Rory Shy ist ein ungewöhnlicher Detektiv: Es ist ihm unangenehm, Zeugen zu befragen, er ist zu schüchtern, um mit Informanten zu sprechen, und viel zu höflich, um Verdächtige mit Fragen nach einem Alibi zu belästigen. Dafür besitzt er eine geheime eigene Methode, mit der er bislang auch die kniffligsten Rätsel lösen konnte. Bis jetzt: In der Villa einer Millionenerbin ist eine Perle spurlos verschwunden. Und von der Sekretärin bis zum Butler scheint jeder ein Geheimnis zu hüten. An Befragungen führt kein Weg vorbei! Mithilfe der zwölfjährigen Matilda stellt sich Rory dem schwersten Fall seiner Karriere … Ein herrlich schüchterner Krimi
So oder So
Dinkel-Bier
Pinguine reden nicht
Ein Engel hinter Gittern
Weißkittel-Furcht
Lampenfieber
Üble Nachrede
Die Rote Libelle
Von Fersen und Ballen
Ixpressionismus und Empressionismus
Geheimnisse und Beifang
0041
Schüchterne Eifersucht
Belüge deine Augen
Der Valko-Fehler
Der tanzende Detektiv
Ein scheuer Plan und eine fromme Panne
Die Faust aus dem Dunkel
Kreyski und Pomerovski
Tja …
»Herrgott, Matilda! Schaff den Hund hier raus!«, knurrt Frau Zeigler, während sie auf der Suche nach Papas Sonnenbrille durch die Diele irrlichtert. »Ständig rennt einem dieses Zottelvieh vor die Füße. Irgendwann werde ich mir seinetwegen das Genick brechen.«
Frau Zeigler ist unsere Haushaltshilfe und mit Zottelvieh ist Doktor Herkenrath, unser Cockerspaniel, gemeint. So wie Frau Zeigler von ihm spricht, könnte man glauben, dass sie ihn nicht mag. In Wahrheit kann sie Doktor Herkenrath nichts abschlagen, sobald er seinen treuen schielenden Hundeblick auflegt. Wenn sie denkt, ich kriege es nicht mit, füttert sie ihn in der Küche mit Fleischwurst und streicht ihm dabei zärtlich über den Kopf. Frau Zeigler gehört zu den Menschen, die ihr goldenes Herz unter einer rauen Schale verbergen. Raimund, ihren Mann, bezeichnet sie gerne mal als Triefnase oder Trantüte. Was nicht besonders nett klingt. Dabei liebt sie den trantütigen Raimund im Grunde ihres Herzens heiß und innig. Wahrscheinlich füttert sie ihn auch heimlich mit Fleischwurst, wenn niemand hinsieht.
Und was den Hund angeht, hat sie gar nicht mal unrecht: Doktor Herkenrath ist tatsächlich ein Sicherheitsrisiko. Er hat sich von der allgemeinen Hektik im Haus anstecken lassen, rennt aufgeregt durch die mit Koffern und Reisetaschen vollgestellte Diele, fiept mitleiderregend – und erweist sich äußerst geschickt darin, zur falschen Zeit am falschen Ort und jedermann im Weg zu sein.
»Komm her, du Irrläufer«, sage ich, nehme ihn auf den Arm und versuche, ihn zu beruhigen.
»Hab Ihre Sonnenbrille gefunden, Herr Bond!«, brüllt Frau Zeigler vom Fuß der Treppe nach oben. »War im Dielenschrank. Und das Taxi ist bestellt. Kommt in drei Minuten.«
»Danke, Frau Zeigler!«, schreit Papa zurück. »Wissen Sie vielleicht auch, wo mein Ladekabel fürs Handy ist? Und mein Höhenmesser?«
»Ach, und könnten Sie mal nachsehen, ob ich die Jodsalbe und das Wundpflaster eingepackt habe?«, höre ich Mama aus dem zweiten Stock rufen.
Frau Zeigler verdreht genervt die Augen, macht sich aber umgehend daran, auf der Suche nach dem Pflaster die Reisetaschen zu durchwühlen. Sie ist eine kleine, stämmige Person und kann ziemlich resolut auftreten. Weswegen Frau von Hakkefress, unsere Nachbarin, sie mal als Kampfzwerg tituliert hat. Was Frau von Hakkefress nicht weiß, ist, dass Frau Zeigler sie regelmäßig eine neureiche Schnapsdrossel nennt.
»Wundpflaster ist in der roten Tasche!«, verkündet sie.
»Danke«, brüllt Mama. »Haben Sie vielleicht auch den Kompass und das Nasenspray gesehen? Und wo ist eigentlich meine Mütze? Ich kann sie nirgendwo finden.«
Wäre ich diese Art von hektischem Durcheinander nicht gewohnt, würde ich wahrscheinlich auch so aufgeregt fiepen wie Doktor Herkenrath. Aber mittlerweile kenne ich das Spiel. Meine Eltern sind Tierfilmer und mehrmals im Jahr zu Dreharbeiten unterwegs. Und weil beide ein ganz klein wenig unorganisiert sind, wird es kurz vor der Abreise immer chaotisch. In letzter Minute werden Dinge ein- und aus- und umgepackt, und jedes Mal sucht Papa nach seiner Sonnenbrille und Mama nach ihrer Mütze. Wenn sie weg sind, stellt sich meistens raus, dass sie irgendwas ganz besonders Wichtiges vergessen haben, weswegen Frau Zeigler mit grimmiger Miene zur Post marschieren und es ihnen nachschicken muss.
Diesmal geht es in die Dolomiten, wo sie einen Film über Gämsen drehen wollen. Normalerweise fährt Raimund, Frau Zeiglers Göttergatte, die beiden zum Flughafen. Aber er hat sich vor ein paar Tagen einen Hexenschuss zugezogen und liegt zu Hause mit einer Wärmflasche auf dem Sofa. Deswegen müssen meine Eltern ein Taxi nehmen. Und das kommt in diesem Moment vor dem Grundstück an.
»Kutsche ist da!«, trompetet Frau Zeigler durchs Haus.
»Alles klar.« Mama kommt, ein wenig außer Atem, die Treppe runtergestürmt, gefolgt von Papa, der sich suchend in der Diele umblickt und nuschelt: »Sie haben nicht zufällig meine blaue Jacke gesehen, Frau Zeigler?«
»Die haben Sie bereits an«, bemerkt sie und seufzt tief.
Während der Taxifahrer das Gepäck in den Kofferraum lädt, verabschieden sich meine Eltern von mir.
