Felix Mitterer: Verlorene Heimat
HAYMON
Verlorene Heimat
aus: STÜCKE 2
Die Herausgabe der Werksammlung wurde vom Land Tirol, dem Bundesministerium für Unterricht und Kunst und von der Gemeinde Telfs gefördert.
©1992
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Aufführungsrechte für alle Stücke beim Österreichischen
Bühnenverlag Kaiser & Co., Am Gestade 5111, A-1010 Wien
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-7099-7113-0
Umschlaggestaltung:
hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
Dieses Stück wurde dem Sammelband »Stücke 2«, erschienen 1992 im Haymon Verlag, entnommen. Den Sammelband »Stücke 2« erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Verlorene Heimat
Lebenslauf
1985 traten die Zillertaler Heinz Tipotsch und Friedl Wildauer an mich heran und fragten, ob ich nicht ein Stück über die Vertreibung der Zillertaler Protestanten schreiben könne, welches Ereignis sich 1987 zum 150. Mal jähren würde und woran man erinnern wolle. Da ich es für wichtig halte, über die Vergangenheit, über die begangenen Fehler möglichst viel zu erfahren, und vielleicht doch ein wenig daraus zu lernen, erklärte ich mich sofort bereit, hier mitzumachen. Die Zillertaler äußerten zudem den Wunsch, das alleinige und ausschließliche Aufführungsrecht für das Stück erwerben zu wollen, womit ich einverstanden war, da mir das die Chance gab, auf die Lokalgeschichte wirklich genau einzugehen. Als Schauplatz der Aufführung wurde der Dorfplatz von Stumm vorgeschlagen, der sich dann tatsächlich als einziger Platz im Zillertal herausstellte, wo man mit nur einer Retusche (Abdeckung der Glasfront einer Gemischtwarenhandlung) das Jahr 1837 herstellen konnte. Ein Gasthaus liegt am Platz, die Kirche mit dem Friedhof, das Pfarrwidum und ein Schloß, das die Rolle des Landgerichtes übernehmen konnte. Nach langen Recherchen und Studien lag das Stück Anfang 1987 vor.
Was nun folgte, war mein schönstes und wichtigstes Theatererlebnis bisher. Die Zillertaler gründeten einen Verband, in dem sich alle Volksbühnen des Tales zusammenschlossen, um gemeinsam dieses große Projekt durchzuführen. Das ganze Tal arbeitete mit dem Regisseur Ekkehard Schönwiese an der Entstehung der Produktion. 150 Schauspieler, Sänger und Statisten wurden ausgesucht, Pferde, Widder, Kühe und Hunde wurden engagiert, geputzt, gepflegt und für ihre Auftritte trainiert, alte Gerätschaften, Schuhe, Kleider trug man zusammen, Kutschen und Leiterwagen trieb man auf, und hinter der Bühne werkten nocheinmal 50 Mitarbeiter am Tribünenbau, an den Lichtanlagen, in der Kostüm- und Bühnenwerkstatt, in der Organisation. Und dies alles neben der täglichen Berufsarbeit, die jeder der Mitwirkenden natürlich trotzdem absolvieren mußte.
Am 27. Juni 1987 fand die Uraufführung statt, und das Interesse war enorm. Alle Talbewohner wollten das Stück sehen, wollten etwas erfahren über ihre Geschichte, über den Schmerz ihrer Vorfahren. Selbst viele Nachkommen der damaligen Auswanderer reisten von weither an, lernten Verwandte kennen, sprachen über die damaligen Ereignisse. Die Zustimmung war einhellig, ausgenommen ein paar konservative Pfarrer und deren Schäfchen, die immer noch meinten, die Vertreibung der Protestanten sei damals rechtmäßig und richtig gewesen, und außerdem solle man die alten Geschichten nicht aufwärmen und damit – wie sie meinten – neuerlichen Zwiespalt schaffen. Bis in den Oktober hinein wurde an den Wochenenden gespielt, erst Kälte und Dauerregen setzten der Sache ein Ende. Es ist geplant, das Stück alle zehn Jahre aufzuführen.
