oder die beste aller Welten
So rechte Lust hatte freilich Candide eben nicht, Kunegunden zu heuraten, indes hatte er sein Wort einmal gegeben, Kunegunde drang so heftig in ihn, und der ausserordentliche Baurenstolz des Barons verdros ihn so sehr, daß er den festen Entschlus fasste, die Heurat zu vollziehen. Vorher pflag er mit Panglosen, Martinen undKakambo'n geheimen Rat.
Panglos verfertigte einen gar stattlichen Aufsaz, worin er bewies, daß dem Baron keine Gerechtsame über seine Schwester zustünden, und daß sie nach allen Reichsgesezen sich Candiden konnte an die linke Hand trauen lassen. Martin stimmte dahin, daß der Baron sollte in's Meer geworfen werden. Kakambo that den Ausspruch: Man müsse ihn wiederum dem Levantifahrer überantworten, eine Zeitlang an die Ruderbank schmieden, und dann mit dem ersten, besten Schiffe nach Rom an den Pater General schikken.
Diesem Gutachten ward einstimmig beigetreten; die Alte billigte es auch, wie sie's erfuhr; vor Kunegunden ward's verheimlicht. Mit etlichen Dukaten war das Projekt ausgeführt, und man hatte die Freude, einen Jesuiten zu überlisten, und einen ahnenstolzen Gauch zu bestrafen.
Verheuratet mit seiner Trauten, umgeben vom Philosoph Panglos, und Philosophen Martin, vom klugen Kakambo, und der weisen Alten, und überdies im Besiz so vieler Diamanten, die er aus dem Vaterlande der alten Inkas mitgebracht, hätte man glauben sollen, daß Candide das wonnigste Leben von der Welt führen müsste. Gewaltig geirrt! Die Juden hatten ihn so vielfältig geprellt, daß er weiter nichts übrig behielt, als sein Vorwerkchen; seine Frau ward täglich häslicher, und zugleich zänkisch und unleidlich; die Alte kränkelte in Einem fort, und war noch üblerer Laune, wie Kunegunde; Kakambo, der im Garten arbeitete, und die Hülsenfrüchte nach Konstantinopel herein zum Verkauf trug, arbeitete und plakte sich ganz ab, und vermaledeite sein Schiksal. Panglos war voll des bittersten Unmuts, daß er nicht als Professor Metaphysices ac Poëseos auf irgend einer Universität seines lieben Vaterlands glänzen konnte. Martin nahm alles, was ihn traf, gelassen dahin, in der festen Überzeugung, daß allenthalben Elend und Unglük herrsche.
Candide, Martin und Panglos disputirten manchmal über Säze aus der Metaphysik und Moralphilosophie. Unter ihren Fenstern passirten sehr oft Schiffe vorbei, die mit Effendis, Bassas, Kadis beladen waren, welche nach Lemnos, Mytilene und Arzerum in's Elend geschikt wurden. Es kamen frische Bassas, frische Kadis, frische Effendis wieder, welche an den Plaz der Vertriebnen traten, und nicht lange darauf wieder daraus vertrieben wurden. Es schiften gar wohleinballirte Köpfe vorbei, die der hohen Pforte überreicht werden sollten.
Diese abwechselnde Auftritte gaben immer neuen Stof zu neuen lebhaften Abhandlungen; wenn sie sich aber ausdisputirt hatten; herrschte eine so unausstehliche Langeweile unter ihnen, daß die Alte sich eines Tages unterstand, folgende Frage aufzuwerfen: Ich möchte wohl wissen, was schlimmer ist, hundertmal von Morischen Seeräubern geschändet zu werden, sein halbes Hinterkastell sich abnehmen zu lassen, bei den Bulgaren Spiesruten zu laufen, bei einem Autodafé gestäupt und aufgehängt zu werden, sich seziren zu lassen, als Sklav auf den Galeeren zu rudern, kurz all' das Elend auszustehn, das wir insgesamt erlitten haben, oder sein ganzes Leben, die Händ' im Schoosse, so hier zuzubringen. Eine wichtige Frage! sagte Candide.