»Es ist ja nur eine Woche, Matilda«, sagt Mama lächelnd und streicht mir mit dem Finger über die Wange. Wir sehen uns ausgesprochen ähnlich, haben grüne Augen und rote Haare und eine gemeinsame Vorliebe für Detektivromane.
Papa steht weniger auf Detektivromane. Er ist mehr der Zeitungs- und Zeitschriftenleser. »Wir sind am Ostersonntag zurück«, verspricht er. »Dann hast du ja noch eine Woche Ferien. Die werden wir gemeinsam verbringen. Und du bestimmst, was wir unternehmen!«
»Tschüss, Papa. Tschüss, Mama. Passt auf euch auf!« Ich umarme und drücke sie zum Abschied, dann steigen sie in das Taxi, Doktor Herkenrath winselt traurig, und Frau Zeigler und ich winken ihnen hinterher, während der Wagen über die Kastanienallee davonfährt.
»So!«, macht Frau Zeigler, als das Taxi um die Kurve verschwindet, und schließt die Haustür.
»Welches So war das?«, frage ich.
»Was meinst du?«, sagt sie und bedenkt mich mit einem argwöhnischen Blick.
»Ist Ihnen noch nie aufgefallen, wie häufig Menschen so sagen? Und dass es alles Mögliche bedeuten kann? Es kann heißen: So! Das wäre geschafft. Manchmal meint es aber auch: So! Gehen wir die Sache an. Es kann auch bedeuten: So! Dem habe ich es mal gezeigt. Und dann gibt es noch das bestätigende, langgezogene Sooo. Sie wissen schon. Im Sinne von Jawohl, sooo muss die Sache aussehen. Und außerdem sind da natürlich auch noch das kurze und das lange So mit Fragezeichen.«
»So?«, macht Frau Zeigler mit gerunzelter Stirn.
»Das zum Beispiel«, sage ich. »Das war ein kurzes, skeptisches So. Das wird normalerweise gebraucht, wenn man seinem Gesprächspartner klarmachen will: Ich glaube kein Wort von dem Blödsinn, den du erzählst. Außerdem gibt es noch das extrakurze So. Wenn jemand was total Langweiliges erzählt, man aber aus irgendeinem Grund Interesse heucheln muss. Da lässt man gelegentlich ein pseudomäßiges So? oder ein Aha? oder ein Ach, ja? fallen.«
»Hmm, jetzt, wo du es sagst … Mein Raimund macht das ziemlich oft«, murmelt Frau Zeigler mit nachdenklicher Miene.
»Und dann ist da noch das lang gezogene Fragezeichen-So mit drohendem Unterton: Sooo? Das bedeutet immer Ärger. Sooo? Du denkst wirklich, dass es meine Aufgabe ist, deine Unordnung zu beseitigen? Dann will ich dir mal was sagen, mein Freund … Nicht zu vergessen das doppelte, nachdenklich hin gemurmelte So, so. Und was für So gilt, gilt erst recht für Tja. Ein Tja ist genauso vielseitig einsetzbar: Tja, ich weiß nicht. Tja, da kann ich dir auch nicht helfen. Tja, es ist, wie es ist. Das ist wie ein gesprochenes Schulterzucken. Wobei So oder Tja immer am Satzanfang stehen. Im Gegensatz zu Nicht wahr. Das kommt immer am Satzende und ist vor allem eines: völlig überflüssig. Wieso sagt jemand: Schönes Wetter heute, nicht wahr? Es erwartet doch keiner im Ernst, dass der andere antwortet: Da haben Sie aber so was von recht: Das Wetter ist schön! Gut, dass wir drüber gesprochen haben. Kann man sich also auch sparen. Genauso wie ein angehängtes Oder. Und um mal wieder auf das So zurückzukommen …«
»Matilda!«, unterbricht Frau Zeigler meinen Redefluss, nimmt mich mit zusammengekniffenen Augen ins Visier und sagt in vorwurfsvollem Ton: »Dir ist schon klar, dass wir die nächsten Tage gemeinsam in diesem Haus verbringen werden?«
»Glasklar«, bestätige ich und nicke brav. Für gewöhnlich kommt Frau Zeigler zweimal die Woche. Aber wenn Papa und Mama beruflich unterwegs sind, wohnt sie hier, um mich zu beaufsichtigen. Das geht schon so, seit ich sechs oder sieben war. Ich finde eigentlich nicht, dass eine Zwölfjährige Aufsicht braucht – andererseits ist ein bisschen Gesellschaft gar nicht schlecht. Und Frau Zeiglers Zimtpfannkuchen sind einsame Spitze.
»Und ist dir auch klar«, fährt sie fort, »dass ich ein menschliches Wesen bin? Mit Nerven und all so was? Und wenn du nicht möchtest, dass die reißen, dann solltest du mich mit deinem Dauergeplapper verschonen und den Mund öfter mal geschlossen halten. Haben wir uns verstanden?«
»Und wenn nicht?«, frage ich kichernd. »Wollen Sie mich dann fesseln und knebeln und in den Keller sperren?«
»Ich würde es an deiner Stelle nicht drauf ankommen lassen«, entgegnet sie mit drohendem Unterton. »Und jetzt sieh zu, dass du ein bisschen an die frische Luft kommst. Und nimm den Hund gleich mit. Damit er mir beim Putzen nicht im Weg ist.« Sie kramt Eimer und Schrubber aus einem Wandschrank, krempelt die Ärmel hoch und macht sich mit einem entschlossenen »So!« an die Arbeit.
Das Wetter ist traumhaft. (Nicht wahr?) Ein Apriltag wie aus dem Bilderbuch: Die Sonne lacht vom blauen Himmel, es hat um die fünfundzwanzig Grad, gelbe und lilafarbene Krokusse recken ihre Köpfe aus dem Gras und überall um mich herum sprießt und grünt und blüht es dermaßen, dass einem beinah schwindlig wird vor lauter Frühling.
Nichts gegen den Winter. Vor allem wenn es ein richtiger Winter ist, so wie der vergangene: mit klirrendem Frost, Unmengen von puderzuckrigem Schnee und Eiszapfen an den Dächern. Das hat was. Aber spätestens Mitte Februar ist es auch mal gut mit der winterlichen Romantik. Dann habe ich genug davon, bibbernd an der Straßenbahnhaltestelle zu stehen, und wünsche mir nur noch, endlich mal wieder im T-Shirt rumlaufen zu können, statt mich für jeden Schritt vor die Tür in Jacke, Schal und Mütze packen zu müssen. Und wenn es dann so weit ist und der erste warme Frühlingstag kommt, dann fühlt es sich an, als hätte man ewig lange in einem miefigen Zimmer gesessen und plötzlich hätte jemand ein Fenster aufgerissen. Die Welt duftet, als hätte sie sich neu erfunden.
