Cover

Joe Abercrombie

Königsjäger

Roman

Aus dem Englischen von

Kirsten Borchardt

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Im Königreich Gettland herrscht das Gesetz des Stärkeren. Männer werden zu Kriegern gemacht, Frauen zu Dienerinnen und Schwächlinge zu Beratern, oder Sklaven. Die junge Thorn wünscht sich nichts sehnlicher, als in die Fußstapfen ihres berühmten Vaters zu treten, der einst als Wahlschild der Königin kämpfte. Als sie jedoch nach einem Unfall auf dem Kampfplatz als Mörderin verurteilt wird, bricht für Thorn eine Welt zusammen. Ihr ganzes Leben hat sie auf den Moment hingelebt, wenn sie endlich Vergeltung für den Tod ihres Vaters üben würde, doch dann wird sie ausgerechnet von dem Mann, der sie im Schwertkampf unterrichtet hat, verstoßen. Das Todesurteil ist schon gesprochen, da greift Vater Yarvi ein, der listige Berater des Königs von Gettland, und schickt Thorn auf eine Schiffsreis quer durch die Bruchsee und an die Grenzen der bekannten Welt. Eine Reise voller Entbehrungen, voller Blut und Verrat, aber auch ein Schicksal, das sie mit neuen Verbündeten zusammenführt. Und vielleicht sogar ein Schicksal, das Thorns Ehre als Schwertkämpferin wiederherstellen und ihr einen Platz in den Legenden ihres Volkes geben kann. Dafür muss sie diese Reise allerdings erst einmal überleben …

Der Autor

Joe Abercrombie arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit seinen weltweit erfolgreichen Klingen-Romanen um den Barbaren, den Inquisitor und den Magier hat er sich auf Anhieb in die Herzen aller Fans von packender düsterer Fantasy geschrieben und schaffte es bereits mehrmals auf die Times-Bestsellerliste. Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Bath.

Mehr über Joe Abercrombie und seine Romane auf: www.joeabercrombie.com

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Titel der Originalausgabe:

HALF THE WORLD

Deutsche Erstausgabe 09/2015

Copyright © 2015 by Joe Abercrombie

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Werner Bauer

Karte: Nicolette Caven

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung eines Motivs

von shutterstock/michaelaubryphoto

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-15559-9
V002

www.heyne.de

@HeyneFantasySF

Für Eve

»Das Vieh stirbt,

Die Freunde sterben,

Endlich stirbt man selbst.

Doch eines weiß ich,

Das immer bleibt:

Der Ruhm der großen Tat.«

aus: Hávamál, des Hohen Lied

I
DIE AUSGESTOSSENEN

Die Auserwählten

Er zögerte nur einen Augenblick, aber das genügte Dorn, um ihm den Rand ihres Schildes in die Eier zu rammen.

Sie hörte Brands Stöhnen selbst über das Geschrei der anderen Jungen, die darauf hofften, dass sie verlor.

Dorns Vater hatte immer gesagt: Der Augenblick, in dem du zögerst, ist der Augenblick, in dem du stirbst, und sie hatte bislang ihr Leben im Guten und vor allem im Schlechten nach diesem Grundsatz geführt. Also verzog sie das Gesicht zu einem kämpferisch-herausfordernden Zähnefletschen – ohnehin ihr liebster Gesichtsausdruck – und forderte Brand noch härter als zuvor.

Sie rempelte ihn mit der Schulter an, und ihre Schilde krachten knirschend aneinander. Der Sand spritzte unter Brands Hacken beiseite, als er rückwärts über den Strand stolperte, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Er schlug nach ihr, aber sie duckte sich und wich dem Hieb aus, führte ihr Holzschwert tief und erwischte ihn an der Wade, direkt unter dem zuckenden Saum seines Kettenhemds.

Eins musste man Brand lassen: Er klappte nicht zusammen, er schrie nicht einmal auf, sondern hüpfte nur mit verzerrtem Gesicht einen Schritt zurück. Dorn lockerte ihre Schultern und wartete darauf, dass Meister Hunnan ihren Sieg ausrufen würde, aber ihr Lehrer stand so ruhig da wie die Statuen in der Gotteshalle.

