Kapitel 1

Ich war noch nie ein Fan von Offline-Partys. Seit ich einen Controller halten konnte, verbrachte ich meine Zeit lieber online und lernte dort Leute kennen. Gleichgesinnte Leute, von denen hier jede Spur fehlt.

Denn die steifen Partys meiner Eltern sind alles – aber kein Spaß. Selbst das Wort »langweilig« wird den Gesprächen über Hedgefonds und Gesellschaftsübernahmen um mich herum nicht gerecht.

Mittlerweile spiele ich bereits mit dem Gedanken, einen Ohnmachtsanfall oder so was vorzutäuschen, nur damit ich hier verschwinden kann.

Dennoch stelle ich das festgepappte falsche Lächeln zur Schau, wann immer einer der Anwesenden mir zunickt, während ich mich an meinem Glas Punsch festklammere.

Auch ohne dass ich mich umdrehe, spüre ich den stechenden Blick meiner Mutter im Nacken. Die Art, wie sie mich mustert und sich dann mit einem leichten Kopfschütteln bei den anderen Gästen entschuldigt, schürt die altbekannte Wut in mir, die jedes Mal hervorbricht, wenn ich mich länger in ihrer Gegenwart aufhalten muss.

Dabei gibt es rein gar nichts an mir, weswegen sie sich entschuldigen müsste! In ihren Augen werde ich nie gut genug sein und ich habe schon vor Jahren aufgegeben, es zu versuchen.

Anders als sie und ihre elitären Freunde aus angesehenen Anwaltskanzleien und Banken trage ich keine Designerfetzen, in denen ich mich kaum bewegen könnte. Mir ist nicht entgangen, wie Mom mit Argusaugen meine Klamotten nach einem bekannten Label wie Esprit oder Gucci gescannt hat, als ich vorhin angekommen bin und sie mich in eine halbherzige Umarmung gezogen hat.

Und dabei sehe ich nicht schäbig aus. Ja, okay, ich hätte vielleicht ein anderes T-Shirt wählen sollen – auf dem jetzigen steht groß »Save the Unicorns« und darunter ist ein Einhorn abgebildet. Bluejeans und Sneaker runden mein Outfit ab. Ich habe mich sogar dazu durchgerungen, einen schwarzen Blazer über mein Shirt zu ziehen, um auf dieser Gala, auf der Spenden für ein Land gesammelt werden, das ich nicht mal auf dem Globus finden würde, nicht ganz aus der Reihe zu tanzen.

Aber auch das weiß meine Mutter nicht zu würdigen. Mir sollte das nichts mehr ausmachen, schließlich lehne ich mich bereits mein ganzes Leben lang gegen ihre einengenden Vorschriften auf. Doch es verletzt mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich in ihren Augen nicht die Liebe sehe, die eine Mutter ihrem Kind entgegenbringen sollte.

Ich schüttele den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben, ziehe mich in eine Saalecke zurück und beobachte das Treiben um mich herum.

Ich werde mich nie an diese Partys gewöhnen, bei denen diese Snobs sich selbst und ihr vieles Geld feiern, das sie auf irgendwelchen Schweizer Bankkonten oder auf den Cayman Inseln horten. Doch als einziges Kind der berühmten Familie Porter bin ich dazu gezwungen, teilzunehmen oder mich wenigstens einmal kurz blicken zu lassen, so wie auch an diesem Abend. Allerdings ist »kurz« bei mir ein sehr eng gefasster Begriff, denn länger als maximal eine Stunde halte ich es hier sowieso nicht aus, ohne eine taktlose Bemerkung von mir zu geben.

»Vielleicht triffst du ja hier deinen Traummann«, hat Mutter mir oft vorgeschwärmt. Es würden sich ja nur ganz ausgewählte Leute in ihren Kreisen bewegen – die Crème de la Crème sozusagen.

Ja, klar, wenn ich einen Kerl mit einem Stock im Arsch möchte, finde ich hier sicherlich einen Kerl. Seine größten Sorgen wären doch, ob seine Krawatte zu fest sitzt oder ob er die einfarbigen oder gestreiften Strümpfe zu seinem maßgeschneiderten Armani-Anzug anziehen soll.

Allein bei dem Gedanken erschaudere ich. Mein bester Freund hier ist der Tisch mit den Vorspeisehäppchen – die sind echt klasse!

Ich weiß, dass sich meine Eltern langsam Sorgen um mich machen. Von meinem letzten richtigen Freund habe ich mich vor gut vier Jahren getrennt. Seitdem gab es nur eher flüchtige Bekanntschaften. Um es nett auszudrücken.

Und den Vibrator in meiner Nachttischschublade, den ich Ben getauft habe.

Um mich von dem langweiligen Treiben und den gekünstelten Lachern um mich herum abzulenken, gehe ich in Gedanken das verlorene Match von vorhin durch. Ohne mein bewusstes Zutun beginnen meine Finger zu zucken, als würde ich Befehle in meine Tastatur oder einen Controller hämmern, und ich verschwinde in meine eigene Welt. Sobald ich ans Zocken denke, entwickeln meine Finger und Gedanken ein Eigenleben, indem sie wichtige Tastenkombinationen wieder und wieder abspielen, bis ich in einem richtigen Match nicht mehr darüber nachdenken muss. Dann funktioniere ich einfach nur.

Und ich bin verdammt gut in dem, was ich tue.

Eigentlich müsste ich jetzt zu Hause sein und trainieren, um noch die letzten beiden Gamer zu schlagen, die auf der Weltrangliste vor mir stehen, und ich muss dafür sorgen, dass die, die nach mir kommen, niemals eine Chance gegen mich haben werden. Schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren.

Meine Finger fühlen sich jetzt schon unterfordert und führen die gewohnten Kombinationen am kühlen Glas aus, während ich im Kopf einige strategische Züge durchgehe, die ich mir für meinen nächsten Wettkampf ausgedacht habe.