Weil Papa und Mama häufig unterwegs sind, hat niemand Zeit, sich großartig um unseren Garten zu kümmern. Er sieht ziemlich verwildert und ein bisschen verwunschen aus. Was ich persönlich ganz wunderbar finde. Mit einem Detektivroman in der Hand schlendere ich über die Wiese zu meinem Lieblingsleseplatz: einer morschen hölzernen Bank vor einer Brombeerhecke. Die rote Farbe der Gartenbank ist größtenteils abgeblättert, zwischen den dünnen Latten der Rückenlehne windet sich wilder Efeu hindurch.
Ich strecke mich auf der Bank aus und schlage mein Buch auf, Doktor Herkenrath macht es sich im Gras bequem und lässt sich die Frühlingssonne auf die Hundenase scheinen.
Ich bin gerade mal auf Seite elf, als mich ein angsterfülltes Jaulen aufschreckt: Doktor Herkenrath ist voller Panik aufgesprungen, weil eine Hummel um ihn herumschwirrt. Er ist der König aller Angsthasen. Doktor Herkenrath hat Angst vor Insekten, er hat Angst vor lauter Musik, er hat Angst vor Schneeflocken. Und vor so ziemlich allem anderen auch. Ganz besonders vor Eichhörnchen. Wenn er ein Eichhörnchen sieht, macht er Geräusche, als hätte ihm jemand auf den Schwanz getreten, und ergreift Hals über Kopf die Flucht. Erst nachdem ich die harmlose Hummel verscheucht habe, beruhigt er sich wieder.
Mit meinem Detektivroman komme ich trotzdem nicht weiter. Der Anfang ist nicht übermäßig spannend, außerdem fällt es mir schwer, mich auf die Geschichte zu konzentrieren, weil ich ständig daran denken muss, was mich morgen erwarten könnte: ein echtes Detektivabenteuer. Im echten Leben. Mit mir selbst als Detektivin. Und natürlich mit Rory Shy.
Klar ist es schade, dass meine Eltern und ich die erste Ferienwoche nicht gemeinsam verbringen können. Aber die Sache hat auch ihr Gutes: Dass Papa und Mama in den Dolomiten sind, verschafft mir die Möglichkeit, endlich wieder als Detektivin tätig zu werden und mit Rory zusammenzuarbeiten. Eine ganze Woche lang.
Nur für diejenigen, die in den letzten fünf Jahren am Nordpol gelebt oder keine Nachrichten gesehen haben sollten: Rory Shy ist der berühmteste Detektiv weit und breit. Weil er jeden seiner Fälle löst. Seien sie auch noch so vertrackt. Und weil er dafür bekannt ist, ganz unglaublich schüchtern zu sein.
Ein schüchterner Detektiv?, wird sich der ein oder andere vielleicht wundern. Das ist ja wie ein wasserscheuer Bademeister. Oder ein veganer Metzger. Oder ein Pilot mit Flugangst. Und das stimmt natürlich auch erst mal: Schüchternheit ist so ziemlich die letzte Charaktereigenschaft, die man als Detektiv brauchen kann.
Wie will man einem Verbrecher auf die Spur kommen, wenn es einem unangenehm ist, Zeugen mit Fragen zu behelligen, oder wenn man vor lauter Schüchternheit ins Stottern gerät, sobald man einen Verdächtigen befragen muss? Dass Rory trotzdem alle seine Fälle löst, liegt an seiner hochgeheimen eigenen Methode, von der aber – außer ihm selbst – nur zwei Menschen wissen. Und einer davon bin ich …
Ich war seit jeher verrückt nach Detektivgeschichten und Kriminalfällen und habe Rorys Ermittlungen immer genauso gespannt verfolgt wie der Rest seiner riesigen Fangemeinde. Und wie die meisten Fans kannte ich den schüchternen Detektiv nur aus dem Internet und den Fernsehnachrichten. Bis zu jenem Abend in den letzten Weihnachtsferien, an dem ich ihm persönlich und leibhaftig begegnet bin. Als er bei einer Ermittlung einen kleinen Unfall hatte und mit der Zunge an der Kühlerhaube eines Autos festgefroren war. Zum Dank dafür, dass ich ihn aus dieser Notlage befreit habe, hat er mich ein Praktikum in seiner Detektiv-Agentur machen lassen.
Meine Eltern hätten entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn sie gewusst hätten, dass ihre zwölfjährige Tochter auf der Jagd nach Verbrechern war. Aber eine glückliche Fügung des Schicksals wollte es, dass sie sich zu der Zeit für Filmaufnahmen in Australien befanden. Also habe ich mit Rory in einem Kriminalfall ermittelt, in dem es um eine verschwundene Perle ging – und in dem es sich nicht umgehen ließ, jede Menge Leute zu befragen. Ich will nicht in übertriebenes Selbstlob verfallen, aber alleine wäre Rory bei der Sache ziemlich aufgeschmissen gewesen. Es hat sich schnell gezeigt, dass wir uns gut ergänzen. Ich bin nämlich das Gegenteil von schüchtern und habe keine Schwierigkeiten damit, Leute auszuquetschen und ihnen Informationen zu entlocken. Mithilfe meiner ganz persönlichen Methode: Wenn ich erst mal zu reden beginne, bin ich nicht so leicht zu stoppen. Was Frau Zeiglers Nervenkostüm strapaziert, für die Detektivarbeit aber von unschätzbarem Vorteil ist. Ich kann Leute in Grund und Boden quatschen und sie gnadenlos zulabern, bis sie so dermaßen durcheinander sind, dass sie Dinge preisgeben, die sie niemals preisgeben wollten.
Nachdem wir den Fall gemeinsam gelöst hatten, hat Rory mir angeboten, als Assistentin für ihn zu arbeiten. Ehrenamtlich und unbezahlt. Was ich mit Freuden angenommen habe. In den vergangenen Monaten war ich allerdings nur hin und wieder für ein paar Stunden in der Agentur. Mehr ging nicht. Weil ich so einiges für die Schule zu tun hatte – und weil Papa und Mama mir mit hundertprozentiger Sicherheit jegliche Verbrecherjagd verboten hätten, sobald sie davon Wind bekommen hätten.
Aber jetzt, wo sie in den Dolomiten sind, kann ich Rory für eine Woche als Vollzeitkraft unterstützen. Wir haben ausgemacht, dass ich morgen Früh um neun bei ihm auf der Matte stehen werde. Frau Zeigler werde ich irgendwelche Märchen auftischen. Frau Zeigler hat nicht nur ein goldenes Herz unter rauer Schale – sie verfügt noch über eine weitere vorteilhafte Eigenschaft: Frau Zeigler ist bemerkenswert leichtgläubig.
