Kevin Hearne

Tinte & Siegel

Die Chronik des Siegelmagiers 1

Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader

Klett-Cotta

Impressum

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Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Ink & Sigil« im

Verlag Del Rey, Imprint von Random House, New York

© 2020 by Kevin Hearne

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung der Daten des Originalverlags

Illustration: © Sarah J. Coleman,

Art direction: David G. Stevenson

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98203-9

E-Book: ISBN 978-3-608-12080-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

1

Vorsicht, Scones

Tote Schüler sind auf Dauer schlecht für den Ruf. Inzwischen frage ich mich, ob meiner überhaupt noch zu retten ist.

Fergus wurde bei den Highland-Spielen von einem ungeschickt geworfenen Baumstamm erschlagen.

Abigail segelte über den Himmel, als ihr Fallschirm versagte.

Beatrice war Amateurmykologin und aß ein paar giftige Pilze.

Ramsey wurde von hirnlosen amerikanischen Touristen überfahren, die auf der falschen Straßenseite unterwegs waren.

Nigel machte Urlaub in Toronto, wo ihm ein Eishockeypuck den Schädel zertrümmerte.

Alice wurde bei einer Auseinandersetzung mit Fußball-Hooligans erstochen.

Und jetzt ist auch noch Gordie, der eigentlich meine Glückszahl sieben hätte sein sollen, heute an einem Scone erstickt. In dem Gebäck waren Rosinen, ziemlich bekloppt also, das Ding zu essen, da Rosinen verderbenbringende Perversionen sind. Er hätte es einfach besser wissen müssen. Unabhängig von den Zutaten sollte man sowieso nie ein Scone essen, wenn man allein ist. Armer kleiner Kerl.

An keinem dieser Todesfälle war ich schuld, und sie standen auch in keinem Zusammenhang mit der Ausbildung in meinem Fach. Das zumindest kann ich ins Feld führen.

Aber trotzdem. Bin ich überhaupt in der Lage, einen Nachfolger auszubilden? Allmählich kommen da Zweifel auf, vor allem bei mir. Dabei hätte ich gern in nicht allzu ferner Zukunft einen Nachfolger, zumal ich schon über sechzig bin und meine Zeit lieber an Stränden oder in Gärten verbringen würde – jedenfalls an einem Ort, wo ich öfter die Sonne sehe.

Schottland ist nicht unbedingt berühmt für seine Sonnenstunden. Die Highlands kriegen Jahr für Jahr zweihundertsechzig Tage Regen ab. Aber weil es nun mal keinen Spaß macht, sich die Schotten als ständig durchnässt auszumalen, werden wir in der Fantasie anderer Länder bevorzugt mit Kilts, Dudelsäcken und unsäglicher Küche dargestellt.

Der muskelbepackte Constable, der mit routinierter Standfestigkeit den Eingang zu Gordies Wohnung in Maryhill blockierte, hob die Hand, als ich mich an ihm vorbeischlängeln und nach dem Türknauf greifen wollte. Anscheinend hatte er keine Lust, mich auf höfliche Weise weiterzuschicken. »Hast du sie nicht mehr alle, du Bampot? Zieh Leine.«

»Das können Sie sich in den Furzer rammen, Constable. Der Inspector weiß, dass ich komme, also gehen Sie mir aus dem Weg.«

Tja, den Schotten eilt nicht umsonst der Ruf einer farbenfrohen Sprache voraus.

Mein Stock war in Wirklichkeit eine Waffe, die ein Mensch meines Alters offen mit sich führen durfte. Ich lehnte mich demonstrativ darauf, während ich meinen »offiziellen« Ausweis zückte und ihn dem Mann unter die Nase hielt. Es war keine Marke und auch sonst nichts Offizielles, bloß ein Stück Ziegenhautpergament, auf das ich mit sorgfältig zubereiteten Tinten drei Siegel geschrieben hatte. Jedes alleine hätte wahrscheinlich schon ausgereicht, und im Zusammenspiel ermöglichten sie einen praktisch unwiderstehlichen Hack des Gehirns über den Sehnerv. Die meisten Menschen waren empfänglich für Manipulationen über optische Medien – die Werbebranche war der beste Beleg dafür. Und Siegel nutzten diese kollektive Anfälligkeit noch auf weitaus wirksamere Weise aus.

Das erste, das Siegel des Durchlässigen Verstandes, war das wichtigste, weil es der Zielperson ihre Gewissheiten und Prioritäten nahm und sie offen für Vorschläge machte. Außerdem fiel es der Zielperson schwer, sich an die Geschehnisse der nächsten Minuten zu erinnern. Das nächste, das Siegel der Unumstrittenen Autorität, verlieh mir jede für den Verstand des Constables akzeptable Bedeutung. Das dritte, das Siegel der Raschen Einwilligung, sollte ihn dazu bewegen, sich jeder halbwegs vernünftigen Anweisung von mir zu fügen, und ihn dafür mit einem kräftigen Dopaminstoß belohnen.

»Lassen Sie mich durch«, wiederholte ich.

»Selbstverständlich, Sir.« Eilfertig trat er beiseite.

Jetzt hätte ich locker an ihm vorbeigekonnt, ohne ihn zu berühren, und jede weitere Bemerkung hätte sich erübrigt. Allerdings war ich der Meinung, dass ich ihm für sein flegelhaftes Benehmen von vorhin noch eine entsprechende Antwort schuldete. Also drängte ich ihn grob zur Seite und knurrte: »Ich hab deine Oma bestiegen.« Ohne seinen bösen Blick zu beachten, betrat ich die Wohnung.

Der Inspector drinnen wusste natürlich nichts von meiner Ankunft. Es war eine Frau in mittleren Jahren, die ein wenig müde wirkte, als sie sich bei meinem Eintreten umwandte. Immerhin war sie deutlich höflicher als der Constable. Sie hatte ihr Haar grau werden lassen, statt es sich zu färben, und das fand ich sofort sympathisch.