Andreas Egger (50), Bauer
Anna (42), seine Frau
Kinder: Hans (17), Georg (15), Simon (13), Eva (10), Viktoria (9), Blasius (7), Markus (4)
Jakob Egger (82), Vater von Andreas, blind
Christian Brugger (40), Knecht bei Egger, Protestantenführer
Steindl-Maria (35), Magd bei Egger
Michael (10), Sohn von Brugger und Maria
Johann Fleidl (45), Schuhmacher, Weber, Protestantenführer
Bartholomäus Heim (47), Bauer, Protestantenführer
Miedl Heim (40), seine Frau
Die Heims haben vier Kinder (13, 10, 9, 8)
Pfarrer (60)
Landrichter (50), Auswärtiger
Vorsteher (50)
Vorstehersfrau (40)
Vorsteherskinder: Peter (12), Thomas (11)
Schmied-Josef (35), Sensenschmied
Sensen-Simon (30), Sensenhändler
Klocker-Traudl (80), Für-und-Für-Toanerin (alte Dienstmagd)
Wäscherin (65), bissige Alte
Kreishauptmann (55), Auswärtiger
1. Gerichtsdiener (40), 2. Gerichtsdiener (35)
Noch weitere 6 Gerichtsdiener
Balthasar Rieser (40), Bauer; mit Frau (40) und 3 Kindern (18, 16, 14)
Dornauer (55), Bauer; seine Frau (50)
Reitender Bote (30)
Arzt (35)
Noch etliche weitere Rollen mit wenig Text. Katholische und protestantische Dorfbewohner.
ORT UND ZEIT: Zillertal 1830-1837
BÜHNE:
Der Dorfplatz von Stumm im Zillertal. Den Asphaltboden eventuell mit Schotter abdecken. Das Stiegler-Haus ist im Spiel das Haus des Gemeindevorstehers. Die Glasfront der Gemischtwarenhandlung muß abgedeckt werden. Der Geschäftseingang ist der Eingang zum Haus. Der Balkon und mehrere Fenster spielen mit. Das Schloß spielt die Rolle des Landgerichts. Links neben dem Tor hängt an der Umfriedungsmauer ein großes Schild: »K. K. Landgericht«. Links hinter dem Tor weht auf einer hohen Stange die Fahne der Monarchie. Rechts hinter dem Tor die Tiroler Landesfahne. Das Haus Rieser (»Kratzl«) spielt das Pfarrwidum. Der Postkasten muß entfernt werden. Die Sitzbank an der rechten Seite bleibt. Der eiserne Rolladen an der linken Seite ist mit einer Platte abgedeckt, die Hälfte der Platte wird von einem Muttergottesbild eingenommen.
Sonntag. 20 Uhr 30. Noch hell. (Im Laufe des Bildes wird es dunkel, die Scheinwerfer simulieren Mondlicht.) Aus der Kirche hört man leise die Geräusche des Abendgottesdienstes. Auf der »Lugenbank« an der Gerichtsmauer sitzen schweigend drei alte, schwarz gekleidete Männer, haben ihre Hände auf die Stöcke gestützt. Sie sitzen während des ganzen Stückes da, verlassen nie ihren Platz. Sie müssen aber nicht ständig unbeweglich sitzen, sie können sich auch eine Pfeife anzünden, sich zurücklehnen, es sich bequem machen. Am rechten Rand der Lugenbank sitzt in Alltagskleidung der »heutige Zillertaler«, hält einen Schnellhefter mit seinem Text in der Hand. Am Brunnen spielen Peter (12) und Thomas (11), die zwei Buben des Gemeindevorstehers. Sie lassen zwei geschnitzte Holzschiffchen schwimmen. Peter macht mit einer Hand große Wellen.
PETER: Hui! Der Sturm! Der Sturm!
THOMAS: Zu Hilf! Zu Hilf! I sauf ab! Heiliger Christophorus, hilf!
Die Buben spielen weiter, der heutige Zillertaler steht beim ersten Wort Peters von der Lugenbank auf, geht auf den Platz, tritt vor die Zuschauer, schlägt den Schnellhefter auf, beginnt zu lesen.