Manche Waffenmeister taten so, als seien die Übungsschwerter echt, und brachen den Kampf nach einem Streich ab, der mit einer Stahlklinge tödlich gewesen wäre. Aber Hunnan sah seine Schüler gern am Boden liegen, erniedrigt, nach einer harten Lektion. Bei den Göttern, Dorn hatte auf Hunnans Kampfplatz genug harte Lektionen lernen müssen. Jetzt gab sie das Gelernte nur zu gern weiter.

Mit einem spöttischen Lächeln – ihrem zweitliebsten Gesichtsausdruck – wandte sie sich an Brand und kreischte: »Komm schon, du Feigling!«

Brand war stark wie ein Bulle und hatte jede Menge Kampfgeist, aber er humpelte und war müde, und Dorn nutzte den Umstand aus, dass der Strand zum Wasser hin leicht abfiel. Sie hielt die Augen fest auf ihren Gegner gerichtet, wich einem Schlag aus, dann noch einem, tauchte unter einem ungeschickten Schwinger hindurch und glitt an seine ungedeckte Seite. Die beste Scheide für eine Klinge ist der Rücken deines Feindes, hatte ihr Vater immer gesagt, aber die Seite tat es auch. Ihr Holzschwert krachte mit einem Aufprall, als ob ein Holzscheit gespalten würde, gegen Brands Rippen. Ihr Gegner begann hilflos zu taumeln, und Dorn grinste nur noch breiter. Es gab kein besseres Gefühl auf der Welt, ja, nichts fühlte sich so gut an, als wenn man es jemandem gerade so richtig gezeigt hatte.

Sie setzte ihre Stiefelsohle auf seinen Hintern und gab ihm einen Schubs, bis er auf allen vieren in die Welle flog, die gerade über den Strand schwappte und sein Schwert mit sich riss, bis es in den Algen hängen blieb.

Dann trat sie zu Brand hin, der mit gequältem Blick zu ihr aufsah, das nasse Haar an den Kopf geklatscht und die Zähne noch blutverschmiert von der Kopfnuss, die sie ihm zuvor verpasst hatte. Vielleicht hätte er ihr leidtun sollen, aber es war schon lange her, dass Dorn sich so etwas wie Mitgefühl hatte leisten können.

Stattdessen drückte sie ihm ihre eingekerbte Holzklinge gegen den Hals und fragte: »Und?«

»Na gut.« Er machte eine schwache Handbewegung, als ob er sie verscheuchen wollte, dabei fehlte ihm zum Sprechen fast die Luft. »Ich habe verloren.«

»Ha!«, schrie sie ihm ins Gesicht.

»Ha!«, schrie sie den enttäuschten Jungen rund um den Kampfplatz entgegen.

»Ha!«, schrie sie nun selbst zu Meister Hunnan hinüber, und triumphierend riss sie Schwert und Schild in die Höhe und schwenkte beides unter dem Himmel, der Regentropfen auf sie hinunterspuckte.

Vereinzeltes Klatschen und Raunen war die einzige Reaktion. Zwar war ihr klar, dass es selbst für wesentlich armseligere Siege schon mehr Applaus gegeben hatte, aber sie war ja nicht wegen des Beifalls hier.

Sie war hier, um zu siegen.

Manchmal wurde ein Mädchen von Mutter Krieg berührt und landete mit den Jungen auf dem Kampfplatz, wo man ihm den Umgang mit Waffen beibrachte. Unter den kleineren Kindern gab es immer einige Mädchen, aber mit jedem Jahr, das verging, wandten sie sich doch den Dingen zu, die sich mehr für weibliche Wesen schickten, und die, die es nicht taten, wurden schließlich in die richtige Richtung gestupst, gestoßen und schließlich geschlagen und getreten, bis das schändliche Kroppzeug ausgerottet war und auf dem Kampfplatz nur noch die edlen Krieger standen.

Wenn die Vansterländer über die Grenze kamen, wenn die Inselbewohner zum Plündern einfielen, wenn Diebe in der Nacht erschienen, dann hatten die Frauen von Gettland schnell eine Klinge zur Hand und kämpften gegebenenfalls bis zum Tod; viele von ihnen waren beim Kämpfen ziemlich gut. So war das immer schon gewesen! Aber wie lange war es her, dass eine Frau die Prüfungen bestanden und die Eide geschworen und sich einen Platz auf einer Heerfahrt erstritten hatte?