Nemesis, so nennen sie mich in Gamer-Kreisen. Wie die griechische Rachegöttin, die auf ihrem Weg alles auslöscht. Dieser Name passt wie die Faust aufs Auge. Ich bin fürs Zocken geboren. Egal ob Egoshooter, Echtzeitstrategie oder Sport, ich fege alle Gegner aus dem Spiel und habe mir seit drei Jahren in Folge einen Platz auf dem Treppchen der weltweit besten Gamer gesichert. Ich mag meinen Alias, mein Pseudonym, denn es beschreibt mich ganz gut. Anders als so viele andere, deren Nicknames mich denken lassen, sie wären einfach mit dem Kopf quer über die Tastatur gerollt …

Ich bin nicht der Typ, der sich ruhig irgendwo verschanzt und darauf wartet, dass die Gegner mich nicht entdecken. Ich falle wie eine Seuche über sie her, bevor sie überhaupt ihre Basis gesichert haben.

Mittlerweile verdiene ich meinen Lebensunterhalt mit dem professionellen Spielen von Videospielen und – was soll ich sagen? – ich bin fast so reich wie meine Eltern, die die größte Anwaltskanzlei Londons leiten.

Meine Eltern sind von meiner Berufswahl natürlich nicht angetan, und das ist noch untertrieben. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich den Satz »Und wann willst du endlich anfangen zu arbeiten?« schon gehört habe. Sie verstehen einfach nicht, dass das, was ich mache, auch Arbeit ist. Ich trainiere mehrere Stunden am Tag und habe es als einzige Frau geschafft, unter die fünfzig besten Gamer der Welt zu kommen. Nur zwei männliche Spieler stehen noch zwischen mir und der Weltherrsch… ähm, dem Siegesruhm, und es juckt mir praktisch in den Fingern, auch sie endlich zu besiegen. Das wird zwar kein Zuckerschlecken, denn die beiden sind richtig gut, aber ich werde nicht aufgeben!

Gerade zu Beginn hatte ich das Gefühl, es als Frau besonders schwer zu haben. Ich wurde belächelt und mein E-Mail-Postfach quoll vor Anfragen, ob ich nicht Oben ohne zocken könnte, beinahe über. Es gab Zeiten, in denen ich am liebsten alles hingeschmissen hätte, weil ich dachte, dass ich nie ernst genommen, sondern nur auf mein Äußeres reduziert werden würde. Doch ich biss mich durch, besiegte einen Kontrahenten nach dem anderen und kämpfte mich Stück für Stück in der Weltrangliste nach oben. Auch an dieser Stelle musste ich viel Spott ertragen. Ich wäre nur so gut wegen meines Equipments – und das hätte ich nur bekommen, weil ich für die Hersteller die Beine breitmachen würde.

Jeden, der solchen oder ähnlichen Mist öffentlich über mich verbreitete, forderte ich heraus. Das Match wurde online übertragen und ich stellte sicher, dass ich denjenigen in Grund und Boden stampfte und seine Überreste anschließend mit dem Mob aufgewischt werden mussten.

Dieses Vorgehen brachte mir den Nemesis-Ruf ein. Es dauerte nicht lange, bis der Spott und die falschen Anschuldigungen verstummten. Ab da schlug mir nur noch Neid entgegen, aber damit kann ich leben. Neid ist schließlich die höchste Form der Anerkennung und man muss ihn sich hart verdienen.

Das tue ich jeden Tag. Mein Ziel ist es, nicht nur die beste weibliche Gamerin zu sein, sondern der beste Gamer – unabhängig meines Geschlechts. Ich muss besser werden und ich weiß genau, dass ich das schaffen kann.

Besonders dank meiner neuesten Errungenschaft.

Vorsichtig fahre ich mit der Fingerspitze über die kleine Erhebung im Nacken, die gut durch meine langen roten Haare überdeckt wird. Ich kann gar nicht erwarten, es endlich auszuprobieren! Unruhig trete ich von einem Bein aufs andere und starre alle zehn Sekunden zur Wanduhr. Nimmt das denn hier nicht bald mal ein Ende? Aber ich habe meiner Mom versprochen, dass ich wenigstens eine halbe Stunde bleibe … Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, liebe ich meine Eltern und kann vor allem meiner Mutter nichts abschlagen, wenn sie mich mit ihren großen rehbraunen Augen ansieht, deren Farbe ich von ihr geerbt habe.

Als ich nervös mit der Fußspitze auf den Boden tappe, tritt meine Mutter neben mich und mustert mich missbilligend. Die Art, wie sie die Nase krauszieht und dadurch ihre schmale Brille mit Goldrand noch weiter nach oben geschoben wird, verleiht ihr das Aussehen einer strengen Lehrerin, die kurz davor ist, den armen Schüler, dessen Hausaufgaben von seinem Hund gefressen wurden, vor der versammelten Klasse zur Schnecke zu machen. Ich muss keine Hellseherin zu sein, um zu wissen, was jetzt kommt. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Seufzen.

»Du hättest dich ruhig etwas chic machen können!«, wispert sie mir streng zu. »Immerhin haben so viele unserer Freunde ihre Söhne mitgebracht.«

Schnell beiße ich fest die Zähne aufeinander, um eine unpassende, aber schlagfertige Antwort daran zu hindern, aus meinem Mund zu schlüpfen. Als ob ich sie darum gebeten hätte, dass mir wildfremde Leute ihre Söhne mitbringen! Als ob es mich auch nur im Entferntesten interessieren würde! Das hier ist keine Brautschau, auch wenn meine Mutter das gerne hätte. Ich bin weder auf versnobte Kerle noch auf die Verkupplungsversuche meiner Eltern angewiesen. Ich bin freiwillig Single.

Allerdings ist es müßig, ihr das wieder und wieder zu sagen. Sie versteht es nicht oder will es nicht verstehen.

Mit spitzen Fingern hebt meine Mutter den Saum meines Shirts hoch und runzelt die Stirn. »Und was willst du uns damit sagen?«, fragt sie und deutet auf den Schriftzug.

Ich verdrehe die Augen. »Nichts, Mom. Nur, dass Einhörner eine bedrohte Spezies sind.«

Sie schaut mich an, als hätte ich aramäisch rückwärts gesprochen und dabei versucht, Satan zu beschwören. Nein, sie hat weder Sinn für Humor noch für Sarkasmus. Manchmal glaube ich, dass ich adoptiert wurde …

Ich ziehe mein Shirt aus ihren Fingern und stürze den Inhalt meines Glases hinunter. Das Ende der Fahnenstange ist nun offiziell für mich erreicht. Jetzt oder nie! Wenn ich nicht sofort von hier verschwinde, passiert ein Unglück. »Ich muss dann los. War nett heute!« Was natürlich gelogen ist, aber so gemein bin ich nicht. Über die Jahre habe ich gelernt, fruchtlosen Diskussionen von vornherein aus dem Weg zu gehen.

