Fortsetzung folgt in Kapitel IX.
Mehr als 30 Jahre war Elisabeth mit dem Kaiser verheiratet, als er die zündende Idee hatte, für sie (und ihn) ein Altersretiro im Lainzer Tiergarten errichten zu lassen. Schon die Silberhochzeit im Jahr 1879 war ein Albtraum gewesen. Laut Nichte Marie Larisch habe Tante Sisi dabei »eine Miene« gemacht »wie eine indische Witwe, die verbrannt werden sollte.« »Es ist schon genug, 25 Jahre verheiratet zu sein«, kommentierte die Kaiserin, »aber deshalb auch noch Feste zu feiern, ist unnötig.« Ein traditionelles Eheleben hatte es in dieser Beziehung kaum gegeben und gab es nun, als das Kaiserpaar in die Jahre kam, schon gar nicht mehr. Die Reitjagden in England und Irland, denen Franz Joseph nicht nur aus Kostengründen ausgesprochen ablehnend gegenübergestanden war, gab Elisabeth aus gesundheitlichen Gründen, vor allem aber wegen der unverzeihlichen Enttäuschung darüber, dass ihr schottischer Reitpilot »Bay« Middleton nach langjähriger Verlobungszeit endlich seine Freundin geheiratet hatte, auf. Sie selbst behauptete in den 1890er-Jahren, sie habe »plötzlich ohne jeden Grund den Mut verloren« und sie, »die noch gestern jeder Gefahr spottete, erblickte heute eine solche in jedem Busche«. Dies sei auch der Grund, warum »ich Valerie niemals erlaubte, ein Pferd zu besteigen; ich wäre nicht fähig gewesen, die ewige Unruhe zu ertragen«.
Der alte Kaiser, der sich seit Jahrzehnten übergangen fühlte, witterte seine vielleicht letzte Chance, Sisi sesshaft zu machen. Er wollte mehr Zeit mit seiner »süßen geliebten Seele« (»Édes, szeretett lelkem«, wie er fast alle Briefe an sie einleitete, auf Ungarisch) verbringen. Die Rolle des demütigen Bittstellers ermüdete ihn sichtlich. In der politisch sensiblen Zeit um 1866 hatte er Elisabeth geschrieben: »Jetzt hätt’ ich halt noch eine Bitt’. Wenn du mich besuchen könntest. Das würde mich unendlich glücklich machen.« Zwei Wochen später die Ernüchterung: »Komme bald wieder … wenn du auch recht bös und sekkant warst, so habe ich dich doch unendlich lieb …«. Die Jahrzehnte vergingen, der Ton blieb derselbe. Franz Joseph (58) an seine Angetraute (51), 1888: »Meine Gedanken sind viel und mit Sehnsucht bei dir. Du denkst wohl seltener an mich …«. Die beiden waren Antipoden, zwei höchst verschiedenartige Persönlichkeiten, die es trefflich verstanden, sich gegenseitig unglücklich zu machen.
In den 1880er-Jahren machte Franz Joseph seiner Kaiserin ein – in seinen Augen – traumhaft schönes Geschenk: eine Villa im Lainzer Tiergarten, abgeschieden, umgeben von einer Mauer, wo kein Fremder Elisabeth stören konnte. 1884 erging das folgende kaiserliche Handschreiben an Hofrat Freiherrn von Mayr, den Direktor der »Allerhöchsten Privat- und Familienfonde«:
Indem Ich die im Thiergarten nächst Lainz neuerbaute Villa sammt Nebengebäuden Ihrer Majestät der Kaiserin zum Eigenthume bestimmt habe, beauftrage ich Sie wegen Ablösung des Baugrundes und des dazugehörigen Wiesenkomplexes (…) die Verhandlung zu pflegen und (…) haben Sie Sorge zu tragen, dass sowohl die Villa (…) als auch der Grundkomplex unmittelbar als Eigenthum Ihrer Majestät der Kaiserin bücherlich eingetragen werde.