Es gab Geschichten. Es gab Lieder. Aber selbst die Alte Fen, der älteste Mensch in Thorlby – manche sagten, der ganzen Welt –, hatte so etwas in ihren ewig langen Lebzeiten nicht gesehen.

Bis jetzt.

Harte Arbeit. Ablehnung. Schmerzen. Aber am Ende hatte Dorn sie geschlagen. Sie schloss die Augen, spürte, wie der salzige Wind von Mutter Meer ihr schweißnasses Gesicht küsste, und dachte daran, wie stolz ihr Vater gewesen wäre.

»Ich habe bestanden«, flüsterte sie.

»Noch nicht.« Dorn hatte Meister Hunnan noch nie lächeln sehen. Aber sie hatte auch noch nie erlebt, dass er so finster dreinblickte wie jetzt. »Ich sage, welche Prüfungen du ablegen musst. Und ich entscheide, wann du bestanden hast.« Er sah zu den Jungen hinüber, die in ihrem Alter waren. Die Sechzehnjährigen, einige schon mit stolzgeschwellter Brust, weil sie ihre eigenen Prüfungen erfolgreich hinter sich gebracht hatten. »Rauk. Du kämpfst als Nächster gegen Dorn.«

Rauks Augenbrauen hoben sich, dann sah er Dorn an und zuckte die Achseln. »Warum nicht?« Er trat aus der Reihe seiner Mitschüler auf den Kampfplatz, zog die Schildriemen straff und nahm ein Übungsschwert zur Hand.

»Rauk«, sagte Hunnan, dessen knotiger Finger weiterwanderte, »und Sordaf und Edwal.«

Das triumphierende Glühen sickerte aus Dorn heraus wie die letzten Wassertropfen aus einem maroden Badezuber. Unter den Jungen wurde Gemurmel laut, als Sordaf in das Sandgeviert hineinwalzte – groß, langsam und ohne besonders große Fantasie, aber wie dafür gemacht, jemanden zu treten, der schon am Boden lag. Mit seinen dicken Fingern zurrte er die Schnallen seines Brustpanzers fest.

Edwal – schnell und schmal, der Kopf ein Gewirr brauner Locken – zögerte, bevor er ihm folgte. Dorn hatte ihn stets für einen der Besseren gehalten. »Meister Hunnan, drei von uns …«

»Wenn du einen Platz auf einer Heerfahrt des Königs willst«, erklärte Hunnan, »dann tust du, was dir gesagt wird.«

Sie wollten alle einen Platz, fast genauso sehr wie Dorn. Edwal sah grimmig nach links und rechts, aber niemand sagte etwas. Zögernd trat er neben die anderen und nahm ebenfalls ein Übungsschwert.

»Das ist aber keine gerechte Aufteilung.« Dorn war es gewohnt, tapfer aller Unbill ins Gesicht zu sehen, egal, wie schlecht die Chancen standen, aber jetzt klang ihre Stimme wie ein verzweifeltes Blöken. Wie ein Lamm, das hilflos ins Messer des Metzgers getrieben wird.

Hunnan tat das mit einem Schnauben ab. »Dieser Kampfplatz ist das Schlachtfeld, Mädchen, und auf dem Schlachtfeld geht es halt nicht gerecht zu. Betrachte das als die letzte Lektion, die du hier erhalten wirst.«

Darüber wurde vereinzelt gelacht. Vermutlich waren das die Jungen, denen sie bei anderer Gelegenheit ordentlich eins übergezogen hatte. Brand sah hinter ein paar flatternden Haarsträhnen zu ihr hinüber, eine Hand gegen den blutenden Mund gepresst. Andere sahen zu Boden. Sie wussten alle, dass es ungerecht war. Aber es war ihnen egal.

Dorn biss die Zähne zusammen, legte die Schildhand kurz auf den kleinen Beutel, der um ihren Hals hing, und drückte ihn. Sie gegen den Rest der Welt, so ging es nun schon länger, als sie sich erinnern konnte. Und eins war Dorn ganz sicher – eine Kämpferin. Sie würde ihnen einen Kampf liefern, den sie nicht so schnell vergessen würden.