»Hallo. Und wer sind Sie?«

Ganz in seine Arbeit vertieft, machte ein Forensiker unbestimmten Geschlechts digitale Fotos – mit einer ans Gesicht gepressten richtigen Kamera statt mit einem Telefon oder Tablet. Erneut wandte ich den »offiziellen« Ausweis an und deutete auf den armen Gordie, der mit blau angelaufenem Gesicht auf dem Küchenboden lag. Von der jahrelangen Ausbildung, seinen Hoffnungen und meinen, war nur noch eine leblos hingestreckte Leiche übrig. »Erzählen Sie mir, was Sie über den Tod dieses Mannes wissen.«

Die Beamtin blinzelte rasch, als die Siegel ihre Wirkung ausübten. »Durch einen Unfall erstickt, soweit wir das erkennen können, außer der Drogentest ergibt, dass mit dem Scone was nicht in Ordnung war.«

»Natürlich war damit etwas nicht in Ordnung.« Ich fixierte das Überbleibsel des Scones auf einer Untertasse. »Es war mit Rosinen. Sonst noch was von Bedeutung?«

Sie deutete Richtung Gang. »Zwei Schlafzimmer, obwohl er allein gelebt hat. Ein Schlafzimmer voller Füller und Tinten. Ist mir noch nie untergekommen, so was. Ein Spinner anscheinend.«

»Genau. Deswegen bin ich auch hier. Ich muss das Zeug einschicken. Zur Überprüfung und so weiter.«

Wie eine Wolke zog Verwirrung über ihr Gesicht. »Davon hat er aber gar nichts getrunken.«

»Nein, nein. Das gehört zu einer anderen Untersuchung. Wir beobachten ihn schon seit einer Weile.«

»Wir? Entschuldigung, ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen.«

»Aloysius MacBharrais. Sie können mich Al nennen.«

»Danke. Ich bin Detective Inspector Munro. Und Sie führen Ermittlungen zu den Tinten durch?«

»Aye. Toxische Chemikalien. Illegale Präparate. Alles, was in diese Richtung geht.«

»Na, dann mal los. Das Zimmer gefällt mir nicht. Irgendwas ist komisch da drin.«

Diese hingeworfene Bemerkung war eine dicke Warnung. Gordie hatte anscheinend mehrere aktive und ungesicherte Siegel am Laufen gehabt. Wie auch immer, all seine Tinten – mühsam und mit größter Sorgfalt aus seltenen Ingredienzen und latenter magischer Kraft hergestellt – mussten verschwinden. Die Welt brauchte garantiert keinen Constable, der zufällig ein Siegel der Entfesselten Zerstörung hinkrakelte. Nach ihrer Sicherstellung konnte ich die Sachen später analysieren, die gelungenen Mischungen aufbewahren und den Rest vernichten.

Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich ab und trat in den Flur. Es gab drei Türen, eine davon führte bestimmt zum Klo. Nach der Anordnung lag nahe, dass das die erste links war, daher peilte ich die zweite an und öffnete sie vorsichtig einen Spalt. Sein Schlafzimmer mit einem Schreibtisch und einer kleinen Ansammlung von Stiften, Tinten und Briefpapier – alles für die normale Korrespondenz. Ich nahm ein Blatt und zog einen Aurora 88 aus meiner Jackentasche. Der Füller enthielt eine rostfarbene Tinte mit Zinnober als Pigment und einer Mischung aus zermahlenen Perlen, Fischleim und dem Glaskörpergallert von Eulenaugen als Bindemittel. Zuerst zeichnete ich einen kleinen Kreis, um die Wirkung auf mich zu lenken, dann skizzierte ich in raschen Zügen das Siegel der Geschirmten Sicht, das einem roten Auge hinter Gitterstäben glich. Mit seiner Vollendung trat das Siegel in Kraft, all meine Farbrezeptoren wurden inaktiv, und ich sah nur noch schwarzweiß. Das war ein grundlegender Schutz vor ungesicherten Siegeln. Solange er aktiv war und ich ihn nicht zerstörte, konnten sie mir nichts anhaben. Das hatte mich schon zahllose Male vor Schäden bewahrt.

Den Stock abwehrend erhoben, hielt ich das Siegel in der linken Hand und öffnete die Tür zu Gordies Arbeitszimmer. Sofort stach mir eine faulig miefige Schwade in die Nase, und ich fragte mich, weshalb Inspector Munro kein Wort darüber verloren hatte. Es roch nach verschwitztem Hodensack. Und nicht nur nach einem. Eher schon nach zehn.

»Boah.« Ich hustete zweimal, um den Geruch aus der Lunge zu bekommen. Ein Kichern aus der Küche verriet mir, dass die Beamtin ihn absichtlich verschwiegen hatte. Kein Wunder, dass sie mich so umstandslos weitergeschickt hatte. Ich war ihrer scheinbaren Höflichkeit auf den Leim gegangen und in eine olfaktorische Falle getappt.

Zum Glück hatte ich wenigstens meine Sicht geschützt. Gordie hatte weit mehr als nur ein paar Siegel hinterlassen. Das Zimmer war voll davon, als Bann gegen unterschiedliche Kräfte. An zwei Wänden zogen sich Werkbänke und Stühle aus Rohholz hin, und links schimmerten etikettierte Tinten und Ingredienzen in offenen Fächern. Die Hauptbank für die Tintenzubereitung gegenüber der Tür war übersät mit Flecken von Pigmenten, Ölen und Bindemitteln, und auf ihr standen weitere zugestöpselte Fläschchen Tinte. Es gab ein beschriftetes Gestell für Füllfedern, Papierablagen, Karten für Siegel, dazu Stempelwachs, einen Schmelzlöffel und eine Schachtel Streichhölzer. Mehrere an die Wand geklebte Karten trugen erkennbare Siegel für eine Einschränkung der Sicht und Aufmerksamkeit, die mich – und jeden anderen, der hier eintrat – von allem ablenken sollten, das sich in der rechten Hälfte des Zimmers befand. Deswegen hatte sich Inspector Munro so unbehaglich gefühlt. Sie hatte gespürt, dass hier irgendetwas war und es wahrscheinlich auch wahrgenommen, doch die Siegel hinderten ihren Verstand daran, diese Eindrücke zu verarbeiten. Meine geschirmte Sicht setzte die Siegel außer Kraft, daher konnte ich ohne Weiteres erkennen, dass da ein ächzender Hobgoblin versuchte, sich aus einem Käfig auf der Werkbank zu befreien. Dieser Anblick verschlug mir die Sprache.