Ganz auf die Bedürfnisse seiner »sekkanten« Elisabeth sollte das Haus zugeschnitten sein. Hatte er Erfolg? Gefiel die Villa der kapriziösen Ehefrau? Ihre Reaktion war eher verhalten, doch schienen ihre positiven Gefühle für die Umgebung des Gebäudes von Herzen zu kommen:
Titania wandelt unter hohen Bäumen,
Mit weissen Blüten ist ihr Weg bestreut;
Die Buchen rings, die alten Eichen keimen,
Es scheint der Wald ein Dom dem Mai geweiht.
Ein Dom durchweht von märchenhaften Träumen,
Ein Zauberort verborgen und gefeit;
Maiglöckchen läuten duftend süße Lieder,
Und goldne Falter schweben auf und nieder.
Die weisse Hirschkuh folgt Titanias Schritten,
Nicht flieh’n die wilden Mouffelins vor ihr,
Eichhörnchen ist vom Stamm herabgeglitten
Und grüsst die Königin im Forstrevier.
Der scheue Kuckuck ist nicht abgeritten
Lauscht sie doch täglich seinem Rufe hier;
Die wilde Taube girret im Gezweige,
Und goldig geht ein Maientag zur Neige.
Im Mondlicht ruht Titania gern, dem blassen,
Ihr Lieblingsreh schaut dann zu ihr empor,
Wie ihre Arme zärtlich es umfassen;
Den wilden Eber krault sie hinterm Ohr;
Doch nie und nimmer werden zugelassen,
Die draussen an des Zauberwaldes Thor,
Um Einlass fleh’n mit Schreien und mit Scharren,
Die alten Esel und die jungen Narren.
Sie war fast 50 Jahre alt, als ihr die Hermesvilla zum Geschenk gemacht wurde. Ein Buch mit sieben Siegeln blieb Elisabeth für ihren Ehemann, er ahnte nichts von ihren Dichtungen, er verstand sie einfach nicht. Die beiden lebten in grundverschiedenen geistigen Welten.
Frauen hatten bis ins 18. Jahrhundert wegen ihrer geschlechtsspezifischen Gefährdungen durch Schwangerschaften, Geburten und Kindbett, Unterleibserkrankungen und wegen der schlechteren Ernährung im Vergleich zu den Männern eine deutlich geringere Lebenserwartung als diese. Königinnen und Kaiserinnen bildeten keine Ausnahmen, gerade ihre Aufgabe war es ja, Nachkommen am laufenden Band zu produzieren. Franz Josephs Vorvorgänger Kaiser Franz zum Beispiel war viermal vor den Traualtar getreten, zwei Frauen starben im Kindbett, eine von ihnen hatte in 17 Ehejahren zwölf Kinder geboren. Noch um 1880 betrug die Lebenserwartung von Frauen durchschnittlich nur etwa 40 Jahre.
In diesem Alter hatte eine veritable Midlife-Crisis Elisabeth erfasst. Sie war ruhelos und suchte nach einer sie ausfüllenden Beschäftigung, einem »Sinn«. Sollte sie in der Hermesvilla herumhocken und Däumchen drehen? Mit 50 war ihre Schönheit im Schwinden, Sport war Mord, Krankheiten quälten sie als Folge ihres ungesunden Lebensstils. Die fünffache Großmutter – ihre Tochter Gisela hatte vier Kinder zur Welt gebracht, Sohn Rudolf war Vater einer Tochter – hatte schon zehn Jahre zuvor für sich festgestellt: »Ein Mensch von vierzig Jahren löst sich auf, verfärbt sich, verdunkelt sich wie eine Wolke.« Ende der 1880er-Jahre hatte sie ihre Entscheidung getroffen:
Es gibt nichts »Grauslicheres«, als so nach und nach zur Mumie zu werden und nicht Abschied nehmen zu wollen vom Jungsein. Wenn man dann als geschminkte Larve herumlaufen muß – Pfui! Vielleicht werde ich später immer verschleiert gehen, und nicht einmal meine nächste Umgebung soll mein Gesicht mehr erblicken.