Rauk machte eine ruckartige Kopfbewegung, um den anderen anzuzeigen, dass sie ausschwärmen sollten, um sie einzukreisen. Das war vielleicht sogar von Vorteil für sie. Wenn sie schnell genug zuschlug, konnte sie einen von der Herde trennen und hatte dann zumindest den Hauch einer Chance gegen die beiden anderen.

Sie sah ihnen in die Augen und versuchte zu erkennen, was sie planten. Edwal zögerte und blieb zurück. Sordaf war wachsam, den Schild erhoben. Rauk ließ das Schwert baumeln und warf sich vor den Zuschauern in Pose.

Hätte sie doch nur sein Lächeln abstellen können. Wenn sich diese strahlende Miene in Blut verwandeln würde, wäre sie schon zufrieden.

Und tatsächlich fror sein Lächeln ein, als sie ihren Kampfesschrei ausstieß. Rauk fing ihren ersten und auch noch den zweiten Schlag mit seinem Schild ab, dass die Splitter flogen, doch dann narrte sie ihn mit ihren Augen, und er hob den Schild, während sie im letzten Moment einen tiefen Schlag führte, weit ausholte und ihm einen kräftigen Hieb gegen die Hüfte verpasste. Er schrie auf und drehte sich zur Seite, sodass er ihr den Hinterkopf zuwandte. Schon hatte sie wieder das Schwert erhoben.

Im Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung, dann folgte ein hässliches Knirschen. Sie spürte es kaum, als sie stürzte. Aber plötzlich versetzte ihr der Sand einen ziemlich derben Knuff, und sie glotzte blöd in den Himmel.

Das ist eben das Problem, wenn man sich auf einen stürzt und die zwei anderen nicht beachtet.

Über ihr kreisten die Möwen.

Die Festung von Thorlby erhob sich schwarz vor dem hellen Himmel.

Steh besser wieder auf, hatte ihr Vater gesagt. Auf dem Rücken kannst du nichts gewinnen.

Dorn rollte sich zur Seite, benommen und ungeschickt, und der kleine Beutel rutschte aus ihrem Kragen und schwang an seiner Kordel vor ihrer Brust hin und her. Ihr Gesicht pochte wie wild.

Wasser strömte kalt über den Strand, umspülte ihre Knie, und dann sah sie, wie Sordaf heranmarschierte, hörte ein Knacken, als ob ein Stock zerbrach.

Sie versuchte sich aufzurappeln, als Rauks Stiefel in ihre Rippen krachte und sie hustend wieder zusammenklappte.

Die Welle strömte zurück und nahm das Wasser mit, aber Blut rann kitzelnd über ihre Oberlippe und hinterließ ein kleines Tropfenmuster auf dem nassen Sand.

»Sollten wir aufhören?«, hörte sie Edwal sagen.

»Habe ich aufhören gesagt?«, ertönte Hunnans Stimme, und Dorn schloss ihre Faust um den Griff ihres Schwerts und raffte sich zu einer letzten Kraftanstrengung auf.

Sie sah, dass Rauk auf sie zukam, packte sein Bein, als er zutrat, und riss es hoch bis an ihre Brust. Sie fauchte, als sie mit einem harten Ruck daran zog, und er stürzte mit fuchtelnden Armen nach hinten.

Dann stolperte sie auf Edwal zu. Es war eher ein Taumeln als ein Angriff. Mutter Meer und Vater Erde und Hunnans grimmige Miene und die Gesichter der zusehenden Jungen tanzten vor ihren Augen. Er packte sie, aber fast hatte es den Anschein, als wollte er sie eher stützen, als sie wieder niederwerfen. Sie fasste nach seiner Schulter, verdrehte sich das Handgelenk, und das Schwert wurde ihr aus der Hand gerissen, als sie an ihm vorbeirannte, auf die Knie fiel und sich wieder aufrappelte. Ihr Schild hing nur noch an einem Riemen an ihrer Seite, als sie sich umwandte, spuckend und fluchend, und erstarrte.

Sordaf stand da, ließ das Schwert schlaff herunterhängen und glotzte wie gelähmt.

Rauk lag auf dem nassen Sand, stützte sich auf den Ellenbogen auf und glotzte wie gelähmt.