Diese Frage brachte neue Betrachtungen auf die Bahn, und Martin zumahl nahm Anlas hieraus zu folgern, der Mensch sei dazu geboren, sein Leben entweder in beständigen, krampfartigen Regen und Bewegen zuzubringen, oder in der unthätigsten, schlaraffenhaftesten Langenweile.
Candide war ganz andrer Meinung, die er aber nicht äusserte. Panglos räumte zwar ein, er habe stets das gräslichste Elend erduldet; verfocht aber demungeachtet sein einmal angenommnes System: Diese Welt ist doch die beste, auf's eifrigste, ohn' im geringsten daran zu glauben.
Jetzt eräugnete sich ein Vorfall, der Martinen völlig in seinen verdammlichen Grundsäzen befestigte, Candiden schwankender machte, denn je, und Panglosen nicht wenig in die Klemme trieb. Eines Tages kam nämlich Gertrud mit dem Bruder Viola in ihren Hof gewandert. Sie waren beide im äussersten Elende. Die dreitausend Piaster hatten sie über Hals über Kopf durch die Gurgel gejagt, sich darauf getrennt, wieder ausgesöhnt, von neuem überworfen, im Gefängnis gesessen, sich daraus geflüchtet, und endlich war Bruder Viola Türke geworden. Wo sie hingekommen waren, da hatte Gertrud ihr Handwerk fortgesezt, ohne damit was vor sich bringen zu können.
Ich sah's wohl voraus, daß Ihre Geschenke bald zerrinnen, und daß die Leute unglüklicher werden würden, denn zuvor, sagte Martin. Sie und Ihr Kakambo hatten Piaster zu Scheffeln, und waren deshalb doch nicht glüklicher, wie Bruder Viola und Gertrude. Haha! sagte Panglos zu Gertruden. So führt Dich doch der Himmel wieder zu uns, herziges Kind. Weisst Du wohl, daß Du mich um die halbe Nase, um Ein Auge und ein Ohr gebracht hast … O wie du aussiehst! … Doch das ist alles der Welt Lauf.
Über diesen Vorfall fingen sie stärker an zu philosophiren, denn je. Sie hatten in der Nachbarschaft einen weit berühmten Dervisch, der für den besten Philosophen in der ganzen Türkei gehalten wurde; zu dem gingen sie und fragten ihn um Rat. Panglos war Sprecher. Wir kommen zu Dir Meister, um von Dir zu erfahren, wozu das sonderbare Geschöpf, Mensch genant, ist geschaffen worden?
Was kümmert Dich das? sagte der Dervisch. Ist das Deine Sache? Allein wohlehrwürdiger Vater, hub Candide an, es gibt gräsliches Elend auf Erden. Ob Elend oder Glük, gleichviel! antwortete der Dervisch. Wenn Ihro Kaiserliche Majestät ein Schif nach Ägypten sendet, kümmert Sie sich wohl darum, ob's den Ratten und Mäusen im Schifsboden behäglich ergeht, oder nicht? Was soll man also machen? fragte Panglos. Schweigen! erwiederte der Dervisch. "Ich machte mir Hofnung, über Wirkungen und Ursachen, über die beste der möglichsten Welten, über den Ursprung des Übels, über die Beschaffenheit der Seele und der vorherbestimmten Harmonie mich mit Dir zu unterreden." Bei dieser Rede vom Panglos warf der Dervisch ihnen die Thüre vor der Nase zu.
Während dieser Unterredung erscholl das Gerücht, daß zu Konstantinopel zwei Wessire des Divans und der Mufti sein erdrosselt, und viele ihrer Freunde angepfählt worden. Dieser tragische Vorfall gab einige Stunden lang nicht wenig Gemunkel. Wie Candide, Panglos und Martin wieder nach ihrem Vorwerkchen zurükkehrten, fanden sie einen wakkern Greis in einer Pomeranzlaube vor seiner Thür sizen, um der Kühle zu geniessen.