Dass Elisabeth nicht alt werden wollte, hatte nur marginal mit Eitelkeit zu tun. Sie konnte sehr wohl »Abschied nehmen vom Jungsein«. Vielmehr fürchtete sie sich vor einem ereignislosen Leben, vor Langeweile, davor, dass ihr ein großes Erlebnis, auf das sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte, versagt geblieben sein könnte. Dieses für die Epoche typische Lebensgefühl fasste der vor allem von Frauen viel gelesene, damals sehr »moderne« französische Romancier Paul Bourget wie folgt zusammen: »Der Becher, den uns das Leben hinhält, hat einen Sprung. So empfinden wir im Besitz den Verlust; im Erleben das stete Versäumen.«
Es waren jene wenigen Jahre vor 1889, in denen sie ihre letzten »lichten«, also hellen, Kleider trug. Bald sollte sie vor ihren Kleiderschränken stehen und ihre Garderobe durchmustern. Alles Farbige wurde aussortiert und verschenkt, Hüte, Tücher, Kleider, Schirme, Handschuhe …
7 »Johanneshaupt« (um 1890) aus Elisabeths Besitz, Ausstattungsstück der Hermesvilla
Im Entrée in der Hermesvilla fallen die düsteren Deckengemälde und Ausstattungsgegenstände auf, die ihr Leben bald ausschließlich bestimmen sollten. Der Wiener Publizist Gunther Martin sprach davon, dass Elisabeth in dieser Zeit wie eine Figur »aus den Bildern Gustave Moreaus schimmerte«. Moreau brillierte in den 1870er- und 1880er-Jahren als Maler antiker Mythen, die er als unergründliche Traumzustände zeigte, voller Schauer und Schrecken, Ahnungen, Empfindungen und Erregungen. Zu seinen Lieblingsmotiven gehörten geheimnisvolle Sphingen oder Frauen wie die biblische Heroine Salome, die den abgetrennten Kopf des Johannes auf einer Schüssel präsentiert oder dessen blutiges Haupt als nächtliche Erscheinung vor sich sieht. Auch Elisabeth besaß eine solche Schüssel mit einem toten Johanneskopf.
Dazu »Meister« Heine in seinem Versepos »Atta Troll. Ein Sommernachtstraum«:
In den Händen trägt sie immer
Jene Schüssel mit dem Haupte
Des Johannes, und sie küßt es;
Ja, sie küßt das Haupt mit Inbrunst.
(…)
Wird ein Weib das Haupt begehren
Eines Manns, den sie nicht liebt?
Als »liebesbleich und silberkühl« charakterisierte sich die alternde Elisabeth 1888, entsprechend dem in der zeitgenössischen Kunst vorherrschenden Frauenbild der »Femme fatale«. Ein Erkennungszeichen dieses Frauentyps sind die langen lockigen offenen Haare, denen die Kaiserin auch jenseits ihrer Gedichte, in der »Gegenwelt« der Realität, ein umständliches und langwieriges Ritual widmete. Der »männermordende Vamp« à la Salome war omnipräsent in der (Gebrauchs-)Kunst und verkaufte sich gut in der Zeit kurz vor 1900. Es gab verschiedene Varianten und Facetten, die rätsel-haft-grausame Sphinx, die extravagante Diva oder ganz grundsätzlich die Personifikation fataler Weiblichkeit, wie sie der Münchner Paradekünstler Franz von Stuck in seinem Bild »Die Sünde« publikumswirksam vorführte. Elisabeth machte sich in einem Gedicht als »Frau Ritter Blaubart« über ihre Verehrer lustig, sie erscheint als männermordende Zauberin. Diese Selbststilisierung zur kalten Schönheit bot ihr einen Schutz vor männlichen Machtansprüchen. Gleichzeitig bemühte die belesene Verfasserin byronsches Gedankengut, wenn sie aus der Mitte jener Eiswüsten zu sprechen schien, die der englische Dichter in den Herzen der Herrschenden wachsen sah:
Aus meiner hohen Eisregion
Ruf’ ich zu dir hernieder:
Dein Minnen ist umsonst mein Sohn
Erstarrtes grünt nie wieder.
Besitzest Du den kecken Mut,
Mich jemals zu erreichen?
Doch tödtet meine kalte Glut,
Ich tanze gern auf Leichen.