Ein erneutes Winseln reißt mich aus meinen Gedanken. Doktor Herkenrath drückt sich ängstlich an mein Bein. Im ersten Moment weiß ich gar nicht, wovor er sich erschreckt hat – dann entdecke ich einen etwa fünf Zentimeter großen Käfer, der gemächlich durch das Gras krabbelt.
»Oh, Mann«, stöhne ich kopfschüttelnd. »So wie es aussieht, hast du es ja wirklich drauf angelegt, für den Feigling des Jahres nominiert zu werden.«
Mein Kriminalroman ist dann doch spannender als gedacht. Die folgenden Stunden verbringe ich mit der Nase im Buch und bekomme nicht viel von meiner Umgebung mit. Bis Frau Zeigler von der Terrasse brüllt: »Matilda! Fünf Uhr!«
Das tut sie natürlich nicht, um mir die Uhrzeit mitzuteilen. Wenn sie Fünf Uhr! schreit, bedeutet das eigentlich: Komm rein, Kind! Die Mörderischen Ehefrauen fangen an.
Mörderische Ehefrauen ist die gemeinsame Lieblingsserie von Frau Zeigler und mir. Dabei geht es um echte, von Schauspielern nachgestellte Kriminalfälle, in denen Ehefrauen ihre Gatten um die Ecke bringen. Jeden Tag um fünf gibt es eine Doppelfolge.
Ich fläze mich neben Frau Zeigler auf das Sofa. Während der Vorspann läuft, kaut sie andächtig auf einer Nusspraline rum. Produktion und Regie: Alfred Hassler lese ich. Folge 485: Mord am Aschermittwoch.
Die Serie gibt es schon einige Jahre, und es kommen immer wieder die gleichen Schauspieler darin vor. Rebecca Winter, zum Beispiel, eine Darstellerin mit strengen Gesichtszügen, die meistens Giftmörderinnen spielt. Oder Patrizia Keller, eine athletische, durchtrainierte Schauspielerin, die zum Einsatz kommt, wenn eine Axt, ein Beil oder ein Hammer im Spiel sind.
Den Ehegatten in der heutigen Folge spielt Oliver Lorenz, ein gut aussehender Mime, der im Lauf der Serie schon Dutzende Male ertränkt, vergiftet, erstickt, überfahren und in Tiefkühltruhen gestopft worden ist. Die männlichen Akteure können einem ein bisschen leidtun. Ihre Auftritte als Ehemänner sind naturgemäß sehr kurz. Weil sie spätestens nach zehn Minuten abgemurkst werden.
Die mörderische Gattin wird heute von Marnie Küster, meiner Lieblingsschauspielerin, gespielt. Sie stellt immer Mörderinnen dar, die eiskalt und skrupellos sind, dabei aber so unschuldig, hilflos und verloren aussehen, dass die Polizei niemals auf die Idee käme, sie zu verdächtigen. Meistens kommen ihre Taten nur durch einen Zufall ans Licht. So auch diesmal. Die Aschermittwochs-Mörderin wird überführt, weil ausgerechnet da, wo sie die Leiche ihres Mannes vergraben hat, irgendwann eine Baugrube ausgehoben wird. Dabei hatte sie sich für den Zeitpunkt seines Verschwindens sogar ein erstklassiges falsches Alibi verschafft.
Apropos falsches Alibi. Höchste Zeit, dass ich mir auch eines besorge. Für den morgigen Arbeitstag mit Rory.
»Übrigens …«, sage ich möglichst beiläufig, als die zweite Folge beginnt. »Morgen bin ich den ganzen Tag bei Caroline.«
Caroline gibt es nicht. Aber sie ist das perfekte Alibi.
»Caroline?«, murmelt Frau Zeigler und zieht die Stirn kraus. »Ist das nicht das Mädchen, dessen Eltern in so einer komischen Sekte sind?«
»Genau«, sage ich und nicke bestätigend. Die Sekte, die ich der erfundenen Caroline und ihren Eltern angedichtet habe, lehnt technische Errungenschaften wie Telefone und Handys ab. Weshalb Frau Zeigler dort nicht anrufen kann und einfach glauben muss, was ich ihr erzähle.
»Und was habt ihr vor?«, fragt sie.
»Ostereier färben«, schwindle ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Wirklich?« Frau Zeigler wirkt leicht irritiert. »Nach all dem, was du mir bisher über diese Sekte erzählt hast, schien mir das doch ein ziemlich freudloser Verein zu sein. Hätte nicht gedacht, dass die bunte Eier mögen.«
»Tun sie auch nicht«, entgegne ich und versuche dabei, halbwegs ernst zu gucken. »Wir färben die Eier grau. Hellgrau, dunkelgrau, mittelgrau …«
»So?«, macht Frau Zeigler mit skeptischer Miene.
Ich zucke mit den Schultern. »Tja …«
Mit der Straßenbahn brauchen Doktor Herkenrath und ich eine knappe halbe Stunde bis zu Rorys Agentur in der Sailenzer Straße. Wie berühmt er ist, zeigt sich daran, dass sein Grundstück ständig belagert wird. Von Rory-Fans, die teilweise von weit her angereist kommen und auf ein Autogramm oder ein Selfie mit dem schüchternen Detektiv hoffen. Und von Journalisten, die ihn jedes Mal, wenn er das Haus verlässt, mit Fragen bestürmen, um ihm Einzelheiten zu aktuellen Fällen zu entlocken. Was bei Rorys Schüchternheit ein aussichtsloses Unterfangen ist. Meist bekommen sie nur ein paar schüchtern gemurmelte Ähms und Ähs zu hören.
Zum Glück gibt es einen Hintereingang, für den mir der Detektiv einen Schlüssel ausgehändigt hat. Ich schlage mich in eine Hecke, schleiche durch ein paar Gärten und halte auf die Rückseite des Hauses zu, als Doktor Herkenrath plötzlich unruhig wird, aufgeregt hechelt und fiept wie ein durchgedrehter Kanarienvogel. Nicht das übliche ängstliche Fiepen, sondern eines seiner hysterischen Ich schnappe gleich vor Freude über- Fiepen.
Zwei Sekunden später verstehe ich, warum: Die Hintertür öffnet sich – und Charlotte Sprudel tritt in den Garten.