»Du willst schon gehen? Aber …«

»Sorry, hab noch zu tun.« Und ehe sie mich doch noch irgendwie aufhalten kann, husche ich schnell aus dem Raum, wobei ich mich an einigen aufdringlichen Leuten vorbeiquetschen muss.

Draußen atme ich die frische Nachtluft ein und laufe die Straße hinunter. Um diese Uhrzeit treffe ich so gut wie niemanden mehr, dennoch beschleunige ich meine Schritte. Ich kann es kaum noch erwarten! Pure Vorfreude rieselt durch meinen Körper und lässt mich beinahe rennen. Nur noch zwei Blocks, bis ich zu Hause bin, und dann kann ich es endlich testen.

Wieder fahren meine Finger über den Knubbel in meinem Nacken. Anfang des Jahres haben die drei besten Gamer der Welt ein unbeschreibliches Angebot erhalten. Meinen beiden ärgsten Konkurrenten und mir wurde es ermöglicht, die allerneueste Technik testen zu dürfen – den Early-Beta-Test sozusagen. Der Eingriff ging schnell und war weniger schmerzhaft, als ich dachte. Jetzt bin ich ein bisschen wie ein Cyborg, denke ich grinsend. Mithilfe eines Chips, der uns an der Wirbelsäule eingepflanzt wurde, wird es uns möglich sein, komplett in ein Spiel einzutauchen. Ich muss also nicht mehr am Monitor sitzen und mit Maus und Tastatur spielen oder eine von diesen verdammt unbequemen Brillen aufsetzen, sondern bin direkt im Spiel drin und kann von dort interagieren.

Der Chip wird direkt mit einer Vorrichtung an der jeweiligen Konsole verbunden; wenn ich die Haut ein Stück auseinanderziehe, erscheint ein kleiner Schlitz, in den ein Mikro-USB-Anschluss passt. Man selbst verfällt währenddessen in eine Art Schlaf; das Bewusstsein hingegen ist im Spiel. Wie gewohnt kann ich dort das Kommando übernehmen und direkt ins Geschehen eingreifen.

Und heute – endlich! – wurde das Spiel geliefert, mit dem ich diese neue Technik testen darf. Bisher durchliefen wir nur einen kurzen Workshop, in dem uns die Grundlagen erklärt wurden und wir uns auf das, was uns erwartet, zumindest theoretisch vorbereiten konnten. In einem richtigen Spiel konnten wir noch nicht agieren, denn es war noch kein kompatibles auf dem Markt.

Ich kann mich noch gut an die Kommentare der Gamer erinnern, die in der Rangliste nach mir kommen und deshalb nicht in den Genuss dieser Möglichkeit kamen. Jeder einzelne von ihnen hätte freudig grinsend ein Einhornfohlen mit seinen bloßen Händen erwürgt, um ebenfalls daran teilnehmen zu dürfen.

Ich renne nun und bin außer Atem, als ich meine Wohnungstür aufschließe und sie hinter mir zuschmeiße. Den Blazer und meine Schlüssel werfe ich im Laufen von mir, greife nach der bequemen Jerseyjacke mit Kapuze, die ich zu Hause immer trage, und haste ins Wohnzimmer, wo ich bereits alles präpariert habe.

In der Mitte liegt eine große Matratze mit vielen Kissen, daneben steht ein kleiner Schreibtisch mit meinem PC, an den bereits die Verbindung zum Chip angeschlossen ist.

Gleich geht’s los! Ich merke, dass ich wieder anfange zu zittern, weil ich es gar nicht mehr erwarten kann. Noch schnell das Spiel ins Laufwerk einlegen und auf Starten drücken.

Dann setze ich mich auf die Matratze und stecke das Kabel in den Chip. Im ersten Moment passiert gar nichts und ich bin schon fast enttäuscht. Nein, enttäuscht trifft es nicht ganz – ich bin einem verdammten Tobsuchtsanfall nahe! Ich habe mich so darauf gefreut, es endlich testen zu können, und jetzt funktioniert es nicht? Ungeduldig ruckele ich an dem Kabel, das im Nacken steckt, überprüfe, ob ich es richtig angeschlossen habe, und checke, ob das Spiel korrekt läuft. Alles so, wie es sein soll. Mist, was mach ich denn jetzt? Um die Uhrzeit werde ich niemanden mehr von der Games-Community erreichen, der mir helfen kann …

Doch dann beginnt die Welt um mich herum langsam schwarz zu werden. Es beginnt an den Rändern meines Blickfeldes und ich spüre, wie meine Glieder schwer werden und mir nicht mehr richtig gehorchen.

Mit einem breiten Grinsen falle ich zurück auf die Matratze und tauche in eine neue Welt ein.

***

Als ich wieder zu mir komme, ist alles um mich herum schneeweiß. Das erste Wort, das mir dabei in den Sinn kommt, ist steril. Es ist so gleißend hell, dass ich keinen Unterschied zwischen Wänden und Boden ausmachen kann, und es kommt mir vor, als würde ich in einem weißen Nichts stehen. Zusätzlich brennt mir die Helligkeit in den Augen.

Ich runzele die Stirn. Wo ist das Spiel? Ich habe mir doch extra ein Fantasyspiel ausgesucht, um meinem langweiligen Alltag wenigstens ein bisschen entfliehen zu können, und nun stecke ich in einer Schneelandschaft ohne Schnee fest. Wo sind die Feen und Elfen? Zwerge? Gnome? Irgend-fucking-was?!

»Willkommen, Spieler«, tönt eine monotone Stimme, die mich sofort an die Stimme aus den Navigationsgeräten erinnert.

Ich drehe mich mehrmals um die eigene Achse, doch ich kann niemanden sehen.

»Äh, hallo«, sage ich dann, als die Stimme nichts mehr sagt und ich mir langsam verloren vorkomme. Irgendwas muss doch hier mal passieren! Das kann doch nicht alles sein.