HEUTIGER ZILLERTALER: (liest) Die Unterdrückung und Ausbeutung des Tiroler Volkes führte im Jahre 1525 zum Bauernaufstand. Das Volk forderte soziale Gerechtigkeit, die Erneuerung der verrotteten römisch-katholischen Kirche und eine Rückbesinnung auf die wahren Inhalte des Glaubens. Viele Tiroler schlossen sich der Lehre Luthers an, noch mehr aber der Lehre der Wiedertäufer, die besonders radikal irdische Gerechtigkeit forderten. Es wurde nun im Lande so lange geköpft, gepfählt, gevierteilt und verbrannt, bis die Obrigkeit annehmen konnte, daß das Übel der Ketzerei ausgetilgt und dem alten Glauben und der alten Ordnung wieder zu seinem Recht verholfen sei. Gleichzeitig setzte die Gegenreformation ein, allerorten entstanden neue Klöster, Bruderschaften, Stiftungen und Kirchen, so daß die Glaubenseinheit nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mittels Unterricht und Lehre wieder hergestellt wurde. Aber ganz konnten die neuen, freiheitlichen Ideen nie ausgerottet werden. Und immer wieder bekannten sich auch in Tirol Menschen zum protestantischen Glauben. 1684 bis 1686 mußten unter Zurücklassung ihrer Kinder eintausend evangelische Deferegger ihre Heimat verlassen. Im benachbarten Salzburg wies der Fürsterzbischof im Jahre 1731/32 über zwanzigtausend protestantische Bauern und Knappen aus dem Lande. Auch in dem damals großteils zu Salzburg gehörenden Zillertal flackerte die protestantische Bewegung immer wieder auf und wurde heftigst unterdrückt. Im Jahre 1781 erließ Kaiser Josef II. sein Toleranzpatent, in dem die Glaubensfreiheit für die evangelischen Christen verkündet wurde. So schien die Zeit des Gewissenszwanges ein Ende zu haben. Aber in Tirol kam es anders. Noch einmal und zum letzten Mal mußten Menschen wegen ihres evangelischen Glaubens die Heimat verlassen.
Der heutige Zillertaler geht zu seinem Platz auf der Lugenbank zurück, das Gatter des Gerichtstores wird vom 1. Gerichtsdiener geöffnet. Schmied-Josef erscheint. (Er wurde von der Arbeit weg verhaftet, trägt also rußige Arbeitskleidung und einen speckig glänzenden Lederschurz.) Schmied-Josef hat an der Stirn eine erst vor kurzem zugefügte Platzwunde und trägt eine Art von Holzkreuz. (Der Längsbalken des Kreuzes steht nicht über den Querbalken hinaus, es ist ein Kreuz, wie es auf frühen Abbildungen der linke und rechte Schächer hatten. Stehend wird das Kreuz dem Schmied-Josef bis an die Höhe des Kinns reichen. Links und rechts am Querbalken je eine Art Ledergürtel, mit dem man Hände an die Querbalken fesseln kann.) Hinter Schmied-Josef kommen der 1. und 2. Gerichtsdiener nach. Der 1. Gerichtsdiener hat einen langen, hölzernen Stock in der linken Hand und führt Schmied-Josef am Ärmel in die Mitte des Platzes, genau vor das Publikum hin. Der 2. Gerichtsdiener hat ein Gewehr mit aufgestecktem Bajonett umhängen, geht hinter den beiden nach. Schmied-Josef trägt das Kreuz nicht wie Jesus über der Schulter, sondern ganz normal wie irgendeinen Gegenstand. Peter und Thomas hören zu spielen auf, setzen sich auf den Brunnenrand und schauen zu. Auch die drei alten Männer schauen zu. Der heutige Zillertaler, der außerhalb des Spieles steht, ist immer ein unbeteiligter Zuseher. Der 2. Gerichtsdiener nimmt nun Schmied-Josef das Kreuz aus den Händen, stellt es in ein Loch, das in den Boden gegraben ist. Dann stellt der 2. Gerichtsdiener Schmied-Josef mit dem Gesicht zum Kreuz (und zum Publikum) und fesselt ihm die Hände an den Querbalken. Der 1. Gerichtsdiener schaut gleichgültig zu. Auf dem Balkon des Stiegler-Hauses erscheint die Frau des Gemeindevorstehers, schaut zu Schmied-Josef, sieht ihre Kinder.