Ihrem Temperament nach sind Hobgoblins eher schelmisch als boshaft, und darin unterscheiden sie sich auch von normalen Goblins oder Kobolden. Sie sind außerordentlich schwer zu fangen, weil sie über kurze Distanzen teleportieren können und dank ihrer kräftigen Oberschenkel äußerst wendig und zu beeindruckenden Senkrechtsprüngen fähig sind.

Der hier bemühte sich, eines von mehreren Siegeln zu erhaschen, die auf kleinen Metallständern um seinen Käfig gruppiert waren wie Fassbierlisten auf einem Pubtisch. Mit langen, behaarten Fingern grapschte er nach dem Siegel, das ihm am nächsten war. Falls es ihm gelang, es zu erreichen und zu zerreißen, bot sich ihm vielleicht die Möglichkeit zur Flucht, weil ihn die Siegel viel wirksamer festhielten als der Käfig.

Er erstarrte, als er bemerkte, dass ich ihn mit offenem Mund angaffte. »Was is’?«

Ich schloss die Tür hinter mir. »Was machst du denn hier?«

»Ich sitze in einem Käfig, spannst du das nich’? Du musst ja ’n wahrer Ausbund schottischer Intelligenz sein. Kann doch nirgends anders sein, wenn ich nich’ frei bin, du verschimmeltes Genie. Aber wenigstens kannst du mich sehen und hören. Die Schnepfe vorhin hat voll an mir vorbeigeglotzt.«

»Nein, ich meine, warum hat er dich in einen Käfig gesperrt?«

Der Bursche schien kein irgendwie besonderer Hobgoblin zu sein, dessen Gefangennahme oder Studium sich gelohnt hätte. Er war klein und haarig, und sein Gesicht wurde geprägt von einem kantigen Kinn, einer fleischigen Nase und Augenbrauen, die unbeschnittenen Hecken ähnelten. »Er is’ ein ganz gemeiner Schweinehund, deswegen. Oder war. Er is’ hin, oder? Woran is’ er denn gestorben?«

»An einem Rosinenscone.«

»Dann war’s also Selbstmord.«

»Nein, ein Unfall.«

»Er hat das Rosinenscone doch wohl nich’ zufällig gegessen, oder? Also war es Selbstmord.«

Achselzuckend räumte ich die Möglichkeit ein. »Und wer bist du?«

»Ich bin der glückliche Hob, den du jetzt befreien wirst. Außer du bist genauso wie er.«

»Ich bin nicht wie er. Das fängt schon mal damit an, dass ich noch lebe. Du antwortest jetzt ehrlich auf meine Fragen, Schluss mit dem Rumgerede. Wer bist du, und warum hat dich Gordie hier gefangen gehalten?«

»Wollte mich verkaufen, hat er gesagt. Er is’ ein Feenhändler, ja, das is’ er. Oder er war’s zumindest.«

»Unsinn.« Ich pochte mit dem Stock auf den Boden. »Raus jetzt mit der Sprache!«

Der Hobgoblin richtete sich so gerade auf, wie es in dem Käfig ging – er war nur ungefähr sechzig Zentimeter groß – und legte die rechte Hand aufs Herz. Dann verwendete er die Formulierung, mit der alle Feenwesen zum Ausdruck brachten, dass sie die Wahrheit sprachen: »Ich sag’s dir dreimal, Mann. Er hat einen Käufer. Heute Abend sollte ich geliefert werden. Und ich bin nich’ der Erste, den er verkauft. Vor zwei Tagen war eine Pixie hier, is’ aber nich’ lang geblieben.« Er deutete auf einen etwas kleineren Käfig neben seinem.

Diese Auskunft war für mich sogar noch schockierender als Gordies Tod. Von den vielen Schülern, die mir weggestorben waren, hatte keiner sein Wissen über Siegel benutzt, um mit Feenwesen zu handeln. Das Beseitigen der Tinten und Füllfedern meiner alten Schüler war immer eine traurige Pflicht gewesen, weil sie als reine Seelen dahingegangen waren, die nur Gutes hatten tun wollen. Die Situation hier jedoch legte den Schluss nahe, dass man Gordie nicht zu diesen Seelen zählen konnte. Feenhandel? Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es so was gab.

»Aber … wir sollen deinesgleichen doch zurück in die Feengefilde verfrachten, sobald ihr euch hier zeigt.«

»Wir, sagst du? Dann bist du also wirklich wie er. Bloß mit einem affigen Dandy-Schnurrbart, schön gewachst.«

Ich musterte ihn und überlegte, wie ich reagieren sollte. Von nackter Aggression hielten Hobgoblins nicht viel. Dafür hatten sie diesen jungenhaften Humor, den auch ich ins Spiel bringen konnte, wenn es die Situation erforderte. »Er ist nicht affig. Er ist üppig und voluminös, genau wie deine Ma.«

Der Hobgoblin gackerte los, und ich bemerkte, dass er auffallend weiße und gerade Zähne hatte. An einem Trugzauber konnte es nicht liegen, weil mein Blick noch geschirmt war. Also hatte er sie sich herrichten lassen. Seit wann zahlten Hobgoblins für kosmetische Zahnbehandlungen? Auch seine Kleidung war bemerkenswert. Trotz meiner farblich eingeschränkten Sicht konnte ich erkennen, dass er ein Paisley-Wams mit einer Kette trug, die offenbar zu einer Uhr in seiner Tasche führte. Darunter kein Hemd. Auf die rechte Schulter war eine Triskele tätowiert, wie man sie mit Druiden assoziierte. Schwarze Jeans und klobige schwarze Stiefel. Vielleicht war er doch kein ganz gewöhnlicher Hobgoblin.