»Willkommen in der Welt von …« Hier flimmert meine Umgebung kurz auf und die Stimme verkommt zu einem Rauschen. Das Herz rutscht mir vor Angst fast in die Hose, doch dann höre ich die Stimme wieder. »Wähle deine Waffe.«

Vor mir ploppt ein Fenster auf und ich weiche erschrocken zwei Schritte zurück. Normalerweise bin ich nicht so schreckhaft, aber normalerweise erscheinen auch nicht einfach Displays direkt vor mir. Als ich näher trete sehe ich auf einer Art halb durchsichtigem Bildschirm verschiedene Waffenarten: Schwerter, Äxte, Bögen, Lanzen, Stäbe, Dolche und einige, die so abgefahren aussehen, dass selbst ich sie nicht zuordnen kann, obwohl ich dachte, schon alles gesehen zu haben.

Sofort bin ich in meinem Element und mustere die Waffenabbildungen vor mir. »Kann ich nur eine Waffe tragen?«, frage ich ins Nichts.

»Das ist korrekt«, bekomme ich zur Antwort.

Mit einem Bogen kann ich gut Feinde auf Distanz ausschalten, bin jedoch wehrlos, wenn ich in den Nahkampf muss, und ich habe leider keine Ahnung, mit welcher Art von Gegner ich es genau in diesem Spiel zu tun bekommen werde. Dann erinnere ich mich an die Fantasyspiele, die ich bisher ganz altmodisch auf den Konsolen gezockt habe. Dabei haben die Helden – allesamt männlich und gut aussehend, Namen wie Cloud, Squall, Tidus und Link kommen mir da in den Sinn – nahezu immer mit Schwertern gekämpft und den Endboss trotzdem besiegt. Also tippe ich auf den Bildschirm und wähle das Einhandschwert.

Mit einem Mal wird alles um mich herum schwarz und ein lautes Piepen ertönt, das mir in den Ohren klingelt.

»Hey, was …?«, rufe ich, während Panik in mir aufsteigt, und mein Herz legt noch ein paar Schläge pro Minute zu.

Wie war das noch gleich mit den Sicherheitsmaßnahmen im Chip? Irgendwo muss es doch diesen Notfall-Button zum Ausloggen geben … Ich taste hektisch an dem Knubbel im Nacken herum, doch außer einem dumpfen Schmerz, wenn ich ihn zu weit hineindrücke, passiert rein gar nichts.

Ein helles Licht erscheint vor mir, wächst heran, und ich muss meine Augen mit der Hand abschirmen. Als ich wieder halbwegs klar sehen kann, schwebt dort, wo eben noch das Display mit der Waffenauswahl war, eine junge Frau.

Ihre Augen sind auf mich gerichtet, den Kopf mit dem spitzen Gesicht hat sie leicht geneigt.

Diese Augen! Im ersten Moment denke ich, dass das helle Licht meine Sicht beeinträchtigt hat, doch nein, sie wechseln tatsächlich die Farbe! Sie wandeln sich von einem hellen Grün zu einem satten Braun. Ohne Pupille, was das Ganze echt gruselig macht … Schnell wende ich den Blick von ihren Augen ab, bevor sie meine Angst sehen kann.

Das ist ein Spiel, Eve! Sicherlich ist das nur ein Feature, immerhin ist es ein Fantasyspiel.

»Du wirst es diesmal also sein?«, fragt die Frau. Sie schwebt ein Stück auf mich zu, wobei ihr langes weißes Gewand um ihre Füße weht, die nicht den Boden berühren.

Als sie bei mir angekommen ist, streckt sie die Hand nach mir aus und ich weiche hastig zurück. Beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren und wäre auf meinem Hintern gelandet.

»Hab keine Angst vor mir.« Sie bleibt in sicherem Abstand stehen und ich mustere sie verstohlen. Ihr Gewand ist reich verziert, mit goldenen Bändern und einer roten Schärpe. Als mein Blick weiter nach oben wandert, fallen mir ihre Ohren auf und ich schnappe nach Luft. Sie befinden sich nicht seitlich an ihrem Kopf, wie es eigentlich normal wäre, sondern viel weiter oben. Spitz und groß.

Fuchs, schießt es mir sofort durch den Kopf. Eine Fuchsfrau. Und just in diesem Moment dreht sie sich ein Stück zur Seite und ich erhasche einen Blick auf ihren Rücken – aus dem drei weiße und buschige Fuchsschwänze ragen.

»Ach du heilige Sch…«

»Ich würde dir raten, in meiner Gegenwart nicht zu fluchen«, unterbricht sie mich und sieht mich tadelnd an. »Willkommen in Mareia, meiner Welt. Ich bin Gaia, die Göttin der Erde, und ich habe dich als meine Hüterin auserwählt. Es ist deine Aufgabe, die nahende Bedrohung aufzuhalten und die vier Wächter zu erwecken.«

Ich verschränke die Arme und verziehe spöttisch den Mund. »Ich soll also die Welt retten? Echt jetzt? Ist das nicht etwas abgedroschen?«

Die Göttin vor mir kneift ihre leuchtenden Augen zu Schlitzen zusammen. »Würdest du mich bitte nicht unterbrechen, wenn ich dir deine heilige Mission erkläre?«

Ein Glucksen entweicht meiner Kehle, ehe ich es aufhalten kann. »Heilige Mission? Jetzt trägst du aber schon etwas dick auf, findest du nicht?«

Heilige Mission … Was für ein Blödsinn! Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt ein Spiel mit einer so lahmen Story gespielt habe …

»Mach dich nicht darüber lustig!«, zischt sie und ich bin für einen Moment wirklich beeindruckt. Es ist, als würde wahre Kraft in ihrer Stimme liegen, die die Luft um uns vibrieren lässt.

Mit der Hand vollführe ich eine Geste, als würde ich meinen Mund abschließen, und werfe den unsichtbaren Schlüssel über meine Schulter davon. Das habe ich schon seit dem Kindergarten nicht mehr gemacht und beinahe muss ich wieder grinsen.

»Es ist deine Mission, die vier Wächter zu finden, mit deren Hilfe du mich in Mareia wiedererwecken kannst, um die drohende Zerstörung aufzuhalten«, erklärt sie, nachdem sie sich wieder gefangen hat.

Ich melde mich, als wäre ich in der Schule. Mit einem Nicken erlaubt sie mir zu sprechen, aber ich sehe, wie sie mit den Zähnen knirscht. »Das verstehe ich nicht. Du bist eine Göttin! Warum sorgst du in deiner Welt nicht selbst für Ordnung?«

Zugegeben, es ist fies, was ich hier mache. Aber ich hätte echt nicht erwartet, dass man uns Chip-Testern ein Spiel mit einer so abgedroschenen Story vorsetzt. Da hätte ich schon etwas Exklusiveres erwartet.