VORSTEHERSFRAU: Peterl! – Thomerl! – Ins Haus! Aber marsch!
PETER: Geh, Muatter!
Neben die Frau tritt der Gemeindevorsteher, hat ein Fraggele Schnaps in der Hand.
VORSTEHERSFRAU: Ins Haus, sag i!
VORSTEHER: Laß sie! Sie sollen des nur sehn! (Zu den Buben:) Könnts bleiben!
THOMAS: Dankschön, Vater!
Die Vorstehersfrau schaut mißmutig, geht zurück ins Haus, der Vorsteher bleibt stehen, stellt das Fraggele Schnaps auf die Balkonbrüstung, holt Pfeife und Tabaksbeutel hervor, stopft die Pfeife, zündet sie an, raucht, trinkt dann immer wieder vom Schnaps. Schmied-Josef ist nun angefesselt, der 1. Gerichtsdiener schaut zur Kirchturmsuhr, geht zum Brunnen, trinkt einen Schluck Wasser, schlägt mit seinem Stock probeweise durch die Luft, schaut die Buben an, schlägt grinsend mit dem Stock ins Wasser, so daß es auf die Buben spritzt, diese heben schützend die Hände hoch, lachen. Der 2. Gerichtsdiener kommt auch heran. Der 1. Gerichtsdiener sieht die gekippten Holzschiffchen.
1. GERICHTSDIENER: Öha, seids auf dem Weltmeer unterwegs?
PETER: Ja, wohl! Aber leider Gottes samma untergangen!
2. GERICHTSDIENER: Jaja, des Weltmeer is a gfährliche Sach! Liaber dahoam bleiben!
Der 2. Gerichtsdiener setzt sich auf den Brunnenrand, der 1. Gerichtsdiener spielt mit dem Stock im Wasser, stößt die Schiffchen umher. Plötzlich hört man aus der Kirche einen Mann etwas rufen. Es ist die Stimme von Christian Brugger, Knecht bei Andreas Egger und ein Anführer der Protestanten.
STIMME BRUGGER: Lugen! Lugen! Lugen!
Die Leute am Platz horchen zur Kirche, der 2. Gerichtsdiener steht auf, geht ein paar Schritte Richtung Kirche vor, lauscht. Plötzlich kommen durch den Friedhof sehr schnell der 3. und 4. Gerichtsdiener, führen in ihrer Mitte Christian Brugger. Der 3. Gerichtsdiener hält sein Gewehr in der rechten Hand. Brugger ist in ärmlicher Werktagskleidung, hat sich also für den Kirchenbesuch nicht sonntäglich angezogen. Hinter Brugger läuft sein Sohn Michael (10), er ist barfuß und noch ärmlicher gekleidet.
MICHAEL: Vater! Vater!
Die beiden Gerichtsdiener führen Brugger schnell über den Platz auf das Gericht zu. Brugger sieht Schmied-Josef am Kreuz, will innehalten.
BRUGGER: Schmied-Josl! He, was tuan sie denn mit dir?
Der 3. Gerichtsdiener stößt Brugger den Kolben seines Gewehres ins Kreuz, der andere zieht ihn weiter. Schmied-Josef schaut ihnen nach. Sie sind nun schon fast beim Gatter, Michael hängt sich an den Rock seines Vaters.
MICHAEL: Vater! Vater!
Der 4. Gerichtsdiener reißt Michael weg, schleudert ihn zurück, so daß er hinfällt.
BRUGGER: Geh hoam, Michal!
MICHAEL: (rappelt sich auf) Na, i will mit dir!
BRUGGER: Des geht nit, Michal! I kimm ja eh bald wieder! Jetzt sei so guat, tua folgen!
Die zwei Gerichtsdiener fassen Brugger wieder, schleifen ihn zum Gericht, verschwinden. Michael schaut ihnen nach, bricht in Tränen aus. Auch der 1. und 2. Gerichtsdiener schauen ihnen nach.