Brand stand bei den anderen Jungen, alle hatten den Mund aufgerissen, und alle glotzten sie an.

Edwal öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus, nur ein seltsames feuchtes Geräusch, wie ein Furz. Er ließ die Übungsklinge fallen und fasste sich mit der Hand ungeschickt nach der Kehle.

Der Griff von Dorns Schwert ragte dort heraus. Die hölzerne Klinge war abgebrochen, als Sordaf draufgetreten war, und nur ein langer, dünner Splitter war stehen geblieben. Dieser Splitter steckte jetzt in Edwals Kehle, und die Spitze schimmerte rot.

»Bei den Göttern«, flüsterte jemand.

Edwal ging in die Knie und sabberte blutigen Schaum auf den Sand.

Meister Hunnan packte ihn, als er auf die Seite fiel. Brand und ein paar andere scharten sich um die beiden, und sie alle brüllten und schrien, einer lauter als der andere. Dorn konnte die Worte über das Dröhnen ihres eigenen Herzens kaum verstehen.

Schwankend stand sie da, mit immer noch schmerzvoll pochendem Gesicht und gelöstem Haar, das ihr bei jedem Windhauch in die Augen geriet, und sie fragte sich, ob das alles ein Albtraum war. Es musste einer sein. Sie betete darum; fest presste sie die Augen zusammen, fester und fester.

So, wie sie es getan hatte, als man sie zu ihrem Vater geführt hatte, wie er tot und weiß und kalt unter der Kuppel der Götterhalle lag.

Aber damals war es die Wirklichkeit gewesen, und so war es auch jetzt.

Als sie die Augen mit einem Ruck wieder öffnete, knieten die Jungen immer noch um Edwal, von dem sie daher nur die Stiefel sah, die auf dem Sand lagen, schlaff zur Seite gekippt. Schwarze Spuren bahnten sich den Weg durch den Sand, dann schickte Mutter Meer eine Welle, und sie schimmerten rot und rosa, wurden weggewaschen und waren verschwunden.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Dorn wirklich Angst.

Hunnan erhob sich und wandte sich langsam um. Er sah ja immer grimmig aus, und wenn er sie ansah, dann sowieso. Aber jetzt lag ein heller Schimmer in seinen Augen, den sie noch nie gesehen hatte.

»Dorn Bathu.« Er deutete mit einem roten Finger auf sie. »Ich bezichtige dich des Mordes.«

In den Schatten

Tue Gutes«, hatte seine Mutter zu Brand gesagt, an dem Tag, als sie starb. »Stehe im Licht.«

Damals, mit sechs Jahren, hatte er kaum begriffen, was das bedeutete, Gutes zu tun. Und jetzt, mit sechzehn, hatte er durchaus Zweifel, ob er inzwischen schlauer war. Denn schließlich stand er hier und vergeudete den Augenblick, der sein größter Triumph hätte sein sollen, indem er über genau diese Frage nachgrübelte: Was war das Gute, das er tun sollte?

Es war eine große Ehre, am Schwarzen Thron Wache zu halten. Im Angesicht der Götter und Menschen als Krieger Gettlands anerkannt zu werden. Dafür hatte er schließlich gekämpft, oder nicht? Dafür hatte er geblutet! Hatte er sich seinen Posten nicht verdient? So lange, wie Brand sich erinnern konnte, war es sein Traum gewesen, bewaffnet zwischen seinen Brüdern auf den heiligen Steinen der Götterhalle zu stehen.

Aber es fühlte sich nicht so an, als stünde er im Licht.

»Mir macht dieser Überfall auf die Inselbewohner Sorgen«, sagte Vater Yarvi und führte die Diskussion damit wieder zum Ausgangspunkt zurück, wie die Gelehrten es wohl immer taten. »Der Hochkönig hat es verboten, die Schwerter zu ziehen. Er würde uns das sehr verübeln.«

»Der Hochkönig verbietet alles«, sagte Königin Laithlin, die Hand auf dem von der Schwangerschaft schon gerundeten Bauch, »und er verübelt auch alles.«

Neben ihr lehnte sich König Uthil auf dem Schwarzen Thron zurück. »Und dabei befiehlt er dem Inselvolk und den Vansterländern und allen anderen Hundesöhnen, die nach seiner Pfeife tanzen, ihre Schwerter gegen uns zu ziehen!«

Zorn wallte unter den großen Männern und Frauen Gettlands auf, die sich vor dem Podest versammelt hatten. Noch vor einer Woche wäre Brands Stimme laut aus ihrem Chor herauszuhören gewesen.