»Meine Kräfte wurden vor über tausend Jahren vom Luftvolk versiegelt. Nur mithilfe des Hüters kann ich aus meinem langen Schlaf erwachen.« Sie bewegt ihre Hand und darüber erscheint schwebend ein Amulett. Es ist golden und in der Mitte befindet sich ein roter Stein, der aussieht, als würde er pulsieren. »Dieses Amulett wird dir die Kraft verleihen, die du benötigst, um die Wächter zu finden und mich zu erwecken. Pass gut darauf auf! Ohne seine Hilfe wird es für dich unmöglich sein, deine Aufgabe zu erfüllen.«

Die Göttin murmelt eine Beschwörung, wahrscheinlich in einer anderen Sprache, denn ich kann die Worte nicht verstehen, und der rote Stein in der Mitte des Amuletts pulsiert, ehe es auf mich zufliegt. Ich greife danach und lege es mir um den Hals. Durch die lange goldene Kette hängt es mir bis knapp über dem Bauchnabel.

»Hast du noch Fragen, ehe du deine Mission antrittst?«

Wie durch Zauberhand erscheint das Schwert, das ich vorhin ausgewählt habe, an meiner Hüfte, zusammen mit Schwertscheide und passendem Gürtel. Zu perplex, um zu antworten, schüttele ich nur den Kopf.

»Ich schicke dich nun in meine Welt Mareia. Du wirst dich in der Nähe einer Stadt wiederfinden.«

Ich nicke und versuche, mir all das zu merken, was sie mir eben gesagt hat. Sicherlich wird mir das den Spielanfang erleichtern, wenn ich …

»Ich wünsche dir viel Glück, Evelyn.«

Und plötzlich erstarre ich. »W–Was? Woher …«

Doch da löst sich die Göttin bereits auf und alles um mich herum wird dunkel. Mein Magen sackt herab, als würde ich aus einer großen Höhe springen, und für einen Moment habe ich Angst, ehe ich mir wieder ins Gedächtnis rufe, dass ich in einem Spiel bin. Ich klammere mich an diesen Gedanken, bis ich wieder halbwegs normal atmen kann.

Nur ein Spiel. Nur ein Spiel. Es ist nur ein verdammtes Spiel.

Aber woher kannte sie meinen Namen? Ich habe ihn nirgends angegeben und selbst wenn, würde ich niemals mit meinem echten Namen spielen! Immer nenne ich mich Nemesis. Woher weiß also die Göttin, das Spiel, das Programm – was auch immer! – meinen echten Namen?

***

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, lande ich mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Unter den Händen spüre ich Erde und in meiner Nase kitzelt der Geruch von Gras und Blumen. Als ich die Augen öffne, sehe ich, dass ich mich auf einem Weg befinde. Ich schaue mich um, komme dann auf die Füße und klopfe mir den Staub von den Knien.

So anders sieht es gar nicht aus. Ich könnte genauso gut auf der Erde in irgendeinem Wald stehen. Also, von Fantasy sehe ich hier gerade nicht viel, lässt man mal die Göttin mit den drei Fuchsschwänzen, den echt abgefahrenen Augen und den spitzen Ohren außen vor.

Schlagartig ändert sich meine Meinung, als ich nach oben schaue. Dort erblicke ich nicht wie erwartet nur eine Sonne, sondern daneben noch zwei Planeten. Erinnert mich irgendwie an den Himmel bei Avatar.

Ich strecke mich, bis ein paar Wirbel in meinem Rücken knacken.

Okay, genug gezockt für einen Tag! Ich werde mich jetzt ausloggen, noch etwas essen und dann ins Bett gehen. Als ich mich vorhin eingeloggt habe, war es schon kurz vor Mitternacht. Das ist zwar noch keine Bettgeh-Uhrzeit für mich, aber diese stinklangweilige Party bei meiner Mom hat mich doch mehr geschlaucht, als ich dachte.

Ich bewege die Hand, wie man es uns während des Training-Testlaufs zum Chip gezeigt hat, um das Spielmenü aufzurufen und mich auszuloggen.

Mehrere Sekunden vergehen. Nichts geschieht.

Erneut bewege ich die Hand. Und wieder ploppt kein Menü auf.

Okaaay … Vielleicht hab ich die falsche Hand benutzt? Musste ich die rechte nehmen? Oder war es doch die linke? Ich teste es mit der anderen, wedele dann panisch mit beiden Händen herum. Shit! Warum geht das denn nicht?

In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Irgendwie kann ich mich an keine genauen Angaben aus dem Training erinnern. Das war doch so … oder? Ich schlucke krampfhaft.

»Ähm, Menü?«, rufe ich mit schwacher Stimme, nachdem nichts funktioniert hat. »System? Log-out? Hallo? Hilfe?«

Ich drehe mich um die eigene Achse. Vielleicht hab ich das Menüfenster nur irgendwie übersehen? Doch da ist nichts! Nirgends! Es ist verdammt noch mal nichts da!

Meine Knie geben unter mir nach und ich sacke zurück auf den Boden. Das Schwert an meiner Hüfte schleift knirschend über die Erde und verursacht ein Geräusch, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellen.

Ich sitze fest, schießt es mir durch den Kopf. Ich sitze in diesem verdammten Spiel fest!

Wieder drücke ich auf dem Knubbel in meinem Nacken herum, unter dem der Chip sitzt. »Funktioniere, du blödes Ding!«, schimpfe ich.

Als meine Hände anfangen zu zittern, balle ich sie zu Fäusten und hämmere auf den steinigen Weg vor mir. Mein Herzschlag dröhnt mir bis in die Ohren und ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Mir sollte schleunigst etwas einfallen …

Kapitel 2

Wenn das ein Witz sein soll, dann ist er verdammt noch mal nicht lustig!

Irgendwie muss ich doch aus diesem dämlichen Spiel kommen! Ich reibe mir über die Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hat. Erst jetzt sehe ich, dass ich noch meine Klamotten trage, was mich stutzig macht. Sollte ich nicht eine Klasse oder so was wählen können und dann deren typische Kleidung bekommen? Stattdessen sitze ich jetzt mit meinem »Save the Unicorns«-Shirt, Jerseyjacke, Jeans und Sneakern in einem Fantasyspiel. Das kann doch so nicht richtig sein! Oder ist das eines von diesen neuartigen Spielen, in dem sich verschiedene Epochen vermischen? Darauf wetten würde ich jedenfalls nicht … Eher tippe ich auf einen Bug!