Seine Augen glitzerten amüsiert. »Komm schon, Alter. Lass mich raus.«

»Gleich. Du hast mir noch immer nicht deinen Namen verraten.«

»Wozu? Willst du mir zum Julfest Blumen schicken?«

»Ich muss dich binden, damit du auch ganz sicher verschwindest.«

»Aber dann kannst du mich in Zukunft für alles andere binden, was dir einfällt. Diese Macht werde ich dir nich’ geben. Meine aktuelle Lage hat mich ein bisschen misstrauisch gemacht.«

»Und ich kann keinen Hobgoblin in einem Zimmer voller Bindetinten freilassen. Weißt du vielleicht, wer dich kaufen will? Oder warum?«

Der Hobgoblin schüttelte den Kopf. »Nein. Bloß dass dein kleiner Gordie da drüben einen Stoß Papiere hatte, in denen er immer rumgekramt und dazu vor sich hin gemurmelt hat. Die Schnepfe hat einen Blick drauf geworfen und gesagt, alles Quatsch. Aber vielleicht kann ein alter Knacker wie du mehr damit anfangen. Siehst aus, wie wenn du mal zur Schule gegangen wärst, als deine Haare noch nich’ so weiß waren wie Lilien.«

Ich trat zur Werkbank und überflog die Papiere darauf. Offenbar hatte Gordie hier Siegel zum späteren Gebrauch vorbereitet. Leider entdeckte ich keine hilfreiche Erklärung seiner geschäftlichen Angelegenheiten. Möglicherweise hatte der Hobgoblin sich das alles bloß ausgedacht – irgendwie hoffte ich das sogar, denn andernfalls war Gordie tatsächlich ein gemeiner Schweinehund gewesen und ich ein kompletter Idiot. Fest stand auf jeden Fall, dass mein Schüler in diesem Zimmer ziemlich beeindruckende Siegelarbeiten ausgeführt hatte. Arbeiten, die eigentlich seine Fähigkeiten überstiegen. Es gab Siegel, die ich ihm noch gar nicht beigebracht hatte – zum Beispiel das der Eisengalle. Dass er offenbar Geheimnisse vor mir gehabt hatte, machte mir nichts aus, weil das bei Schülern ganz normal war. Viel mehr Sorgen bereitete mir, dass ihn offenkundig jemand hinter meinem Rücken unterrichtet hatte.

»Ich glaub, ich weiß jetzt, wer du bist«, meinte der Hobgoblin hinter mir. »Da läuft doch angeblich so ein schottischer Siegelagent mit gewachstem Schnurrbart rum. Heißt du zufällig MacNärrisch oder so?«

»MacBharrais.«

»Ah, also hab ich recht. Hab gehört, dass du ein schlaues Kerlchen bist. Andererseits, wenn du dir von diesem Wichser Gordie auf der Nase rumtanzen lässt, dann bist du vielleicht doch nich’ ganz so schlau, oder, Kumpel?«

Vielleicht. Auf einem Kritzelblock hatte Gordie vor dem Zeichnen der Siegel mit Strichen den Tintenfluss überprüft. Dort war notiert: Renfrew Ferry, 20:00 Uhr.

»Du sagst, du hättest heute Abend abgeliefert werden sollen? Um acht vielleicht?«

Statt einer Antwort hörte ich ein Ächzen und das Zerreißen von Papier. Ich drehte mich um und sah einen triumphierenden Hobgoblin, der sich gerade aus dem Käfig befreite, nachdem er eins der Siegel zur Schwächung seiner Magie zerstört hatte. Eigentlich war das ein Ding der Unmöglichkeit, weil er von mehreren Siegeln dieser Art umringt war. Anscheinend war die Kraft aus der Tinte gewichen. Im Grunde kein Wunder, da Gordie tot war und nicht mehr aufpassen konnte.

Kichernd und mit blitzenden weißen Zähnen sprang der Hobgoblin vom Tisch und sauste zur Tür. Ich war schlecht postiert und viel zu langsam; ich hatte nicht einmal mehr Zeit, ein vorbereitetes Siegel der Agilen Grazie anzuwenden.

»Bis später, MacNärrisch!« Er flitzte durch die Tür. Kurz darauf hörte ich ein Klatschen und Schreie, gefolgt von dem Ausruf: »Bin froh, dass du tot bist!«, bevor sich in der Küche schockiertes Schweigen ausbreitete. Viel zu spät trat ich aus dem Zimmer und bemerkte Inspector Munro und den Forensiker, die auf dem Boden hockten und sich die Nase hielten. Der Hobgoblin war aus reinem Spaß herumgehüpft und hatte die Fäuste fliegen lassen. Gordies Leiche hatte offenbar einen Tritt eingesteckt und lag jetzt völlig verdreht da. In seinem Gesicht malte sich starres Staunen über sein plötzliches Ende. Sein Haar war zerstrubbelt, und er hatte mehrtägige Stoppeln an Hals und Wangen. Die blauen Augen hatte er weit aufgerissen – vielleicht vor Entsetzen, weil man ihn tot in seinem Ewok-Schlafanzug auffinden würde.

»Das glaub ich jetzt nicht!«, rief Inspector Munro. »Was war das denn gerade? Ein rosa Leprechaun?« Außerhalb von Gordies Tintenzimmer hatte sie den kleinen Scheißer mühelos ausmachen können.

Dank meiner eingeschränkten Sicht war mir seine Hautfarbe natürlich entgangen, also merkte ich mir diese Information zur späteren Verwendung. Munros Blick fiel auf mich, und in ihren Augen blitzte Zorn auf, als sie sich erhob. Jetzt stürmte auch noch der Constable herein, der sich ebenfalls die Nase hielt. All diese Leute störten mich hier, weil ich dringend Gordies gesamte Wohnung auf Spuren und Hinweise untersuchen musste.