Aber jetzt konnte er nur noch an das Geräusch denken, das Edwal gemacht hatte, als ihm das Holzschwert im Hals steckte, und daran, wie ihm der rote Sabber aus dem Mund gelaufen war, als er dieses trompetende Schweinegrunzen ausstieß. Der letzte Ton, den er je von sich gab. Und an Dorn, wie sie schwankend dastand, am Strand, wie ihr das Haar am blutverschmierten Gesicht klebte und ihr die Kinnlade herunterklappte, als Hunnan sie eine Mörderin nannte.

»Zwei meiner Schiffe wurden aufgebracht!« Der edelsteinbesetzte Schlüssel schaukelte vor der Brust einer erzürnten Kauffrau hin und her, die sich nun mit erhobener Faust dem Podest zuwandte. »Und dabei habe ich nicht nur Ladung verloren, sondern auch Tote zu beklagen!«

»Und die Vansterländer sind schon wieder über die Grenze gekommen!«, ertönte ein tiefer Ruf von der Seite der Männer, »und sie haben Ställe angezündet und gute Menschen aus Gettland versklavt!«

»Grom-gil-Gorm wurde dort gesehen!«, schrie jemand, und allein die bloße Erwähnung dieses Namens füllte die Kuppel der Götterhalle mit geraunten Flüchen. »Der Schwertbrecher persönlich!«

»Das Inselvolk muss mit Blut dafür bezahlen!«, knurrte ein alter, einäugiger Krieger. »Und dann kommen die Vansterländer und der Schwertbrecher selbst an die Reihe.«

»Natürlich müssen sie bezahlen!«, rief Yarvi der grollenden Menge zu und gebot Ruhe mit seiner verkümmerten Hand, die wie eine Krabbenschere aussah. »Aber wann und wie, das ist die Frage. Die Weisen warten auf den richtigen Augenblick, und wir sind derzeit für einen Krieg mit dem Hochkönig nicht bereit.«

»Man ist immer bereit für den Krieg.« Uthil drehte den Knauf seines Schwertes ein wenig, bis die nackte Klinge in der Düsternis aufblitzte. »Oder nie.«

Edwal war stets bereit gewesen. Einer, der fest zu dem Mann an seiner Seite hielt, wie es sich für einen Krieger Gettlands gehörte. Er hatte es doch bestimmt nicht verdient, dafür zu sterben?

Dorn war alles egal, was weiter als ihre Nasenspitze von ihr entfernt lag, und als sie Brand den Schildrand in die noch immer schmerzenden Eier gerammt hatte, war sie ihm dadurch nicht gerade sympathischer geworden. Aber sie hatte bis zum Letzten gekämpft, auch gegen eine Überzahl, so wie sich das für einen Krieger Gettlands halt gehörte. Da verdiente sie es doch wohl nicht, dass man sie eine Mörderin nannte?

Er bewegte unbehaglich die Schultern, während er schuldbewusst zu den großen Statuen der sechs Hohen Götter hinübersah, die den Schwarzen Thron überragten und über die Anwesenden richteten. Die ihn überragten und über ihn richteten. Er wand sich, als sei er es gewesen, der Edwal getötet und Dorn eine Mörderin genannt hatte. Dabei hatte er nur dabeigestanden und zugesehen.

Zugesehen und nichts getan …

»Der Hochkönig könnte die halbe Welt zum Krieg gegen uns aufrufen«, sagte Vater Yarvi gerade mit der Geduld eines Waffenmeisters, der kleinen Kindern die Grundzüge des Kämpfens erklärte. »Die Vansterländer und die Throvenländer haben ihm Gefolgschaft geschworen, die Inglinge und die Tiefländer beten zu seiner Einen Gottheit, und Großmutter Wexen schmiedet auch im Süden neue Bündnisse. Wir sind von Feinden umzingelt, und wir brauchen Freunde, um …«

»Die Antwort lautet Stahl.« König Uthil schnitt seinem Gelehrten das Wort ab, und seine Stimme war scharf wie eine Klinge. »So wird es immer sein. Ruft die Männer Gettlands zusammen. Wir werden diesen Aas pickenden Inselleuten eine Lektion erteilen, die sie nicht so schnell vergessen werden.« Auf der rechten Seite der Halle trommelten die grimmig dreinblickenden Männer zustimmend mit der Faust gegen ihre Brustpanzer, und auf der linken ließen die Frauen mit dem schimmernd eingeölten Haar ihr zustimmendes, zorniges Raunen hören.