»Hallo, Game Master? Ich möchte ein Problem melden!«, rufe ich erneut, aber wieder bleibt alles um mich herum stumm. Allein eine Grille fängt im Gras neben mir an zu zirpen, was meine ohnehin strapazierten Nerven nur noch mehr reizt. »Hört mich jemand?«

Diese blöden, unausgereiften Spiele! Ständig muss ich mich mit Bugs und Fehlern herumschlagen! Es würde mich nicht wundern, wenn gleich ein Fenster mit der obligatorischen »Dieser Fehler ist uns bekannt. Wir arbeiten bereits mit Hochdruck an einer Lösung des Problems«-Meldung aufploppt. Toll, danke, aber davon kann ich mir jetzt auch nichts kaufen …

Nachdem ich noch ein paar Mal erfolglos an dem Knubbel im Nacken herumgedrückt habe – irgendwie muss ich diese verdammte Verbindung doch unterbrechen können! –, lasse ich mich frustriert nach hinten fallen und starre in den Himmel. Seine Schönheit kann ich gerade nicht würdigen, denn so langsam macht sich nackte Panik in mir breit.

Ich greife nach dem Amulett und reibe mit dem Daumen über den Edelstein in der Mitte. »Hallo? Hört mich jemand?«

Ja, so weit ist es schon gekommen. Ich rede mit einem dämlichen Edelstein …

Plötzlich pulsiert das Amulett in meiner Hand und ein Lichtstrahl leuchtet auf, als ob er mir eine Richtung vorgeben würde.

Ich stemme mich hoch und starre auf das Amulett, reibe wieder mit dem Daumen über den Edelstein. »Gaia?«

Wieder pulsiert es in meinen Handflächen und der Lichtstrahl beginnt zu flackern, als wolle er gleich ausgehen. Ich schüttele das Amulett, wie ich es mit einer Taschenlampe machen würde, deren Batterien gerade aufgeben.

»Ich will mich ausloggen. Ich muss dringend ins Bett. Kannst du mir sagen, was ich dazu machen muss?« Langsam komme ich mir blöd vor, wie ich hier mit einem Schmuckstück rede, aber ich klammere mich an die Hoffnung, dass diese Göttin, mit der ich eben gesprochen habe, mir irgendwie helfen kann. Vielleicht ist die Göttin Gaia ja selbst ein Game Master und kann mir das Ausloggen aus diesem Spiel ganz einfach per Hard Reset oder so ermöglichen.

Doch nichts rührt sich und niemand antwortet mir.

Der Lichtstrahl wird blasser, ebenso wie das Pulsieren.

»Gaia? Kannst du mich hören?« Wieder reibe ich wie vorhin mit dem Daumen über den roten Edelstein in der Mitte, doch diesmal geschieht nichts.

Seufzend lasse ich mich zurücksinken. Vielleicht sollte ich dem Lichtstrahl folgen, der nach vorne auf den Weg gedeutet hat. Ich glaube, ich kann sogar ein paar hohe Dächer hinter den Baumwipfeln entdecken. Ich erinnere mich daran, dass die Göttin meinte, ich würde mich in der Nähe einer Stadt wiederfinden. Es ist allemal besser, als sinnlos hier herumzusitzen. Vielleicht kann mir dort jemand helfen. In den meisten Spielen gibt es in den großen Orten Hilfe-Center und wenn ich ganz viel Glück habe, finde ich dort sogar einen Game Master, der noch Dienst hat und sich meiner annimmt.

Also rapple ich mich auf, klopfe mir den Staub von den Klamotten und reibe mir über die Arme, um das Frösteln zu unterdrücken, das mich trotz kuscheliger Jerseyjacke erfasst. Hier wird es ganz schön kalt … Und die Stadt ist ziemlich weit weg.

Ich atme tief ein, schlage die Kapuze als zusätzlichen Schutz vor der Kälte hoch, straffe die Schultern und will gerade den ersten Schritt machen, als ich ein Rumpeln hinter mir höre. Schnell drehe ich mich um und sehe, wie ein Karren auf mich zukommt. Menschen! Andere Spieler! Selbst wenn es nur ein NPC, ein Programm, ist, kann ich ihn vielleicht nach dem Weg fragen. Und wenn ich ganz viel Glück habe, hat er vom Spiel ein paar Hilfeprogrammierungen bekommen, um Spielern, die feststecken so wie ich, behilflich zu sein.

Winkend gehe ich auf den Karren zu, der von zwei seltsamen Wesen gezogen wird. Sie sehen aus wie eine Mischung aus Nilpferd und Ochse – irgendwie niedlich und knubbelig –, doch ich lenke meine Aufmerksamkeit schnell auf die Person, die auf dem Kutschbock sitzt.

»Hallo«, grüße ich freundlich und stelle mich an die Seite, als der Karren neben mir zum Stehen kommt.

Ich mustere die Person, doch wegen des braunen Umhangs, den sie trägt, kann ich nicht viel erkennen. Eine Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen, sodass ich nur eine ausgeprägte Kinnpartie sehen kann. Das und die breiten Schultern, die sich unter dem Stoff abzeichnen, lassen mich darauf schließen, dass es ein Mann sein muss.

»Weißt du zufällig, wie ich mich ausloggen kann?«, sprudelt es aus mir heraus, ehe ich darüber nachgedacht habe. »Ähm, ich meine, bist du auch ein Spieler?«

Stille. Versteht er mich vielleicht nicht?

Gerade als ich tief Luft geholt habe, um zu einer erneuten Erklärung anzusetzen, fragt er: »Wer bist du?«

Ich stutze. Seine Stimme ist tief, dennoch melodisch. Ich mag den Klang, vor allem dieses raue, leicht kratzige Timbre, das in ihr mitschwingt.

Seine Frage jedoch stellt mich vor ein neues Problem. Was soll ich ihm antworten? Die Göttin hat mich mit meinem richtigen Namen angesprochen und während des Spielbeginns konnte ich nirgends ein Alias eingeben. Soll ich nun dabei bleiben oder meinen Gamernamen nutzen?