Bevor sie sich auf mich stürzen konnten, zückte ich den »offiziellen« Ausweis und verpasste ihnen die volle Breitseite. »Diese Wohnung muss sofort geräumt werden! Sie verschwinden jetzt und kommen morgen wieder. Das ist ein Befehl. Los! Arbeitet an was anderem!«

Unter dem Eindruck der Siegel verkrümelten sie sich. Wahrscheinlich würden sie schon bald wieder auftauchen, wenn ihnen einfiel, dass jemand sie auf die Nase geboxt hatte und dass sie Antworten wollten. Davor musste ich meine Antworten schon gefunden haben.

Gordie hatte mich gewissermaßen im Halbschlaf überrumpelt – aber jetzt war ich hellwach.

2

Erster Punkt auf der Tagesordnung

Nachdem die Polizei verschwunden war, musste ich ununterbrochen blinzeln, und nach ein paar Sekunden wurde es richtig nervig. Wahrscheinlich eine instinktive Reaktion, der Versuch, wieder einen klaren Blick zu bekommen, nachdem man mich so offensichtlich aufs Kreuz gelegt hatte. Außerdem zeigte es mir, dass in meinem Kopf alles drunter und drüber ging. Keine guten Voraussetzungen für eine besonnene Analyse der Situation. Also zog ich meinen Mantel aus – ein langes, lohfarbenes Kleidungsstück, das mir einen noblen und gepflegten Anstrich verlieh, auch wenn es darunter etwas unordentlicher zuging –, stellte meinen Stock ab und ließ meine alten Knochen mühsam auf das Parkett sinken. Als ich saß, zog ich ohne Rücksicht auf die jammernden Knorpel die morschen Schenkel mit den Armen in die Lotusposition. Dann konzentrierte ich mich ganz auf meinen langsamen Atem, bis alle Hektik von meinem Verstand abfiel. Meditation bewirkte wahre Wunder für mich, die mit Siegeln nicht erreichbar waren: eine andere Methode zum Hacken des Gehirns.

Ruhig und bereit für die vor mir liegende Arbeit, erhob ich mich unter leisem Ächzen und nahm mir die Freiheit, das Knacken und Krachen in meinen Gelenken als Zeichen besonderer Charakterstärke zu deuten. Auf dem Handy schaute ich nach der Uhrzeit: 14:45. Nadia war also noch im Dienst. Über die Signal-App schickte ich ihr knappe Anweisungen:

Notsituation in Gordies Wohnung an der St. George’s Road. Du musst sofort kommen.

Ich trat über den Toten zur Küchenspüle und öffnete den Schrank darunter. Dort erwartete mich ein Abfalleimer voller Sardinenbüchsen – Gordies beklagenswerte Vorliebe, wegen der er ständig nach Fisch stank – und daneben eine Packung Müllbeutel. Der Geruch erinnerte mich an meinen ersten Schüler Fergus, der ebenfalls eine Schwäche für Sardinen gehabt hatte. Ich spürte ein Ziehen in der Brust und ein Kitzeln in den Augenwinkeln. Man musste nur lang genug leben, dann holten einen die Menschen aus der Vergangenheit wieder ein, Jahre nachdem sie einen zurückgelassen hatten.

Ungeduldig wischte ich mir die Augen und steuerte mit mehreren Beuteln auf das Arbeitszimmer zu. In diesem Moment vibrierte in meiner Tasche das Telefon mit einer Nachricht von Nadia. Hab heute frei. Wenn ich wegen dir zu spät zur Hochzeit meines Bruders komme, lass ich mir deine Eier braten und mit Mayo servieren.

Ich zuckte zusammen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie nicht in der Arbeit war. Ihre Wohnung lag nicht allzu weit entfernt – ganz in der Nähe der Subway-Station Kelvinbridge –, bloß mit dem Verkehr war das immer so eine Sache. Dann drück auf die Tube, schrieb ich mit den Daumen. Die Frau, die er heiratet, magst du doch sowieso nicht.

Stimmt. Und von mir aus kann sie mit ihrem Wackelpo bei einem Betriebsunfall ins Gras beißen. Aber ich liebe ihn, verstehst du?

Schreib nicht beim Fahren. Du fährst doch schon, oder?

Ich rasier dich so glatt wie einen Delfin!

Ich runzelte die Stirn. Damit drohte mir Nadia nur, wenn sie ernsthaft erbost war. Zum Glück hatte sie bisher noch nie mit ihrem Rasiermesser vor meinem Gesicht herumgefuchtelt, und ich wollte ihr auch nicht das Gefühl vermitteln, dass es dafür allmählich Zeit wurde.

Setz den Hut auf, den ich dir zum Täuschen der Kameras gegeben habe.

Genau. Mach dich schon mal auf eine nackte Oberlippe gefasst.

Ich musste davon ausgehen, dass sie Gordie gemocht hatte und die Nachricht schwer aufnehmen würde. Auch ich hatte ihn gemocht, bis ich vor ein paar Minuten erfuhr, dass er das von mir Gelernte benutzt hatte, um andere auszubeuten und sich zu bereichern.

Im Arbeitszimmer vernichtete ich zuerst Gordies sämtliche Siegel. Ich riss sie in der Mitte durch und stopfte die Fetzen in einen Beutel. Danach konnte ich endlich das Siegel der Geschirmten Sicht deaktivieren und sah wieder normal. Für alle Fälle notierte ich jedoch in einer App auf meinem Telefon, welche Siegel er ohne meine Hilfe geschaffen hatte. Auf dem ganzen Planeten gab es außer mir nur vier Leute, die ihm das beigebracht haben konnten, und ich hatte vor, sie mir ordentlich zur Brust zu nehmen.

Als Nächstes trat ich an das Regal mit Fächern und räumte sie rücksichtslos leer, eins nach dem anderen, bis zum letzten verschlossenen, sorgfältig etikettierten Fläschchen Tinte. Diese Tinten – in deren Herstellung ich ihn nie unterwiesen hatte – passten zu den Siegeln, die eigentlich seine Kenntnisse überstiegen. Ich machte mir keine Sorgen, dass die Fläschchen Schaden nehmen könnten, als ich sie in den Beutel kippte. Sie waren aus dickem Glas und gingen nur zu Bruch, wenn man es wirklich darauf anlegte.