1. GERICHTSDIENER: (setzt sich auf den Brunnenrand) I woaß nit, de müassen den Teufel im Leib haben! Sie geben koa Ruah!
Auch der 2. Gerichtsdiener setzt sich wieder auf den Brunnenrand. Michael setzt sich neben dem Tor auf den Boden, lehnt sich an den Mauerpfosten, will auf seinen Vater warten. Peter schaut zu Michael, Thomas schaut zu Schmied-Josef, steht auf, geht zu ihm, umschleicht ihn vorsichtig, bleibt stehen, starrt ihn an. Schmied-Josef blickt ruhig zurück, lächelt. Peter steht auf und spaziert langsam zu Michael.
THOMAS: (leise zu Schmied-Josef) Hast du wirklich den Teufel im Leib?
SCHMIED-JOSEF: Na, Bua, ganz gwiß nit! Den ham scho andere!
Peter steht nun vor Michael, der den Kopf auf die angezogenen Knie gelegt und die Arme um die Unterschenkel verschränkt hat.
PETER: Grüane Fack!
Michael schaut auf.
PETER: Grüane Fack!
Thomas schaut zu den beiden, geht auch hin. Michael steht langsam auf. Er ist kleiner als die zwei anderen Buben.
MICHAEL: (zu Peter) Was hast gsagt?
THOMAS: Grüane Fack, hat er gsagt.
MICHAEL: Und es seids schwarze Sauhund!
Der Vorsteher hat amüsiert den Wortwechsel beobachtet, auch die zwei Gerichtsdiener schauen grinsend zu.
VORSTEHER: Auf gehts, Buam!
Peter greift Michael in den Haarschopf und reißt ihn nieder, beide Buben stürzen sich auf ihn, schlagen auf ihn ein.
PETER UND THOMAS: Grüane Fack! Grüane Fack! Grüane Fack!
Michael wehrt sich heftig, es gelingt ihm zu entwischen, er läuft auf den Platz, die zwei Buben hinter ihm her, Michael läuft um den Brunnen, der 2. Gerichtsdiener stellt ihm ein Bein, Michael stolpert, die zwei Buben erwischen ihn wieder, packen ihn, schmeißen ihn in den Brunnen, tauchen ihn unter.
VORSTEHER: Bravo, Buam! Taufts ihn nur ordentlich! Des brauchen sie, die Lutherischen!
Michael taucht prustend auf, reißt sich los, springt aus dem Brunnen, läuft Richtung Gasthof Linde davon. Am Eck des Stiegler-Hauses bleibt er stehen.
MICHAEL: Wartets nur! I hol meine Brüader, nacha gehts enk schlecht!
VORSTEHER: (vom Balkon) Geh, du woaßt ja gar nit, wo deine Brüader san! Seids ja alles verstrahte, ledige Fratzen!
MICHAEL: (schluchzend) I find sie schon! I find sie schon!
Michael dreht sich um, geht in seiner triefenden Kleidung langsam davon, verschwindet. Auf der Hauptstraße von links kommt der Sensenhändler Sensen-Simon daher. Auf dem Rücken trägt er eine große Kraxe mit einem leichten Behälter, in dem viele Sensenblätter Platz haben. Simon ist unrasiert, müde und staubig, weil er zu Fuß unterwegs ist und eine lange Reise hinter sich hat. Sensen-Simon sieht Schmied-Josef, bleibt erschrocken stehen.
1. GERICHTSDIENER: Ah, der Saasen-Handler! Kimm amai her zu mir!
Sensen-Simon schaut zum Gerichtsdiener, schaut zu Schmied-Josef, geht langsam zum 1. Gerichtsdiener, schaut ihn ruhig an.
1. GERICHTSDIENER: Wo kimmst denn her?
SENSEN-SIMON: Von überall! Aus ’m Deutschen Reich halt!
2. GERICHTSDIENER: Hast deine Saasen verkafft ...
SENSEN-SIMON: So is es.