Doktor Herkenrath springt auf sie zu, bellt fröhlich, hüpft mit schlackernden Ohren und hängender Zunge um sie herum und legt seinen allerschönsten Schieleblick auf. Er ist total verschossen in Charlotte. Wenn sie auftaucht, bin ich abgemeldet. Kennengelernt hat er sie im letzten Dezember. Charlotte war die Hauptverdächtige in dem Fall, in dem Rory und ich ermittelt haben. Und Doktor Herkenrath hat auch seinen Teil dazu beigetragen, dass wir ihre Unschuld beweisen konnten.
»Komm her, mein kleiner ängstlicher Held«, sagt sie mit sanfter Stimme, hockt sich vor ihn hin und krault ihm die Ohren.
Charlotte hat braune Rehaugen und langes dunkles Haar, trägt eine abgewetzte Jeans und ein ausgewaschenes Sweatshirt. Keiner, der sie in diesem Outfit sieht, würde vermuten, dass sie eine Milliardärin ist, die in einer riesigen schlossähnlichen Villa lebt. Ist sie aber. Und außerdem noch Rorys Freundin. Und extrem schüchtern. Beinah so schüchtern wie der schüchterne Detektiv.
»Hallo, Charlotte«, sage ich freudig und umarme sie zur Begrüßung.
»Schön, dich zu sehen, Matilda.« Sie lächelt scheu und wirkt ein wenig verlegen.
»So früh schon unterwegs? Hast du mit Rory gefrühstückt?«, frage ich ganz unschuldig, worauf sie zartrosa anläuft und verschämt wispert:
»Äh, nein. Ich habe gestern mit ihm zu Abend gegessen. Und dabei haben wir die Zeit vollkommen vergessen und … Also, jedenfalls war es plötzlich schon recht spät. Und da dachte ich … Also, da dachten wir beide, dass ich besser nicht mehr nach Hause … Also, dass es sicherer wäre, wenn ich über Nacht hier …«
»So, so«, mache ich, beobachte amüsiert, wie Charlottes Gesichtsfarbe von Zartrosa zu Dunkelrot wechselt, und muss mir ein Grinsen verkneifen.
Schon als ich sie und Rory zum ersten Mal zusammen gesehen habe, war mir klar, dass die beiden füreinander bestimmt sind. Das schüchternste Paar der Welt. So schüchtern, dass sie kein Paar geworden wären, wenn ich nicht ein bisschen nachgeholfen hätte. Aber das ist eine andere Geschichte …
»Rory hat mir erzählt, dass du diese Woche mit ihm arbeiten wirst«, wispert Charlotte, während ihre Gesichtsfarbe sich ganz allmählich normalisiert. »Sieht so aus, als hättet ihr einen neuen Fall.« Sie deutet zum Fenster von Rorys Arbeitszimmer im ersten Stock. »Er spricht gerade mit einem Klienten.«
»Weißt du, worum es geht?«, frage ich neugierig.
Charlotte schüttelt den Kopf. »Nein. Keine Ahnung. Ich, ähm, muss dann auch mal los, Matilda. Bis bald. Wenn du möchtest, komm doch mal bei mir vorbei. Auf ein paar Rosinenmürbchen und einen Kaffee.«
»Gerne«, sage ich, füge aber einschränkend hinzu: »Wenn wir auf den Kaffee verzichten können.« Durch meine Bekanntschaft mit Rory und Charlotte habe ich ein paar interessante Dinge über Schüchterne gelernt. Zum Beispiel, dass sie ihren Kaffee gerne extrem dünn mögen. So dünn, dass man beinah durchsehen kann. Bei dem Gedanken an das schlappe Gebräu, das ich insgeheim als schüchternen Kaffee bezeichne, schüttelt es mich.
Ich winke Charlotte zum Abschied zu, trete ins Haus – und bemerke, dass mir ein Cockerspaniel abhandengekommen ist. Doktor Herkenrath stolziert schwanzwedelnd hinter Charlotte her und hechelt verliebt. Erst als ich ein drohendes Katzenfauchen ausstoße, schafft er es, sich von seiner Angebeteten zu trennen, und kommt widerwillig zu mir herübergetrottet.
Rorys Agentur ist (zumindest auf den ersten Blick) eine ganz gewöhnliche Wohnung. Als ich in den schmalen Flur trete, höre ich Stimmen hinter der geschlossenen Tür des Büros. Gespräche zu belauschen, gehört sich nicht – wenn man keine Detektivin ist. Wenn man eine ist, gehört es zum Job.
Ich bedeute Doktor Herkenrath, sich still zu verhalten, und presse das Ohr gegen die Tür. Nach dreißig Sekunden konzentrierten Lauschens ist mir klar, dass es nicht um einen neuen Fall geht und dass Rorys Besucher auch kein Klient ist. Jedenfalls keiner, der Hilfe in einem Kriminalfall braucht. Sondern wieder mal irgendein Firmenboss, der die Bekanntheit des Detektivs nutzen und ihn als Werbeträger für seine Produkte gewinnen will.
»Wir ziehen das ganz groß auf«, höre ich den Mann in prahlerischem Ton sagen. »Mit Werbespots fürs Internet und fürs Fernsehen: Rory Shy, der schüchterne Detektiv empfiehlt: Dinkel-Bier! Dinkel-Bier – verjagt die Schüchternheit aus dir! Ist doch ein Hammer-Slogan, oder?«
»Ähm, ich … also, eigentlich mag ich gar kein Bier«, gibt Rory schüchtern zu bedenken.
»Weiß ja keiner«, wischt der Mann seinen Einwand beiseite. »Und für die Fernsehspots hat sich eine Werbeagentur schon was Pfiffiges ausgedacht: Zuerst sieht man Sie bei einer Party. Aber weil Sie so schüchtern sind, stehen Sie ganz alleine rum, während alle anderen mordsmäßigen Spaß haben. Und dabei gucken Sie ganz heulsusig, damit die Zuschauer begreifen: Wer schüchtern ist, führt ein trauriges, bemitleidenswertes Leben.«
»So?«, macht Rory.