Auch sein Vorrat an Tinteningredienzen ging weit über das hinaus, was sich in seinem Besitz hätte befinden dürfen. Mit Sicherheit hatte er nicht die Befugnis zum Sammeln von Ganglien des Gemeinen Perlboots für Manannans Tinte gehabt und auch nicht die Zeit zum Suchen von Bananenschneckenschleim für eine äußerst rare Tinte namens Zinnoberbart. Und wie bei den neun Höllen war er überhaupt an Ganglien des Gemeinen Perlboots herangekommen? Nicht einmal ich hatte davon einen Vorrat! Wenn er sie von jemandem bezogen hatte, musste ich wissen, von wem. So oder so, der Kauf dieser Sachen hatte sicher einiges gekostet, und das Geld stammte sehr wahrscheinlich aus dem Feenhandel. Man musste damit irrsinnige Summen verdienen können, sonst wäre er das Risiko nicht eingegangen. Die robusten Ingredienzenbehälter verschwanden im nächsten Beutel.

Auch die Füllfedern und diversen Tintenfläschchen auf der Werkbank sackte ich ein, während ich darüber nachsann, wo er wohl das Geld aus dem illegalen Handel versteckt hatte. Da war wohl eine genaue Buchprüfung fällig – höchstwahrscheinlich auch mit Hackermethoden. Im Schlafzimmer stopfte ich Gordies Notebook, Telefon, Ladegeräte und zwei USB-Sticks in einen Beutel, dazu Notizbücher, Korrespondenz und Schriftstücke von seiner Hand.

Zum Glück kannte ich jemanden, der bereit war, das erforderliche Hacken im Austausch gegen einige Siegel zu übernehmen: ein absolut durchgeknallter, aber ansonsten zuverlässiger Typ, der unter dem absonderlichen Pseudonym Saxon Codpiece auftrat. Ich war mir nicht sicher, ob er die Siegel später für enorme Summen weiterverkaufte oder sie zum eigenen Gebrauch behielt. Für alle Fälle achtete ich immer darauf, dass ich ihm nur harmlose Stücke überließ.

Dass Nadia eingetroffen war, merkte ich, als ich sie am Eingang fluchen hörte.

»O nein, Al, du hast schon wieder einen verloren? Der arme Gordie! Was ist denn diesmal passiert … Ach du Scheiße, Rosinen! Was für eine sinnlose Art, den Löffel abzugeben.«

Normalerweise hüllte sie sich in eine Sinfonie aus Schwarz. Dazu gehörten ein Lippenstift mit dem fröhlichen Markennamen Vaters Asche und ein Nagellack, der Satans Schwärzestes Loch hieß, wie sie mir glaubhaft versichert hatte. Doch heute trug sie die farbenprächtigen Kleider und Schmuckstücke einer traditionellen indischen Hochzeitsfeier mit Sari, Sandalen und allem Drum und Dran. Ihr Haar – üblicherweise in der Mitte zu Stacheln frisiert und an den Seiten abgeschoren – war kunstvoll an den Schädel geklebt, um die rasierten Flächen zu bedecken, und darüber hinaus mit einem edelsteingeschmückten Kopfputz in Form einer Schwimmmütze getarnt. Beim Schminken hatte sie sich nicht mit Lidstrich begnügt, und sogar Lippen und Fingernägel waren knallrot bemalt. Letzteres ging ihr offenbar am meisten auf den Wecker, denn ihr Blick folgte meinem zu dem Hut in ihrer Hand, den sie auf meine Anweisung hin beim Betreten des Gebäudes aufgesetzt hatte.

»Kein Wort über meine Nägel, Al. Oder über sonst was. Ich liebe meinen kleinen Bruder, das ist der einzige Grund für das ganze Zeug. Ich muss die Familie seiner Braut überzeugen, dass ich total normal bin und nichts mit okkulten Sachen am Hut habe. Außerdem tue ich so, als ob sich mein Uterus verzweifelt nach einer neunmonatigen Belegung mit dem Sperma irgendeines Kerls sehnt und ich im Moment bloß zu beschäftigt für so was bin. Alles klar?«

Ich nickte und öffnete die App, die Schrift in Sprache umsetzte. Nadia hatte mich in den zehn Jahren ihrer Tätigkeit als meine Managerin kaum laut reden hören, weil ich wegen des auf mir lastenden Fluchs nicht lange mit Menschen sprechen konnte, wenn ich die Beziehung zu ihnen aufrechterhalten wollte. Schon nach wenigen Tagen hätten sie angefangen, mich zu hassen, und ihr Groll wäre mit jeder weiteren Äußerung von mir immer stärker gewachsen.

Ich kann wahrlich ein Lied davon singen, wie schrecklich es ist, auf diese Weise die eigene Familie zu verlieren.

Bevor ich erkannte, was mir widerfahren war, hatten sich mein Sohn und die meisten meiner Freunde mit mir entzweit. Zuerst führte ich das einfach auf meine Unausstehlichkeit zurück. Doch dann sagte ich mir, dass die Schotten schon viel Schlimmeres als mich ertragen hatten und dass da noch ein anderer Faktor im Spiel sein musste. Eine befreundete Hexe in den Highlands erkannte schließlich, dass ich mit einem Fluch belegt war, konnte ihn aber weder vertreiben noch seinen Urheber bestimmen. Inzwischen wusste ich, dass ich den meisten Leuten gegenüber stumm bleiben musste, solange der Fluch nicht von mir genommen wurde.

Die App verfügte nicht über einen Glasgower Akzent. Immerhin gab es eine Londoner Sprechweise, sodass ich wenigstens klang wie ein Brite.

[Danke fürs Kommen], sagte die App für mich in ihrer leicht gespreizten Diktion. [Du musst Gordies Tinten und sein anderes Zeug an einen sicheren Ort bringen, dann kannst du zur Hochzeit deines Bruders fahren. Wir sehen uns morgen. Dann können wir reden.]