2. GERICHTSDIENER: Und dafür lutherische Büacher einkafft ...
Sensen-Simon grinst. Aus der Kirche ertönt jetzt vielstimmig das Lied »Großer Gott, wir loben dich!«. Orgelmusik dazu.
1. GERICHTSDIENER: Zoag ma amai dein Paß!
Sensen-Simon zieht seinen Paß heraus, der 1. Gerichtsdiener schaut ihn an, der 2. Gerichtsdiener steht auf und untersucht die Kraxe, die Taschen und Rocksäcke von Simon, findet nichts. Simon läßt die Untersuchung gleichgültig über sich ergehen. Er hat das schon oft erlebt.
VORSTEHER: (vom Balkon herunter) Der hat des doch schon längst verschwinden lassen! Glabts ihr, der is deppert?
Der 1. Gerichtsdiener gibt den Paß zurück.
1. GERICHTSDIENER: Mir derwischen di schon no!
Sensen-Simon grinst, beugt sich zum Wasserrohr, wäscht sich das staubige Gesicht ab, trinkt, geht dann zum Schmied-Josef.
SENSEN-SIMON: Was hast ’n gmacht, Josl?
SCHMIED-JOSEF: Bei der Prozession hab i mi nit vor der Monstranz niederkniat! Hams mi zwungen! Hab i gsagt, des is Götzendienst, heidnischer Götzendienst!
1. GERICHTSDIENER: Verschwindt, Saasen-Handler! Du hast mit dem nix zu plauschen!
SCHMIED-JOSEF: Hast sie alle verkafft?
SENSEN-SIMON: Alle! (Greift zurück, holt ein eingewickeltes Sensenblatt heraus, stellt sich so, daß die Gerichtsdiener das Sensenblatt nicht sehen, wickelt das Ölpapier ab, man sieht, daß eine Broschüre um das Sensenblatt gebunden ist.) Bis auf des. Des verkaff i nit. Des is des schönste. Zum Herzoagen. (Wickelt das Papier wieder herum.) Sie sagen alle, du machst die besten Saasen. In die blanken Stoaner kannst mit denen einimahn, ohne daß d’ a Scharten siehgst. (Gibt das Sensenblatt in die Kraxe zurück.) I glab, du muaßt dei Werkstatt vergrößern und Leut anstellen!
Der 1. Gerichtsdiener ist herangekommen, schlägt Sensen-Simon den Stock von hinten scharf an den Arm, Simon zuckt erschreckt zusammen.
1. GERICHTSDIENER: I hab dir gsagt, du sollst verschwinden!
Sensen-Simon schaut ihn ruhig an, der 1. Gerichtsdiener hebt wieder den Stock, Simon spuckt vor ihm aus, geht langsam zur Lugenbank. Der 1. Gerichtsdiener schaut zur Spucke auf den Boden, schaut zu Sensen-Simon.