Panglos, der ein eben so neugieriges als disputirsüchtiges Geschöpf war, fragte ihn, wie der ebenerdrosselte Mufti hiesse. Das weis ich nicht, antwortete der ehrliche Alte, ich hab' mein Lebstage nicht gewusst, wie irgendein Mufti oder ein Wessir heisst; habe kein Sterbenswort von der ganzen Historie gehört. Ich denke, all' die politischen Kannengiesser und Pfannenflikker mit dem Maul und in der That reiten gemeiniglich am Ende gar übel an, und 's kann ihnen gar nicht schaden. Ich meines Parts erkundige mich niemals, was in Konstantinopel vorgeht, schikke meine selbstgepflanzten Gartenfrüchte h'nein und damit holla!
Wie er dies gesagt hatte, führt' er die Fremden in sein Haus; seine beiden Töchter und beiden Söhne sezten ihnen vielerlei selbstverfertigte Sorbets vor. Sie bestanden aus Kaimak, dem man durch eingemachte Cedratschaale, Pomeranzen, Zitronen, Limonien, Ananas, Pistazien einen herben Geschmak gegeben hatte; aus Mokkaschen Kaffee, unvermischt mit dem elenden Batavischen und Insulanischen. Hierauf beräucherten die beiden Töchter des guten Muselmans Candiden, Panglosen und Martinendie Bärte.
Sie müssen ein recht grosses und prächtiges Landgut haben, sagte Candide zum Türken. Weiter nichts als zwanzig Hufen, antwortete der Alte. Die bau' ich mit meinen Kindern an. Arbeit verscheucht die drei schlimmsten Feinde von uns, die Langeweile, das Laster und den Mangel.
Candide behielt diese Rede des Türken, und bewegte sie in seinem Herzen. Ha, sagt' er zum Panglos und Martin, dieser gute Greis scheint sich ein Loos verschaft zu haben, das dem Loose der sechs Könige, mit denen wir die Ehre gehabt zu speisen, weit vorzuziehen ist.
Nichts gefährlicher in der Welt als Grösse! sagte Panglos. Hierin stimmen alle Philosophen überein. Denn schlüslich ward Eglon, der König der Moabiter, durch Ehudgemeuchelmordet; Absalon an den Haaren aufgehängt, und mit drei Spiessen durchstochen; König Nadab, der Sohn Jerobeam, ward durch Baesa getödtet; König Elladurch Simri; und König Joram und Ahasja durch Jehu; Königin Athalja durch den Priester Jojada; die Könige Jojakim, Jojachin und Zedekia wurden Sklaven. Ihr wisst das elende Ende von Krösus, Astyages, Darius, Dionys von Syrakus, Pyrrhus, Perseus, Hannibal, Jugurtha, Ariovist, Cäsar, Pompejus, Nero, Otto, Vitellius, Domitian, Richard dem Zweiten von England, Eduard dem Zweiten, Heinrich dem Sechsten, den drei Richards, Marie Stuart, Karl dem Ersten, den drei Heinrichen von Frankreich, vom Kaiser Heinrich dem Vierten? Ihr wisst – –
Ich weis auch, sagte Candide, daß unser Garten mus angebaut werden. Da haben Sie Recht, sagte Panglos; denn wie Gott den Menschen in den Garten Eden sezte, sezte er ihn deshalb herein, ut operaretur eum, daß er ihn bebaute. Der beste Beweis, daß der Mensch nicht zur Ruhe geschaffen ist. Lasst uns arbeiten, ohne alle Vernünfteleien, sagte Martin. Das ist das einzige Mittel, sich das Leben erträglich zu machen.
Dies lobenswürdige Vorhaben unterstüzte die kleine Gesellschaft thätig. Das kleine Gütchen trug viel ein. Kunegunde war grundhäslich, wusste aber ganz trefliche Pasteten zu bakken; Trudchen stikte und nähte; die Alte besorgte die Wäsche. Sogar Bruder Viola blieb kein unnüzes Rad am Wagen; er wurde ein sehr guter Tischer, ja sogar ein rechtschafner Mann.