»Mist.« Sie kniff sich in den Nasenrücken, wie um aufziehende Kopfschmerzen abzuwehren. »Also schön, wo ist der Scheiß, den ich verstauen soll?«

Ich reichte ihr die Beutel und nickte ihr dankbar zu.

»Dafür will ich eine Gehaltserhöhung, Al.«

Meine Daumen flogen über das Display des Telefons, dann redete wieder die Stimme der App. [Okay, morgen der erste Punkt auf der Tagesordnung.]

Ihre Augen leuchteten entschlossen auf, und sie legte mit zwei Fingern und erhobenem Daumen auf mich an. »Erster Punkt auf der Tagesordnung.«

Sie wusste es nicht, aber sie konnte so gut wie alles von mir verlangen. Sie hütete meine Geheimnisse, führte die Bücher meiner Druckerei und verpasste jedem, der es nötig hatte, einen Tritt in den Arsch. Mit anderen Worten, sie war die perfekte Managerin und nicht selten sogar mein Chef.

Nachdem Nadia gegangen war, musste ich mir nur noch den Computer, das Handy und die Papiere schnappen, die leicht in einer Umhängetasche Platz hatten. Ach ja, und da waren auch noch die zwei Käfige, mit deren Hilfe es vielleicht möglich war, die Pixie oder den Hobgoblin aufzuspüren. Beide konnte ich nicht mitnehmen, und ich bezweifelte, dass ich vor der Rückkehr der Polizei die Gelegenheit zu einem weiteren Beutezug haben würde. Also entschied ich mich für den Käfig des Hobgoblins, weil der – zumindest vor wenigen Minuten – noch gelebt hatte. Das Schicksal der Pixie hingegen war ungewiss.

Bevor ich aufbrach, stellte ich mich vor Gordie und sprach die reglose Gestalt laut an, weil es jetzt keine Rolle mehr spielte. »Also, ich zieh jetzt los, weil ich rausfinden muss, wie groß der Kackhaufen ist, den du hier hinter meinem Rücken hinterlassen hast. Bestimmt werde ich bald jede Menge Gründe haben, deinen Namen zu verfluchen. Trotzdem möchte ich dir eins mitgeben, Gordie, falls dein Geist hier noch irgendwo rumlungert. Diesen Tod hätte ich dir nie im Leben gewünscht. Sich ganz allein an einem Rosinenscone zu verschlucken, in dem Wissen, dass es keine Hilfe gibt und dass du in der nächsten Minute ersticken wirst – das ist wirklich grauenvoll, und es tut mir unendlich leid. Vielleicht werde ich dir wünschen, dass du in der Hölle schmorst, nachdem ich rausgefunden habe, was du getrieben hast, aber jetzt hoffe ich erst mal, dass du deinen Frieden gefunden hast.«

Mit einem endgültigen Klacken, das durch den Gang hallte, schloss sich die Tür zu seiner Wohnung, und ich musste mir erneut die Augen wischen. Solche Momente – die erdrückende Stille nach dem Tod, wenn mir klar wurde, dass ich wieder mal ein wenig einsamer auf der Welt war als zuvor – trafen mich immer schwerer als die erste Nachricht.

Sieben Schüler, verdammt noch mal.

3

Sei kein John MacKnob

Hamlet hatte recht mit seiner Bemerkung an Horatio, dass es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt, als seine Schulweisheit sich träumte. Zum einen gab es weit mehr Gefilde als nur Himmel und Erde. Die Feengefilde, die nordischen Gefilde, die Gefilde aller erdenklichen Pantheons … In ihnen wimmelte es nur so von Geschöpfen, Geistern und Gottheiten, die sich über ihre Rechte im Hinblick auf Besuche der Erde orientieren mussten. Als Faustregel galt, dass die menschlichen Verantwortlichen sie überhaupt nicht auf der Erde haben wollten, weil das die Vorstellung erschüttert hätte, dass die Menschen das Sagen hatten. Diese Position hatte seit Jahrhunderten Bestand, wir mussten uns also nicht mit jeder neuen Regierung beraten. Wenn es dennoch zu Besuchen von Wesenheiten aus anderen Gefilden kam, sollten diese beaufsichtigt oder zumindest überwacht werden.

In umgekehrter Richtung traf das in noch viel stärkerem Maße zu. Menschen, die sich durch Zufall oder durch ein missglücktes arkanes Ritual in andere Gefilde verirrten, kehrten nur selten zurück. Sie brauchten einen Führer und eine Erlaubnis.

Mit dem Internet ging es mir ganz ähnlich. Ich betrachtete es ebenfalls als eine Art Gefilde, weil es dort haufenweise Regeln gab und man nicht ohne einschlägige Kenntnisse darin herumpfuschen sollte. Selbst wenn man dort nur einkaufte oder Selfies postete, musste man damit rechnen, dass diese Aktivitäten verfolgt und dass persönliche Daten abgeschöpft und verkauft wurden. Wer einen Fuß in die Hölle geschützter Daten setzen wollte, konnte auf einen Hacker genauso wenig verzichten wie Dante auf Vergil.

Als ich Nadia vor einigen Jahren mitteilte, dass ich einen Hacker benötigte, meldete sie sich erst nach mehreren Tagen zurück. Dafür hatte sie einen Namen, eine Uhrzeit und einen Treffpunkt.

»Saxon Codpiece, Mittag, im Tchai-Ovna.«

[Er heißt wirklich …]

»Saxon Codpiece. Er mag es, wenn man beide Namen wie einen eigenen Ausruf betont, als wäre er ein Superheld oder so eine Comicfigur. Wie Saxonnn! Codpiece! Wenn du das machst, hast du gleich einen Stein im Brett bei ihm.«

[Ist er wegen irgendwas in Behandlung?]

»Keine Ahnung. Bin ihm nie begegnet. Ist wahrscheinlich bloß eine absurde Nummer, damit die Leute glauben, das kann’s ja gar nicht geben, weil es so lächerlich ist.«

[Aha. Ich dachte immer, Hacker haben Namen mit Zahlen oder so was in der Art.]