»Ich bin Evelyn«, sage ich schließlich so freundlich wie möglich, »und neu hier, sozusagen. Ich bin mit den Funktionen noch nicht so vertraut.«

»Funk…tionen?«, fragt mein Gegenüber und reckt ein wenig das Kinn vor.

Mist, anscheinend ist er doch kein Spieler und nur ein NPC, der mir nicht helfen kann. Meine Hoffnung sinkt.

Ein frischer Wind kommt auf und lässt mich erneut frösteln. »Fährst du in die Stadt? Könntest du mich mitnehmen?«

Ich spüre, dass er mich mustert, und ein Schauer läuft mir über den Rücken, was nichts mit der Temperatur um mich herum zu tun hat, doch ich zwinge mich dazu, still stehen zu bleiben und meinen Blick nicht von ihm abzuwenden. Warum sollte ich auch? Der Kerl ist nicht echt, sondern nur ein verdammtes Programm.

»Spring auf!«, sagt er und dankbar klettere ich etwas unbeholfen auf den Karren, der sich sogleich rumpelnd wieder in Bewegung setzt.

Plötzlich spüre ich wieder das Vibrieren des Amuletts, doch ich versuche es zu ignorieren.

Ich lasse meinen Blick über die Landschaft schweifen, die langsam an mir vorbeizieht. Im Grunde ähnelt diese Welt sehr der Erde. Ich erkenne einige Baumarten, die genauso aussehen wie zu Hause. Ein Reh steckt neugierig den Kopf durch das Gebüsch, als es den Karren hört, verschwindet aber sofort wieder. Vögel sitzen pfeifend in den Bäumen und fliegen über uns hinweg.

Wenn ich den Himmel mit seinen Gestirnen und die seltsamen Zugtiere einmal nicht beachte, fühlt es sich ganz normal an.

Ich spüre, wie der Mann mich aus den Augenwinkeln von Kopf bis Fuß mustert, doch ich drehe demonstrativ den Kopf in eine andere Richtung und gebe vor, weiterhin die Landschaft zu bewundern.

Warum läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn er mich anschaut?

Als ich es nicht mehr aushalte, drehe ich mich zu ihm um und setze einen herausfordernden Gesichtsausdruck auf. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Er deutet auf mein Shirt. Mir entgeht nicht, wie groß und gleichzeitig auch feingliedrig seine Hände sind. »Was bedeutet das, was da draufsteht?«

Ich schaue an mir hinunter auf das Einhorn und die Aufschrift, die über dem halb offenen Reißverschluss der Jacke durchblitzen. »Da steht Rettet die Einhörner. Eigentlich ist das witzig.«

Doch sein Mund, den ich gerade so unter der Kapuze ausmachen kann, verzieht sich keinen Millimeter. Hat der Typ keinen Humor?

Wahrscheinlich nicht, denn NPCs verrichten nur grundlegende Aufgaben, wie dem Spieler Aufgaben zu vermitteln, Gegenstände zu verkaufen oder seine Rüstung zu reparieren. Normalerweise verlassen sie nie den für sie vorgesehenen Ort. Dass ein NPC hier mit einem Karren unterwegs ist, zeugt schon von einer hohen programmiertechnischen Leistung.

Vielleicht ist das Spiel doch nicht so langweilig, wie ich nach der Ansprache der Fuchsgöttin Gaia dachte? Wenn man mal von dem offensichtlichen Fehlen der Menüfunktion absieht … Das sollte schnellstens gefixed werden!

Ein Windstoß fegt über uns hinweg und ich kneife die Augen zu, um keinen Sand, der vom Weg hochgeweht wird, hineinzubekommen. Die Kapuze rutscht mir vom Kopf.

Der Karren stoppt und als ich die Augen wieder öffne, sehe ich, dass der Typ mich mit offenem Mund anstarrt.

»Was?«, frage ich verwirrt und fahre mir mit den Händen durch meine rote Mähne, um sie zu glätten. Sicherlich sehe ich schrecklich zerzaust aus! Aber das sollte ihm als NPC egal sein.

»D–Deine Haare …«, stammelt er und weicht ein Stück von mir zurück.

Ich beobachte sein Getue mit düsterer Miene. »Was ist mit meinen Haaren?«

»Rot wie Feuer …«, flüstert er.

»Ähm, ja. Und? Ich habe schon immer rote Haare.« Er tut gerade so, als wäre das etwas Außergewöhnliches! Klar, es ist keine so weit verbreitete Haarfarbe wie braun oder blond, aber ganz so dramatisch ist es nun auch nicht. »Können wir jetzt weiterfahren?« Auffordernd wedele ich mit der Hand in Richtung der Zugtiere, die sich bereits das Gras am Wegrand schmecken lassen.

Er zögert kurz, rutscht an den äußersten Rand des Kutschbocks – so weit weg von mir wie möglich – und schnalzt mit der Zunge, woraufhin sich die Nilpferdochsen wieder in Bewegung setzen.

Ich verschränke die Arme und schüttele den Kopf. So ein seltsames Verhalten, also wirklich!

***

Als die Stadt langsam vor uns auftaucht, bin ich erleichtert. Seit dem Vorfall herrschte ein angespanntes Schweigen zwischen uns, das mich fast wahnsinnig gemacht hat. Und immer wieder sage ich mir, dass das absoluter Quatsch ist. Mein Gegenüber ist ein Programm und kein richtiger Mensch, dessen Gefühle ich irgendwie verletzt hätte. Trotzdem fühle ich mich mies, will aber auch nicht den ersten Schritt machen und etwas sagen. Anscheinend hat er keinen Bedarf an Konversation. Auch gut! Ich will sowieso nur hier weg und keine Freundschaften mit irgendwelchen Programmen schließen.

Der Karren passiert die steinernen Stadtmauern und sofort herrscht ein reges Treiben um uns herum. Menschen laufen umher, quetschen sich durch die engen Gassen, die von windschiefen Hütten gesäumt sind. Eine Vielzahl von Gerüchen strömt auf mich ein und ich bin wirklich begeistert, dass das Spiel sogar Gerüche an mein Hirn senden kann.

Es ist fast so, als wäre ich wirklich hier und nicht nur mein Geist.

Händler preisen lautstark ihre Waren an, Kinder rennen durch den Matsch am Straßenrand und mein Begleiter hat Mühe, seinen Karren durch all diese Massen zu manövrieren.

Ich schaue mich interessiert um, sauge alles in mir auf, tauche komplett ins Spiel ein.