Vater Yarvi neigte den Kopf. Es war seine Aufgabe, für ­Vater Friede zu sprechen, aber selbst fiel ihm nichts mehr zu sagen ein. Heute herrschte Mutter Krieg. »Dann also Stahl.«

Brand hätte darüber ganz begeistert sein sollen. Eine große Heerfahrt, wie in den Liedern, und er würde als Krieger mit dabei sein! Aber noch immer war er innerlich am Rand des Kampfplatzes gefangen und kratzte am Schorf dessen, was er vielleicht anders hätte machen können.

Wenn er doch nur nicht gezögert hätte. Wenn er mitleidlos zugeschlagen hätte, so wie es sich für einen Krieger geziemte, dann hätte er Dorn besiegt, und damit wäre es vorbei gewesen. Oder wenn er sich auf Edwals Seite geschlagen hätte, als Hunnan drei gegen eine antreten ließ; vielleicht hätten sie gemeinsam etwas ausrichten können. Aber er hatte nichts gesagt. Es erforderte Mut, einem Feind auf dem Schlachtfeld entgegenzutreten, aber dabei hatte man seine Freunde an der Seite. Sich allein gegen die Freunde zu wenden, das erforderte eine andere Art von Mut. Eine, die Brand nicht vorgab zu besitzen.

»Und dann müssen wir noch über Hild Bathu sprechen«, sagte Vater Yarvi, und bei dem Namen zuckte Brands Kopf in die Höhe, als wäre er ein Dieb, den man gerade mit einer Börse in der Hand erwischt hatte.

»Über wen?«, fragte der König.

»Storn Landzunges Tochter«, sagte Königin Laithlin. »Sie nennt sich Dorn.«

»Allerdings hat sie nicht nur jemanden in den Finger gestochen«, erklärte Vater Yarvi. »Sie hat auf dem Kampfplatz einen Jungen getötet und wird des Mordes bezichtigt.«

»Von wem?«, rief Uthil.

»Von mir.« Meister Hunnans goldene Mantelspange schimmerte, als er in den Streifen hellen Lichts trat, der am Fuße des Podests auf den Boden schien.

»Meister Hunnan.« Ein seltenes Lächeln erfasste den Mundwinkel des Königs. »Ich erinnere mich noch gut an unsere Waffengänge auf dem Kampfplatz.«

»Auch ich denke gern daran, mein König, obwohl es sich für mich um schmerzhafte Erinnerungen handelt.«

»Ha! Du hast gesehen, wie der Junge getötet wurde?«

»Ich prüfte meine ältesten Schüler, um zu sehen, wer einen Platz auf deiner Heerfahrt verdiente. Dorn Bathu war unter ihnen.«

»Sie beschmutzt ihr Ansehen, indem sie auf den Platz eines Kriegers schielt!«, rief eine Frau.

»Sie beschmutzt unser aller Ansehen«, ergänzte eine andere laut.

»Eine Frau hat auf dem Schlachtfeld nichts zu suchen!«, ertönte eine grobe Stimme aus der Gruppe der Männer, und auf beiden Seiten der Halle wurde eifrig genickt.

»Ist Mutter Krieg nicht selbst eine Frau?« Der König deutete zu den Hohen Göttern, die sich über ihnen erhoben. »Wir zeigen ihr nur, was wir zu bieten haben. Die Mutter der Krähen selbst wählt jene aus, die ihrer würdig sind.«

»Und Dorn Bathu hat sie nicht erwählt«, sagte Hunnan. »Das Mädchen hat ein vergiftetes Gemüt.« Nun, das stimmte wohl. »Sie hat die Prüfung, die ich ihr stellte, nicht bestanden.« Das stimmte zur Hälfte. »Sie wehrte sich gegen meinen Beschluss und tötete den Jungen Edwal.« Brand zwinkerte. Das war vielleicht nicht gerade eine Lüge, aber dennoch weit entfernt von der Wahrheit. Hunnans grauer Bart wippte, als er den Kopf schüttelte. »Und so habe ich zwei Schüler verloren.«

»Wie unaufmerksam von dir«, sagte Vater Yarvi.