»Das ist, wie wenn man ein schnelles rotes Auto fährt und sich trotzdem nicht von der Polizei erwischen lässt. Dieser Typ ist langfristig im Geschäft. Geh einfach hin. Er ist nicht gefährlich.«

Der Mann, der hinten im Tchai-Ovna aufragte – einer tschechischen Teestube in der Nähe der Universität, der ständig Abriss und Sanierung drohten –, war volle zwei Meter groß. Drahtig und dunkelhaarig mit braunen Augen. Er trug, was die Jungen heute als Vintage und ich als Kleider bezeichneten. Damit meine ich die Punkkluft der Siebziger, auf die ich gestanden hatte, als ich jung war: zerrissene Jeans, Sicherheitsnadeln und jede Menge Reißverschlüsse und Knöpfe an der Lederjacke. Nach seiner Blässe zu urteilen, litt er unter einem chronischen Vitamin-D-Mangel, den er mit grellen Tattoos von den Handgelenken bis hinauf über die Arme überspielte. Die Unterseite seiner Nase war rot, und er wischte schniefend mit einem Taschentuch darüber.

»Bin erkältet, tut mir leid.« Ohne Aufforderung faltete er sich in einen Stuhl und verzichtete zum Glück darauf, mir die Hand anzubieten. »Alle Systeme sind anfällig gegen Viren, hm?« Er fixierte mich, und ein Mundwinkel wanderte nach oben. »Fantastischer Schnurrbart, Kumpel. Al, richtig?«

»Genau.«

»Voll der Wahnsinn. Ach so, hier meine Karte.« Er legte mir eine weinrote Visitenkarte hin und tippte zur Betonung zweimal darauf. Es waren nur zwei Zeilen in Großbuchstaben ohne Serifen, die untere deutlich kleiner.

SAXON! CODPIECE!

PROFESSIONELLER WICHSER

Ich lachte. »Dann sind wir anderen also bloß Amateure?«

»Wenn du nicht dafür bezahlt wirst wie ich, bist du ein Amateur.«

»Du musst dich in den dunkelsten Winkeln des Internets rumtreiben.«

»Gelegentlich, ja. Aber ich verbringe auch viel Zeit mit harmlosen Sachen. Katzenvideos, weißt du. Ausgewachsene blökende Ziegen, tanzende Ziegenbabys und Ziegen überhaupt sind ohne Ende unterhaltsam. Das verjüngt die Seele.«

»Schön. Bist du auch diskret?«

»Wegen dem Gewichse? Nein, eigentlich bin ich alles andere als diskret. Ich filme es und erziele damit ein ansehnliches Einkommen, weil ich einen ziemlich ansehnlichen …«

»Nein, nein, nein. Klappe jetzt. Deswegen bin ich nicht hier. Ich meine, bist du diskret, was deine Kunden und die Informationen angeht, auf die du stößt?«

»Ach so. Ja, absolut. Glückwunsch, du hast den Test bestanden.«

Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich einen Test ablegte. Jetzt, da ich ihn schon bestanden hatte, musste ich mir deswegen jedenfalls keine grauen Haare mehr wachsen lassen. Wir wandten uns der Angelegenheit zu, deren Erledigung mir am Herzen lag. Er regelte die Sache schnell und gut, und ich bezahlte ihn auf gleiche Weise. Bei unserem zweiten Treffen im Tchai-Ovna bot ich ihm eine andere Art von Vergütung an, denn er hatte gefragt, womit ich meinen Lebensunterhalt bestritt.

Ich erklärte es ihm. »Offiziell führe ich eine Druckerei an der High Street. In Wirklichkeit bin ich ein Siegelagent.«

»Was bist du?«

»Das ist so wie bei deinem Geschäft. Offiziell bist du ein Wichser im Internet. Doch in Wahrheit bist du ein Hacker.«

»Klar, aber ich wollte wissen, was ein Siegelagent ist.«

»Ich schreibe und vollstrecke magische Verträge mit Siegeln. Das sind mit Macht gesättigte Symbole, die zu bemerkenswerten Dingen fähig sind. Soll ich es dir vorführen?«

»So ähnlich wie Kartentricks?«

»Nein, ich meine so was.« Ich zog ein vorbereitetes Siegel der Unumstrittenen Autorität aus der Jacke, erbrach es und hielt ihm das Zeichen vor die Nase, nachdem ich die Klappe hochgeschoben hatte. Er zuckte zusammen und schluckte. Dann verlangte ich, dass er mir alles Geld in seiner Brieftasche aushändigte. Er hatte ungefähr fünfhundert Pfund bei sich. Beeindruckend.

Ich ließ es auf dem Tisch liegen. »Danke.«

»Selbstverständlich, Sir.« Nach ungefähr zehn Sekunden fing Saxon an zu blinzeln. »Hey, warum nenne ich dich Sir? Das habe ich seit meiner Kindheit zu niemandem mehr gesagt.«

»Ich habe ein Siegel benutzt, damit du einen Befehl befolgst. Es gibt viele Siegel mit ganz unterschiedlichen Wirkungen. Dieses hier kommt für dich nicht in Frage, weil es zu leicht missbraucht werden kann, wie du gerade am eigenen Leib erfahren hast. Es sollte nur beweisen, dass ich dir neben Geld noch was anderes zu bieten habe. Bitte steck deins wieder ein. Es ist alles noch da.«

Schnell sammelte er es auf und schob es wieder in die Brieftasche. Mit einem Lächeln schüttelte er den Kopf. »Der volle Hammer, Mann. Wenn ich es nicht selbst gerade erlebt hätte, würd ich es nicht glauben. Ich sage nie Sir zu Leuten, und Geld verschenke ich schon zweimal nicht. Echt krass. Wollte schon immer mal einen Hexer kennenlernen.«

»Ich bin kein Hexer, auch wenn ich oft so bezeichnet werde. Ein verbreitetes Missverständnis.«

»Wie kommt es, dass ich noch nie was von dieser Siegelgeschichte gehört habe?«