Als mich die Leute sehen, stupsen sie Umstehende an und deuten auf mich. Sie starren mich an wie eine Zirkusattraktion.

Bestimmt wegen meiner Klamotten.

Alle tragen hier eher Kleider und Hosen wie im Mittelalter, aber definitiv keine Bluejeans und Shirts mit lustigen Aufdrucken. Was bei mir wieder die Frage aufwirft, warum ich eigentlich keine Kleidung beim Spielbeginn bekommen habe. Sicherlich eine der vielen Fehlfunktionen, die bald behoben werden. Ein seltsamer Nachgeschmack bleibt dennoch.

Unter den Blicken der Umstehenden unterdrücke ich den Drang, mich kleinzumachen und ihrem Starren auszuweichen. Das sind Programme, sage ich mir immer wieder. Das sind keine echten Menschen, die dich anstarren. Durchatmen! Schultern gerade! Kinn hoch! Es gibt nichts, weswegen du dich verstecken müsstest!

Unser Karren biegt in eine Gasse ein und nach und nach verstummt das laute Gemurmel der Menge. Die Häuser stehen hier noch dichter aneinander und es ist düster, fast unheimlich. Ein widerlicher Mief nach Schimmel, Abfall und … – den Rest will ich mir eigentlich gar nicht vorstellen! – lässt mich fast würgen. Doch ich komme nicht umhin, wieder einmal zu denken, wie gut dieses Spiel auf die verschiedenen Sinne eingeht. Echt wahnsinnig gut, auch wenn es gerade wirklich eklig ist.

Mir wird mulmig zumute, während ich verstohlen nach links und rechts spähe und hinter jedem Schatten einen Angriff vermute.

»Wohin fahren wir?«, frage ich und versuche krampfhaft, mir die aufkommende Panik nicht anmerken zu lassen. Wie von selbst wandert meine Hand zu dem Schwertgriff an meiner Hüfte. Habe ich überhaupt einen Skill, mit dem ich das Schwert benutzen kann? Das haben sie im Chiptraining irgendwie übersprungen … Wie so vieles!

»Zu einem Bekannten von mir«, sagt mein Begleiter und starrt stur geradeaus. »Du bist nicht von hier, oder?«

»Ist das so offensichtlich?«

Er zuckt mit den Schultern, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Meine Beine zittern vor Verlangen, von diesem Karren zu springen und wegzurennen. Doch ehe ich diese Idee in die Tat umsetzen kann, schüttele ich schnell den Kopf. Unsinn! Gut möglich, dass mir dieser Bekannte helfen kann, schließlich muss ich mich echt so langsam mal ausloggen. Ich habe vollkommen den Überblick verloren, wie lange ich schon hier bin und wie viel Zeit in der realen Welt mittlerweile vergangen ist. Vielleicht ist es schon fast Morgen! Das wäre natürlich fatal … Unausgeruht werde ich den anstehenden Wettkampf gegen die Nummer zwei sicherlich nicht gewinnen …

Eine unterschwellige Angst kann ich jedoch nicht abschütteln und das bleierne Schweigen zwischen meinem Begleiter und mir sowie die knappen Antworten, die er mir nur gibt, tragen nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.

»Du, ich muss echt langsam los«, murmele ich. »Kann dein Bekannter mir dabei helfen, mich auszuloggen?«

»Bestimmt«, sagt er, aber dieses eine Wort macht mich nur noch nervöser. Der feine Unterton in seiner Stimme jagt mir auf einmal einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Doch ich bleibe sitzen. Es ist ein Spiel. Es ist nur ein Spiel. Nichts kann mir passieren.

Vor einer halb verfallenen Hütte stoppt der Karren und der Typ springt vom Kutschbock, sodass sein Umhang hinter ihm herflattert.

»Hey«, rufe ich ihm nach. »W–Was machen wir hier?«

Er bleibt stehen und dreht sich zu mir um, ehe er sich die Kapuze vom Kopf streift.

Trotz des spärlichen Lichts in der Gasse stockt mir der Atem bei seinem Anblick. Wie eine Vollidiotin sitze ich mit offenem Mund da und starre ihn an, blinzele mehrmals, um sicherzugehen, dass das keine Einbildung ist.

Vor mir steht das, was ich für mich als absoluten Traummann bezeichnen würde. Kohlschwarzes Haar fällt ihm in die Stirn und einige vorwitzige Strähnen sogar fast bis in die Augen, mit denen er mich stumm mustert. Sein Gesicht ist kantig geschnitten, jedoch nicht übertrieben maskulin.

Perfekt. Wie einer dieser Disney-Prinzen, schießt es mir sofort durch den Kopf.

Ohne dass ich ihnen den direkten Befehl erteilt habe, tragen mich meine Beine vom Karren hinunter und direkt zu ihm. Nur mit Zwang kann ich meinen Mund davon überzeugen, sich zu schließen und nicht auch noch anzufangen mit sabbern. Das wäre dann doch etwas zu viel des Guten.

Er streckt mir seine Hand entgegen und eine weitere Einladung brauche ich nicht. Sofort lege ich meine hinein.

Als sich seine Finger um meine schließen, durchfährt mich eine Hitze, die mich zusammenzucken lässt. Er scheint es auch gespürt zu haben, denn er zieht seine Hand sofort zurück und starrt mich mit großen Augen an. Erst jetzt sehe ich, dass seine Iriden von einem hellen silbrigen Grau sind. Wow, so was habe ich noch nie gesehen! Absolut fasziniert verliere ich mich eine Weile in diesem wirren Strudel aus Silber und Gewittergrau. Doch dann kommt mir wieder das merkwürdige Gefühl in den Sinn, als ich ihn eben angefasst habe.

»Was war das?«, frage ich, als ich die losgelassene Hand mit meiner anderen umschließe, damit sie sich nicht so kalt anfühlt.

»Ich …«

Ihn herumdrucksen zu sehen, macht mich wieder nervös. Auf einmal sieht er nicht glücklich darüber aus, mich hier hergebracht zu haben, doch bevor er seinen gestammelten Satz beenden kann, wird die Tür zur Hütte aufgerissen und ein fetter Typ mit schmieriger Schürze füllt den Türrahmen fast komplett aus. Als sein Blick über mich huscht, breitet sich eine eisige Gänsehaut auf meinem ganzen Körper aus und vertreibt die wohlige Hitze von eben.