Und Panglos sagte manchmal zu Candide: Jegliche Begebenheit im menschlichen Leben gehört in die Kette der Dinge. Denn wären Sie nicht Barones Kunegundenshalber mit derben Fustritten aus dem schönsten aller Schlössser gejagt, von der Inquisition nicht eingezogen worden, hätten Sie nicht Amerika zu Fusse durchwandert, dem Herrn Baron nicht einen tüchtigen Stos mit dem Degen versezt, nicht all' ihre Hämmel aus dem guten Lande Eldorado eingebüsst, so würden Sie jetzt nicht hier eingemachten Cedrat und Pistazien essen. Gut gesagt! recht gut! sagte Candide, allein wir müssen unsern Garten bearbeiten.
Im Herzogthum Westphalen auf dem Schlosse des Herrn Baron von Donnerstrunkshausen ward mit der jungen Herrschaft zugleich ein junger Mensch erzogen, ein gar liebes, sanftes Geschöpf, aus dessen kleinsten Gesichtszuge Sanftheit hervorblikte. An Kopf fehlt' es ihm gar nicht, und doch war er so offen, so rund, so ohn' alles Arg, wie unsr' Ahnen. Eben deswegen, glaub' ich, nannte ihn Barones Engeline, Schwester des Herrn Barons,Candide. Wie hätte eine Dame, die anderthalb Jahr zu Berlin in einer Französischen Pension gewesen, sich auf einen Teutschen Namen besinnen, oder wenn sie sich ja darauf besonnen, ihn goutiren können?
Candide war, munkelten die alten Bedienten im Hause, eine heimliche Liebesfrucht von ebenbesagter Schwester des Herrn Barons und einem guten ehrlichen Schlage von Landjunker aus der Nachbarschaft. Zum Gemal hatte ihn die gnädige Barones nie gemocht, weil der arme Schlukker seinen Adel mit nicht mehr als einundsiebenzig Ahnen belegen konnte, und weil der Rest seines Stammbaums durch den scharfen Zahn der Zeit war aufgenagt worden.
Der Herr Baron, Hans, Jost, Kurt von Donnerstrunkshausen war einer der Matadore in Westphalen, denn sein Schlos hatte Thür und Fenster, ja sogar einen austapezirten Saal. Seine Kettenhunde stellten, wenn Not an Mann kam, eine Jagdkuppel vor, seine Stallknechte die Jäger und der Priester im Dorfe den Oberschloskapellan. Alt und Jung nennte den alten Herrn Ihro hochfreiherrliche Gnaden, und wollte vor Lachen bersten, wenn er etwas erzälte.
Die Frau Barones stand in gar grossem Ansehn, denn sie wog richtig ihre dreihundert und funfzig Pfund, wo nicht noch mehr, und wußte die Honneurs mit einer Würde zu machen, die ihr noch grössre Hochachtung verschafte.
Ihre Tochter, die Barones Kunegunde, war ein munters, rundes, rothbäkkiges Ding, siebzehn Sommer alt, und gar lieblich anzuschauen; Junker Polde, ihr Bruder, ein würdiges Ebenbild des gnädigen Herrn Papa. MagisterPanglos, der Hofmeister der jungen Herrschaft, stellte das Hausorakel vor. Der junge Candide schlukte jegliche seiner Lehren mit der Treuherzigkeit hinter, die seinem Alter und Karakter gemäs war.
Panglos lehrte die Metaphysiko-theologo-kosmolo-nigologie; bewies mit der stärksten philosophischen Suade, daß ohne Ursach keine Wirkung sein könne, und daß in dieser besten aller möglichen Welten das Schlos des gnädigen Herrn Barons das schönste aller Schlösser sei und die gnädige Frau die beste aller möglichen Baroninnen.