»Und dann kommt eine attraktive Frau ins Bild und drückt Ihnen eine Flasche Dinkel-Bier in die Hand. Sie nehmen einen tiefen Schluck, gucken plötzlich ganz fröhlich und sagen: ›Dinkel-Bier verjagt die Schüchternheit aus dir!‹ Und im nächsten Moment tanzen Sie mit der Frau auf einem Tisch, während alle anderen Sie bewundernd anschauen. Die Frau schüttelt ihr Haar und dann küssen Sie sich und …«
»Ähm, ich, räusper, weiß nicht«, protestiert Rory zaghaft. »Normalerweise tanze ich nicht auf Tischen und, äh, eigentlich küsse ich auch keine fremden Frauen.«
»Einzelheiten können wir ja später noch klären«, sagt sein Gesprächspartner. »Kommen wir zum Punkt: Wie viel wollen Sie dafür haben?«
»Es, ähm, es ist keine Frage des Geldes«, versucht der Detektiv zu erklären. »Ich denke nur, dass ich Ihre Ideen zur Schüchternheit nicht so ganz …«
»Verstehe«, grunzt der Mann und lacht dröhnend. »Sie versuchen, Ihre Gage in die Höhe zu treiben. Hab mir schon gedacht, dass Sie ein zäher Verhandlungspartner sind. Na, dann mal los. Butter bei die Fische! 20 000? 30 000?«
Penetrante Menschen wie diesen Dinkel-Bier-Mann wird man nur mit einer klaren Ansage los. So was wie: Für kein Geld der Welt mache ich bei diesem Blödsinn mit. Du und dein Bier interessieren mich null. Verfatz dich, Alter! Aber solche Sätze kämen natürlich nie über Rorys schüchterne Lippen. Weil er dazu viel zu höflich ist.
Gut, dass er mich hat!
Ich klopfe an, reiße die Tür auf und werfe einen kurzen Blick auf den Besucher, einen bulligen Mann mit wulstigen Lippen und Knollennase. Wohl in der Absicht, Rory von seinem Produkt zu überzeugen, hat er fünf Flaschen Dinkel-Bier auf dem Schreibtisch des Detektivs aufgebaut. Rory macht ein Gesicht wie ein zu Tode erschrecktes Erdmännchen und wirft mir zwischen den Flaschen hindurch einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Sie denken daran, dass Sie in fünf Minuten einen Termin haben, Herr Shy?«, sage ich und zwinkere ihm verschwörerisch zu.
Er lächelt erleichtert und beeilt sich zu versichern: »Ähm, ja, äh, natürlich.«
»Wer ist die denn?«, fragt der Bier-Mann und betrachtet mich schlecht gelaunt.
»Das ist … das ist Frau Bond. Meine Mitarbeiterin. Und das ist Doktor Herkenrath. Ebenfalls ein, öhm, Mitarbeiter.«
»Er ist ’ne abgerichtete Kampfmaschine«, erkläre ich und mache Doktor Herkenrath ein Zeichen, dass er böse knurren soll. Er schielt mich ratlos an und gähnt herzhaft.
»Kommen wir mal wieder auf Ihr Honorar zurück«, sagt die Knollennase und nimmt Rory ins Visier. »Raus mit der Sprache. Wie viel muss ich springen lassen, um Sie als Werbefigur für mein Bier zu kriegen?«
»Ich, ähm … also, wie gesagt …«
»Herr Shy ist nicht interessiert«, bescheide ich kurz und knapp. »Er denkt, dass Werbung so ziemlich das Letzte ist, was die Menschheit braucht.«
Dem Mann klappt die Kinnlade runter. Er stiert mich böse an und blickt dann fragend zu Rory, der verschämt nuschelt: »Öhm, ja, das wollte ich Ihnen eigentlich, mit, äh, etwas diplomatischeren Worten auch schon die ganze Zeit …«
Wutentbrannt springt unser Besucher von seinem Stuhl auf und giftet: »Sie haben gerade das Geschäft Ihres Lebens in den Wind geschlagen. Dann suchen wir uns eben einen anderen schüchternen Prominenten!«
»Viel Glück beim Suchen«, wünsche ich. »Und einen schönen Tag noch. Die Agentur Rory Shy dankt für Ihren Besuch.«
»Puh! Danke, Matilda«, sagt Rory, nachdem die Knollennase zur Tür hinaus ist, atmet erleichtert auf und streicht sich mit abwesender Geste eine Locke aus der Stirn. »Möchtest du auch einen Kaffee?«
»Auf keinen Fall!«, wehre ich entschieden ab, während ich voller Grauen zusehe, wie er sich eine Tasse der dünnen Plörre einschenkt und genussvoll daran nippt.
Rory ist Mitte zwanzig, groß und schlank, hat braunes Haar (mal abgesehen von einer kleinen grauen Stelle auf seinem Hinterkopf) und ist stets korrekt gekleidet. Fast immer trägt er Anzug, Hemd und Krawatte, und seine Schuhe sind so auf Hochglanz poliert, dass man sich in ihnen spiegeln kann. Er ist ein ausgesprochen ordentlicher Mensch. In der Agentur ist immer alles blitzblank und aufgeräumt – abgesehen von Rorys Büro. Hier herrscht völliges Chaos. Das gesamte Zimmer ist mit Kram und Krempel vollgestellt. Und seit meinem letzten Besuch ist noch so einiges dazugekommen: ein Golfschläger, eine rote Kappe, ein Plastikbehälter mit Desinfektionsmittel, eine Tube Selbstbräuner und ein blondes Toupet.
Angesichts dieses Sammelsuriums könnte man vermuten, dass sich der schüchterne Detektiv schlecht von Dingen trennen kann. Weit gefehlt. Rory bewahrt diese Gegenstände in seinem Büro auf, weil jeder einzelne von ihnen eine Rolle bei einem Verbrechen gespielt hat. Und damit wären wir auch schon bei dem Geheimnis des schüchternen Detektivs. Bei seiner höchsteigenen Ermittlungsmethode. Dem Grund, warum es ihm gelingt, alle seine Fälle zu lösen, obwohl er zu höflich und zu schüchtern ist, um Verdächtige und Zeugen zu befragen.
Als er mir zum ersten Mal von dieser Methode erzählt hat, konnte ich es kaum glauben – bis ich es mit eigenen Augen gesehen habe.
Während der Ermittlung in seinem allerersten Fall hat Rory einen Schlag auf den Kopf abbekommen – und verfügt seitdem über eine einzigartige Fähigkeit: Wenn der Detektiv einen Gegenstand berührt, der mit einem Verbrechen in Zusammenhang steht, dann blitzen vor seinem inneren Auge Bilder auf, die etwas mit dem Verbrechen zu tun haben. Im Fall der verschwundenen Perle sind wir dem Täter auf die Spur gekommen, weil Rory einen Servierwagen gestreichelt und an einem Ölgemälde geleckt hat. (Echt wahr!) Man darf sich das aber nicht so vorstellen, dass er den Gegenstand berührt und dann sieht, wer der Täter ist oder wie die Tat vonstattenging. So einfach funktioniert die Sache nicht. Rory bekommt von den Gegenständen Informationen, die oftmals gar nichts mit dem eigentlichen Verbrechen zu tun haben, ihn aber über Umwege doch zum Täter führen. Weil der schüchterne Detektiv es wie kein anderer versteht, Zusammenhänge zwischen diesen Hinweisen herzustellen. Und sollte das mal nicht ausreichen und es doch nötig sein, Zeugen zu befragen und Verdächtige zu verhören – dann hat er ja immer noch mich.