1. GERICHTSDIENER: Du wirst dei Speibe no auflecken, des versprich i dir!
Sensen-Simon nimmt seine Kraxe ab, setzt sich neben dem rechten Torpfosten auf die Lugenbank. Das Lied in der Kirche ist aus, die Orgel spielt Schlußakkorde, wird lauter, weil die Kirchentür geöffnet wird. 50 Kirchengänger tauchen auf dem Friedhof auf, kommen auf den Dorfplatz. Orgelmusik aus. Der 1. Gerichtsdiener schaut zu den ankommenden Leuten, geht zum Gerichtsgebäude, um den Landrichter zu holen. Unter den aus der Kirche Kommenden ist die Eggerfamilie: Andreas Egger, seine Frau Anna, die Kinder Hans (17), Georg (15), Simon (13), Eva (10), Viktoria (9), Blasius (7), Markus (4). Anna führt Blasius und Markus an der Hand. Eva und Simon haben sich an ihrem Vater eingehängt. (Die beiden mögen ihn am liebsten.) Jakob Egger, der Vater von Andreas, ist 82 Jahre alt und blind. Er wird von Viktoria geführt. (Anna ist streng katholisch, Andreas und sein Vater Jakob sind schon lange im Inneren Protestanten, wagen aber das offene Bekenntnis dazu noch nicht. Anna weiß aber natürlich davon, es gibt oft Zwistigkeiten deswegen.) Steindl-Maria kommt mit den Egger-Leuten, ist nur noch nach außen hin katholisch, hat vom Knecht Brugger den Buben Michael. Auch die alte Dienstmagd (Für-und-Für Toanerin) Klocker-Traudl ist unter den Herauskommenden. Sie ist sehr alt, hat die Krätze und nur mehr einige graubraune Büschel Haare am Kopf, hat Wasser in den Beinen, die mit schmutzigen Fetzen eingefatscht sind, geht barfuß, trägt arg zerlumpte Kleidung, geht krumm an einem Stock. (Traudl ist eigentlich eine Heidin, hängt aber an den katholischen Bräuchen. Von den Bauern hält sie nicht viel, weil sie von den meisten schlecht behandelt wird.) Weiters ist unter den Herauskommenden Miedl Heim (40), die Frau des Bauern Bartholomäus Heim, ein Anführer der Protestanten. (Midi ist eine gute Frau, läßt Heim bei seinem Glauben, sie selbst ist katholisch, aber auch ihr Mann übt deswegen keinen Druck auf sie aus.) Bei Midi sind ihre vier Kinder im Alter von 13, 10, 9, 8 Jahren. Weiters kommen der katholische Bauer Rieser mit Frau und drei Kindern (18,16, 14) sowie der reiche katholische Bauer Dornauer (55) mit Frau (50). Als Vorletzte kommt die Wäscherin Burgl heraus. Alle sehen Schmied-Josef am Kreuz, stehen still, schauen zu ihm. Als letzter kommt der Pfarrer vom Friedhof her, sieht Schmied-Josef, geht zu ihm.
PFARRER: Hat sich des jetzt auszahlt, Josef?
Schmied-Josef schaut den Pfarrer gar nicht an, er verachtet ihn.
PFARRER: Aber des kannst sicher sein: diese lächerliche irdische Straf is ein Dreck gegen des, was dich im Jenseits erwartet!
Klocker-Traudl humpelt zur Lugenbank, setzt sich neben Sensen-Simon. Der Landrichter (ein vornehmer Herr mit kostbarem Spazierstock) kommt aus dem Gerichtstor, hinter ihm führen der 3. und 4. Gerichtsdiener den Christian Brugger. Er ist jetzt an den Händen mit Eisenschellen gefesselt. Dahinter kommt der 1. Gerichtsdiener. Sie gehen alle dorthin, wo Schmied-Josef am Kreuz steht. Die Leute weichen zurück. Steindl-Maria geht zu Brugger.
STEINDL-MARIA: (verzagt) Christl! Was tuast denn?
Der 3. Gerichtsdiener stößt Maria weg. Der Landrichter stellt sich neben Schmied-Josef auf, schaut den Pfarrer an, schaut sich um.
LANDRICHTER: Wo ist der Vorsteher?
VORSTEHER: (vom Balkon) Hier!
LANDRICHTER: Kommen Sie gefälligst herunter! Das ist eine Amtshandlung!
Der Vorsteher verschwindet.
LANDRICHTER: (schaut zu Brugger) Da her!
Der 3. und 4. Gerichtsdiener führen Brugger neben den Landrichter. Der Vorsteher kommt aus der Haustür, hat jetzt einen Rock an, hinter ihm erscheint seine Frau, hält nach ihren Buben Ausschau, sieht sie, geht zu ihnen, schnappt Peter am Haarschopf, Thomas am Ohr und zieht sie ins Haus. Der Vorsteher geht inzwischen zum Landrichter, knöpft sich den Rock zu.
LANDRICHTER: Leute, das ist jetzt schon der vierte Fall von Religionsstörung!
BRUGGER: I kann nit still sein, Herr Landrichter, wenn uns der Pfarrer von der Kanzel herunter beschimpft! Mir san koane Ketzer! Mir san koane Aufrührer! Und a koane sittenlosen Gesellen, die nur Weiberkittel und Branntwein im Schädel ham!
PFARRER(Zu Brugger:)