Es ist bereits klärlich dargethan, hub er zu demonstriren an, daß die Dinge nicht anders sein können, als sie sind; denn alldieweil alles, was da ist, zu einem Endzweck geschaffen worden, so zielt nothwendig alles zu dem besten Endzwek ab. Gebt nur Acht, und Ihr werdet diese Grundwahrheit durchgängig bestätigt finden. Betrachtet zum Beispiel Eure Nasen. Sie wurden gemacht, um Brillen zu tragen, und man trägt auch welche. Eure Beine: Ihr empfingt sie, um sie zu bestrümpfen und zu beschuhen, und Ihr bestrümpft und beschuht sie. Seht die Quadersteine an! Sie wachsen, um zersägt, behauen, und zum Bau der Palläste verwandt zu werden, derohalben hat unser gnädiger Herr Baron einen gar herrlichen Pallast von Quadersteinen; der grösste Baron im ganzen Herzogthume mus die beste, bequemste Wohnung haben, und hat sie auch. Die Schweine schuf Gott, damit der Mensch sie ässe; essen wir nicht Schweinfleisch Jahr aus Jahr ein? Folglich ist es Thorheit mit einigen zu behaupten, daß alles gut gemacht ist; aufs Beste ist alles gemacht, muß man sagen.
Das fing der junge Candide mit beiden ofnen Ohren auf, und glaubte es in seiner Herzenseinfalt steif weg, denn er fand Barones Gundchen ausserordentlich schön, ob er gleich nie den Mut gehabt hatte, es ihr zu sagen. Er schlos, die erste Stufe irrdischer Glükseligkeit wäre Freiherr auf und von Donnerstrunkshausen, die zweite Barones Kunegunde zu sein, die dritte, sie täglich zu sehen, die vierte, den Magister Panglos zu hören, den grössten Philosophen im ganzen Westphälischen Kreise, folglich auch in der ganzen Welt.
Eines Tages, als Barones Kunegunde in dem kleinen Gehölze am Schlosse spazieren ging, das man den hochfreiherrlichen Park nannte, erblikte sie hinter dem Gesträuch den Herrn Magister Panglos, der mit ihrer Frau Mutter Kammerjungfer einem gar niedlichen und gar gefügen braunen Dirnchen, Versuche aus der Experimentalphysik anstellte.
Die junge Barones lauscht' und lauschte mit dem leisesten Athemzuge, und beobachtete – denn sie hatte ungemeine Anlage zu den Wissenschaften – all' die Experimente, die der Magister von Zeit zu Zeit wiederholte; sahePanglosens zureichenden Grund, die Ursachen und Wirkungen gar deutlich, und schlich in tiefen Gedanken fort. Ihr war so wohl und so weh um's Herz; ihre Seele war voll von der Begier gelehrt zu werden, und dem Gedanken: sie könnte wohl des jungen Candide zureichender Grund werden, und er der ihrige.
Beim Hereintreten in's Schlos, begegnete ihr Candide! sie ward rot, Candide auch. Guten Morgen Candide! stammelte sie. Und Candide schwazte mit ihr, ohne zu wissen was. Den folgenden Tag, nach aufgehobner Mittagstafel, befanden sich Kunegund' und Candide hinter einer Spanischen Wand; Kunegunde lies ihr Schnupftuch fallen, Candide hob es auf; sie nam ihn in aller Unschuld bei der Hand, er, auch in aller Unschuld, küßte der jungenBaronesse die ihrige, und das so warm, so herzlich! O es war keiner von Euren Theaterküssen! Ihre Lippen begegneten einander, ihre Augen erglühten, ihre Kniee bebten, ihre Hände verirrten sich.
In eben dem Nu ging der Herr Baron von Donnerstrunkshausen bei dem Schirm vorbei. Da er diese Ursach' und diese Wirkung erblikte, jagt' er Candiden mit derben Fustritten zum Schlosse hinaus. Gundchen sank in Ohnmacht; sobald sie sich ein wenig erholt hatte, ward sie von der gestrengen Frau Mama wieder völlig in's Leben zurückgeohrfeigt, und in dem schönsten und anmutigsten aller Schlösser herrschte Bestürzung über Bestürzung.
Vertrieben aus seinem irdischen Paradiese wanderte Candide mit weinendem Auge fort, ohne zu wissen wohin. Er blikte oft gen Himmel, noch öfter nach dem Pallaste, der die schönste aller jungen Baronessinnen in sich schlos. Mit leerem Magen legt' er sich mitten im Felde hin, zwischen zwei Furchen. Es schneite die Nacht durch heftig; ganz erstarrt schlich Candide mit dämmerndem Morgen nach einer benachbarten Stadt. Sterbensmatt vor Hunger und Strapaze, nicht einen Heller Geld bei sich, macht' er vor der Thür eines Wirthshauses höchst betrübt Halte.