Ich kann es kaum erwarten, endlich wieder mit der Detektivarbeit loszulegen. »Was liegt an?«, frage ich aufgekratzt. »Bitte, bitte, bitte, sagen Sie mir, dass ich jemanden observieren darf. Darauf freue ich mich schon ewig. An welchem spannenden Fall sind Sie gerade dran?«
»Ähm, nun, ich befürchte, wirklich spannend ist der aktuelle Fall nicht«, murmelt Rory und fügt in bedauerndem Ton hinzu: »Offenbar herrscht gerade so etwas wie eine Verbrechensflaute. Aber ich, äh, hätte da trotzdem eine Aufgabe für dich.«
Wir gehen in seine Wohnküche hinüber. Weil Rorys Büro so vollgestellt ist, dass dort kein Platz für einen zweiten Schreibtisch ist, arbeite ich immer hier. Am Küchentisch.
Auf dem Tisch liegen vier dicke Aktenordner. Mir schwant Böses.
»Die gehören zu dem aktuellen, leider ziemlich langweiligen Fall. Es geht um eine Schadensersatzklage. Aber Auftrag ist Auftrag«, sagt der Detektiv mit traurigem Gesichtsausdruck.
»Soll das bedeuten, ich muss das alles lesen?«, frage ich wenig begeistert.
»Natürlich nur, wenn, äh, wenn es dir nichts ausmacht, Matilda.«
»Alles klar«, seufze ich, nehme Platz und schlage den zuoberst liegenden Ordner auf.
»Ach ja …«, sagt Rory, räuspert sich verlegen und zieht drei verschiedenfarbige Textmarker aus einer Schublade. »Jedes Mal, wenn du auf den Begriff Blutwurstauflauf stößt, markierst du die Stelle bitte rot. Das Wort Salmonellen bitte immer gelb hervorheben. Und alles, in dem das Wort Durchfall vorkommt, mit dem grünen Stift anstreichen. Du weißt schon: Durchfallerkrankung, Durchfallbehandlung, Durchfallmedikament … Vielen Dank, Matilda. Bis später.«
Das Detektivgeschäft ist nicht immer aufregend. Da hofft man auf einen kniffligen, kompliziert zu knackenden Fall – und was kriegt man stattdessen: Salmonellen und Durchfall. Doktor Herkenrath, der tagsüber gerne ausgedehnte Schläfchen hält, rollt sich müde unter dem Tisch zusammen, während ich mit der Arbeit beginne.
Um achtzehn Uhr habe ich mich durch drei Aktenordner gearbeitet und sechsundneunzig Blutwurstaufläufe, fünfundneunzig Salmonellen und dreiundsiebzig Durchfälle gefunden. So hatte ich mir meinen ersten Tag als Assistentin nicht vorgestellt. Für heute reicht es mir.
»Ich kann nicht mehr. Wenn ich noch einmal das Wort Blutwurstauflauf lese, übergebe ich mich«, drohe ich, als ich in Rorys Büro hinübergehe. Er steht vor einem Regal, hat die Augen geschlossen und fährt mit den Fingern über eine Plätzchendose. »Und – was sehen Sie, wenn Sie die Dose berühren?«, frage ich naseweis.
»Eine ältere freundliche Dame, die Insektenvernichtungsmittel in den Plätzchenteig rührt«, antwortet Rory mit abwesendem Blick. »Aber solange ich nicht auf einen zweiten Gegenstand stoße, der in dem Fall eine Rolle spielt, komme ich nicht weiter.«
»Also … für heute würde ich gerne Feierabend machen«, informiere ich ihn. »Meinen Sie, morgen wird es spannender?«
»Tja …«, macht Rory, zuckt die Schultern und stellt die Plätzchendose ins Regal. »Das, öhm, kann man nie wissen. Manchmal ist wochenlang nichts los und dann plötzlich –«
Das Schrillen der Türklingel unterbricht den Detektiv.
Er guckt erschrocken und wispert: »Äh, Matilda … Wärst du vielleicht so freundlich und …«
Ich stürze an die Gegensprechanlage. »Ja?«
»Guten Abend«, tönt mir eine tiefe, brummige Stimme entgegen. »Mein Name ist Alfred Hassler. Ich muss den schüchternen Detektiv sprechen.«
Alfred Hassler? Es dauert einen Moment, bis der Groschen bei mir fällt. »Der Alfred Hassler?«, stottere ich in den Hörer. »Der Regisseur von Mörderische Ehefrauen?«
»Ja«, sagt die Stimme gleichmütig. »Auch bekannt als Der Meister des Gattenmordes. – Was ist nun? Darf ich reinkommen?«
Ich drücke auf, die Haustür öffnet sich und ein korpulenter älterer Mann keucht die Treppe hoch. Abgesehen von einem Haarkranz an seinem Hinterkopf ist er kahl. Der Mann hat Hamsterbäckchen und mehrere Doppelkinne, wodurch sein ganzes Gesicht ein wenig zu schwabbeln scheint. In der rechten Hand trägt er ein kleines Bastkörbchen.
»Guten Tag, Herr Hassler«, begrüße ich ihn. »Ich bin Matilda Bond, die Assistentin von Rory Shy. Toll, Sie kennenzulernen. Ich bin ein Riesen-Fan der Mörderischen Ehefrauen. Ich weiß gar nicht, welche Episode ich am besten finden soll: die mit der Frau, die ihren Mann mit der Dampfwalze überfahren hat? Oder die Geschichte mit der Obstpresse? Oder den Fall mit dem vergifteten Nasenspray? Und das mit dem manipulierten Lötkolben war auch echt raffiniert. Ganz zu schweigen von der Dame, die ihren Gatten mittels kalorienreichen Essens ins Jenseits befördert hat. Obwohl: Am allerbesten fand ich die Frau, die nicht nur ihren Ehemann, sondern gleich auch noch ihren Liebhaber entsorgt hat, als der –«
»Ich freue mich sehr, dass dir meine Arbeit so gut gefällt«, unterbricht mich der Regisseur. »Aber … hast du vor, mich zu töten? Indem du maschinengewehrartig Worte auf mich abfeuerst?«
»Oh, tut mir leid«, sage ich und lächle entschuldigend. »Das mit dem Reden gerät bei mir gelegentlich ein bisschen außer Kontrolle. – Bitte kommen Sie doch mit.«
Ich führe ihn ins Büro. Beim Anblick des Durcheinanders und der Bierflaschen auf dem Schreibtisch stutzt er einen Moment, dann stellen er und Rory sich einander vor. Alfred Hassler lässt sich schnaufend auf den Besucherstuhl sinken und setzt das Bastkörbchen auf seinen Knien ab.