Seltsame Tanzvergnügen, beleuchtet von lichterloh brennenden Mumien, gab es auch im verwilderten Reich Kor, einem Abenteuerland à la Indiana Jones. Erfunden wurde es vom englischen Autor Henry Rider Haggard, der seine koloniale Vergangenheit in Südafrika und seine heftigen okkulten Neigungen in ein Buch einfließen ließ, das jeden Karl May in den Schatten stellt: ein durchlöcherter Berg voller Gräber, ein morbider Bienenkorb, in dem sich unversehens Schächte auftun, auf deren Grund uralte Knochen-pyramiden lagern, die gern auch mal ins Rutschen kommen. Eine ausschließlich dem Dienst an den Toten geweihte Kultur, mit seitenlangen Schilderungen von Kannibalismus, Folterungen und Totenbräuchen. Dieses Reich aus Stein und Moder beherrschte jene Frau, in der Elisabeth sich wiedererkannte. SHE-who-must-be-obeyed (Sie, der man gehorchen muss), war, so die Überlieferung, in Wirklichkeit eine bösartige Puppe, die in einem alten Schrank lebte und die von Haggards Nanny erfunden worden war, um den Buben zu erschrecken. Der erwachsene Haggard beschrieb in seinem 1887 veröffentlichten Bestseller »SHE« eine 3000 Jahre alte Königin, die sich auf geheimnisvolle Weise immer wieder verjüngte und sich so den Körper einer 30-Jährigen erhalten konnte. In der ostafrikanischen Einsamkeit wartet SHE, die hochgebildete, untote Philosophin, auf einen Wiedergänger. Über die Jahrhunderte hinweg hat sie keinen anderen Mann angesehen als den mumifizierten Leichnam ihres Geliebten, um für eine künftige Inkarnation des Toten bereit zu sein. Dem Schicksal Einzelner gegenüber zeigt sie sich kühl und gleichgültig. Ihre gezüchteten Domestiken sind taubstumm, misslungene Züchtungen lässt sie aussterben. Hilflose Untertanen, die sich unbotmäßig gezeigt haben, tötet sie mit einer berührungslosen Handbewegung. Haggard schickt in seinem Werk zwei englische Reisende nach Afrika, die Licht in die dunklen Geheimnisse von Kor bringen sollen. Selbstverständlich ist SHE, die älteste Frau der Welt, gleichzeitig die schönste. Eingehüllt in ein »Grabgewand« verweigert sie sich den voyeuristischen Blicken der Männer: »Wenn ich dir mein Gesicht zeige, würdest du vielleicht ebenso elend zugrunde gehen, vielleicht würdest du dein Leben in ohnmächtigem Begehren vertun, denn wisse: Nicht für dich bin ich.«
Totengöttin, Herrscherin und Femme fatale verschmelzen bei Haggards SHE zur archetypischen Figur, die Elisabeths Interesse auf sich zog. Sie wurde sich ihrer Verwandtschaft mit der Romangestalt in besonderer Weise bewusst.
Die Verweigerungen und das Verschwinden der Kaiserin spielen sich in diesem vielgelesenen, spannenden Abenteuerroman in einem atemberaubenden archaischen Szenario ab. Der Rückzug aus den Pflichten einer Monarchin führt nun ins dunkle Herz eines afrikanischen Felsens, Fächer und Schirm verwandeln sich in »Grabgewänder« und Mumienbinden.
Zur Mythologisierung ihres Verschwindens hatte Elisabeth einen Unterhaltungsroman gewählt, den sie ein Jahr nach seinem Erscheinen in dem oben erwähnten Gedicht (»Titania und Alfred«) mit einem Bezug auf ihre eigene Person versah. Derselbe sadistische Zug, der SHE (und Elisabeth) charakterisiert, zeigt sich auch in einer Strophe, in der sich die Kaiserin mit ihrem Stalker Alfred Gurniak Edler von Schreibendorf auseinandersetzt:
In meiner schönen Mache
Verzapple dich zu Tod,
Ich schaue zu und lache
Von jetzt bis Morgenrot.