Zwei Blaurökke wurden ihn gewahr. Ha! ein hübscher Kerl, Herr Bruder! sagte der eine. Wie'n Rohr gewachsen! Just so gros wie wir'n brauchen! Sie gingen auf Candiden los und baten ihn sehr höflich zu Mittag mit ihnen zu speisen. Ich finde mich ungemein durch Ihre Einladung beehrt, meine Herren, sagte Candide mit einem bescheidnen Ton, der gleich seine Nation verriet, allein ich habe kein Geld, kann meine Zeche nicht zahlen. Ach! was Geld! was Zeche zahlen! sagte einer von den Männern, das haben solche wohlgewachsne, artige junge Herrn, wie Sie, nicht nötig. Sie messen sechs Zoll? Die mess' ich, meine Herren, sagte er mit einer Verbeugung. „Hurtig, mein Herr! zu Tische. Wir zahlen nicht allein die Zeche für Sie, wir werden auch sorgen, daß es einem Manne, wie Sie, nie an Gelde fehlt. Wozu sind die Menschen in der Welt, als einander beizustehn, unter die Arme zu greifen?“
Wohl wahr! sagte Candide, so hat mich der Herr Magister Panglos immer gelehrt, und ich sehe wohl ein, daß alles auf's Beste gemacht ist. Man drang ihm etliche Thaler auf; er wollt' ihnen dafür Schwarz auf Weis geben; sie wollten's nicht. Man sezt sich zu Tische, iss't, trinkt. Nicht wahr, fängt der Eine an, Sie sind ihm recht herzlich gut dem ... Dem herzensguten englischen Kunegundchen? antwortet' er. Wohl bin ich's; ich liebe sie; bete sie an. „Nicht doch! den König der Bulgaren meinen wir, ob Sie dem recht herzlich gut sind?“ Was wollt' ich? Ich kenn' ihn gar nicht, antwortete jener; hab' ihn nie gesehn. „Kennen ihn gar nicht! Haben ihn nicht gesehn! Den Mann nicht! Teufel! das ist der treflichste Herr auf Gottes Erdboden! solchen König giebt's gar nicht mehr! Allo! Er soll leben!“ Das soll er! rief Candide aus vollem Herzen, und sties an. Wie er geleert, hies es: Na, so wär's denn geschehn! Nun sind Sie Held! die Säule der Bulgaren! Ihr Schuz und ihr Schirm! Die Schranken der Ehre stehn vor Ihnen geöfnet! Lorbeern ohne Zahl erwarten Ihrer!
Sogleich legte man ihm Schellen an die Füsse und führte ihn zum Regimente. Da lernt' er das Rechts und Links um kehrt euch, Gewehr hoch, Gewehr beim Fus, Feuer, Marsch, und empfing dabei dreissig Prügel; den andern Tag exerzirt er schon ein wenig besser und bekömmt nur zwanzig; den Tag darauf gar nur zehne, und all' seine Kameraden gaften ihn als ein blaues Meerwunder an.
Candide war noch ganz bestürzt, konnte gar nicht recht begreifen, wie er so im Hui zum Helden geworden sei. An einem schönen Frühlingsmorgen fällt's ihm ein, spazieren zu gehn. Er schlendert grade vor sich hin, der Meinung: die Menschen hätten so wohl wie die Thiere das Vorrecht, sich ihrer Beine nach Belieben zu bedienen. Kaum hat er zwei Meilen gemacht, wie ein Bliz sind ihm vier andre sechsschuhige Helden auf den Hals, binden ihn, und werfen ihn in ein Loch, wohin nicht Sonne nicht Mond kam.
Ein wohllöbliches Kriegsgericht fragte ihn, was er lieber wollte, sechsunddreissigmal Spiesruten laufen oder sich drei bleierne Kugeln mit eins in's Gehirn jagen lassen. Candide