Natürlich muss ich dem Detektiv erst mal erklären, wer Alfred Hassler ist. Rory kennt die Mörderischen Ehefrauen nicht. Er sieht so gut wie nie fern. Nur gelegentlich schaut er Pssst. Eine Talkshow für Schüchterne, in der nicht viel geredet wird.
»Und was, äh, was kann ich für Sie tun?«, fragt er den Regisseur mit zuvorkommendem Lächeln – als Doktor Herkenrath ins Büro trottet und schnuppernd die Nase hebt.
In diesem Moment bewegt sich etwas in Alfred Hasslers Bastkörbchen und einen Augenblick später reckt ein winziger Yorkshire-Terrier mit pinkfarbener Schleife im Haar das Köpfchen aus dem Korb. Die kleine Hundedame blickt neugierig auf Doktor Herkenrath und stößt zur Begrüßung ein helles Kläffen aus. Der ängstlichste aller Cockerspaniel jault panisch, nimmt fluchtartig Reißaus und schießt in einem Affentempo über den Flur in die Küche.
»Ruhig, Fränzi«, brummt der Regisseur und streicht der Terrierdame über den Kopf, worauf sie das Kläffen augenblicklich einstellt. Alfred Hassler beugt sich mit ernster Miene vor und vertraut Rory an: »Ich bin hier, weil eine der Schauspielerinnen aus Mörderische Ehefrauen vor ein paar Stunden verhaftet wurde.«
»Wie jetzt? Im echten Leben?«, frage ich verwirrt.
»Ja«, antwortet der Regisseur. »Noch hat die Presse nichts davon erfahren. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Spätestens bis zu den Abendnachrichten dürfte es die Runde gemacht haben.«
»Und welche Darstellerin?«
»Marnie Küster.«
»Marnie Küster?«, entfährt es mir. »Sie ist meine absolute Lieblingsschauspielerin. Niemand schafft es so gut wie sie, Kaltblütigkeit und Berechnung hinter einem engelhaften Gesicht zu verstecken.«
»Dieser Meinung ist die Polizei offenbar auch«, seufzt Alfred Hassler. »Deswegen sitzt sie in Untersuchungshaft.«
»Was, äh, räusper, was ist denn passiert?«, fragt Rory.
Alfred Hassler lehnt sich zurück, schnauft tief durch und sagt mit seiner tiefen Brummstimme: »Marnie ist einunddreißig. Vor zwei Jahren hat sie geheiratet. Einen Mann, der fünfundzwanzig Jahre älter ist als sie. Simon Küster. Er ist ein äußerst wohlhabender Mann. Ein bekannter Kunstsammler.«
»Ja? Und?«, hake ich nach.
»Simon Küster ist gestern Nacht in seinem Haus angegriffen worden. Jemand hat ihm einen Schlag auf den Kopf verpasst. Zum Glück ist er außer Lebensgefahr. Aber er ist ohne Bewusstsein und die Ärzte können nicht sagen, wann er es zurückerlangen wird. Zunächst sah es so aus, als hätte er einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt und wäre von diesem niedergeschlagen worden: Die Rote Libelle, ein wertvolles modernes Gemälde, das er erst kürzlich gekauft hat, wurde gestohlen.«
»Und warum hat man dann Marnie Küster verhaftet?«, frage ich perplex.
Der Regisseur fährt sich mit der Hand über die Glatze und murmelt: »Ihre Anwältin hat mir erzählt, dass Marnie sich bei der polizeilichen Vernehmung in Widersprüche verstrickt haben soll. Näheres dazu weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist sich die Polizei wohl sehr sicher, dass Marnie lügt. Dass sie den Einbruch vorgetäuscht und versucht hat, ihren Mann zu ermorden. Um an sein Erbe zu gelangen.«
Das muss ich erst mal sacken lassen. Was für eine aberwitzige Situation: eine Schauspielerin, die in einer auf echten Fällen beruhenden Serie Mörderinnen spielt und nun im wahren Leben unter Verdacht steht!
Alfred Hassler streicht dem Yorkshire-Terrier über den Kopf, sieht mit traurigem Blick aus dem Fenster und brummt: »Jeder, der Marnie kennt, weiß, dass sie ihren Mann liebt. Und dass sie niemals zu so einer Tat fähig wäre. Die Polizei ist völlig auf dem Holzweg. Deshalb möchte ich, dass Sie in diesem Fall Ermittlungen anstellen.«
Rory hüstelt nervös und stammelt: »Ich sollte Sie darauf hinweisen, dass ich, äh, dass ich in einem Fall immer in alle Richtungen ermittle. Möglicherweise stoßen wir bei unserer Untersuchung auf etwas, das Marnie Küster entlastet. Es könnte aber auch passieren, dass wir … dass wir etwas finden, das sie belastet.«
Alfred Hassler nickt verständig. »Ich werde jedes Ergebnis Ihrer Ermittlung akzeptieren. Aber ich bin von Marnies Unschuld überzeugt.«
»Wer ist denn für die, öhm, polizeiliche Untersuchung zuständig?«, erkundigt sich der schüchterne Detektiv.
»Ein gewisser …« Alfred Hassler zieht einen Zettel aus seinem Jackett und liest mit gerunzelter Stirn: »Ein gewisser Kommissar Valko.«
»Oh, nein! Bitte nicht!« Rory und ich stöhnen gleichzeitig auf. Mit Kommissar Valko hatten wir es schon im Fall der verschwundenen Perle zu tun. Er leidet nicht gerade an mangelndem Selbstbewusstsein und ist sehr überzeugt von sich. Besonders dann, wenn er mit seinen Vermutungen völlig schiefliegt. Aber egal – Hauptsache, wir haben einen Fall. Einen echten Kriminalfall! Und keinen mit Salmonellen und Durchfall.
»Wie gehen wir vor? Wo fangen wir an?«, frage ich hochmotiviert.
Der schüchterne Detektiv zieht die Stirn kraus und scheint angestrengt über diese Frage zu grübeln. Derweil hat Doktor Herkenrath den ersten Schock überwunden. Auf leisen Pfoten wagt er sich aus der Küche hervor, spinkst vom Flur aus ins Büro und schielt in einer Mischung aus Angst und Neugier zu Fränzi, der Terrierdame, hinüber.