Der Waffenmeister ballte die Fäuste, aber Königin Laithlin ergriff das Wort, bevor er selbst etwas entgegnen konnte. »Wie lautet die Strafe für einen solchen Mord?«

»Von Steinen zermalmt zu werden, meine Königin.« Der Gelehrte sprach ganz gelassen, als ob es um einen Käfer ging, der da zermalmt werden sollte, und nicht um einen Menschen – noch dazu einen, den Brand den größten Teil seines Lebens gekannt hatte. Zwar hatte er Dorn Bathu fast während dieser ganzen Zeit nicht besonders gemocht, aber trotzdem.

»Möchte jemand der Anwesenden etwas zur Verteidigung Dorn Bathus vorbringen?«, donnerte der König.

Das Echo seiner Stimme verhallte und wich absoluter Grabesstille. Jetzt war die Zeit der Wahrheit gekommen. Die Zeit, etwas Gutes zu tun. Im Licht zu stehen. Brand ließ den Blick durch die Götterhalle schweifen, und die Worte kitzelten seine Lippen. Er sah Rauk an seinem Platz, wie er lächelte. Auch Sordaf stand da, die schwammigen Gesichtszüge jedoch starr wie eine Maske. Beide gaben nicht den leisesten Ton von sich.

Brand auch nicht.

»Es ist eine schwere Entscheidung, den Tod eines so jungen Menschen anzuordnen.« Uthil erhob sich vom Schwarzen Thron, und unter dem Rasseln von Kettenpanzern und dem Rascheln von Röcken sanken die Anwesenden, die Königin ausgenommen, auf die Knie. »Aber wir können uns nicht der richtigen Entscheidung verschließen, nur weil sie schmerzhaft ist.«

Vater Yarvi verbeugte sich noch tiefer. »Ich werde dein Urteil nach dem Gesetz vollstrecken lassen.«

Uthil reichte Laithlin seine Hand, und gemeinsam schritten sie die Stufen des Podests hinab. Was Dorn Bathu betraf, so stand es fest: Sie sollte unter Steinen begraben werden, bis sie von ihnen erdrückt wurde und starb.

Brand starrte ungläubig vor sich auf den Boden. Ihm war übel. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass einer von all den hier versammelten Jungen etwas sagen würde, denn schließlich waren sie alle ehrlich. Oder dass Hunnan erzählen würde, welche Rolle er selbst in dieser Sache gespielt hatte, denn schließlich war er ein sehr angesehener Waffenmeister. Und dann hätten der König oder die Königin die Wahrheit in Erfahrung gebracht, denn sie waren weise und rechtschaffen. Und überhaupt hätten die Götter doch niemals eine solche Ungerechtigkeit geschehen lassen, oder? Irgendjemand hätte doch etwas tun müssen.

Vielleicht hatten sie alle, so wie er, darauf gewartet, dass jemand anders die Dinge in Ordnung brachte.

Der König schritt steif von dannen, das blanke Schwert in den Armen wie ein Kind, und sein eisengrauer, starrer Blick schweifte weder nach rechts noch nach links. Die Königin neigte hin und wieder ganz leicht den Kopf, ein Nicken, das als Geschenk gedeutet wurde, und verfügte mit wenigen Worten, dass diesem oder jenem Höfling die Ehre zuteilwurde, sie in ihrem Kontor aufzusuchen, um wichtige Geschäfte zu tätigen. Sie kamen näher und immer näher.

Brands Herz pochte dröhnend laut in seinen Ohren, sein Mund öffnete sich. Die Königin warf ihm einen kurzen Blick zu, der ihn erstarren ließ, und in beschämtem und beschämendem Schweigen ließ er die beiden an sich vorüberschreiten.

Seine Schwester erinnerte ihn stets daran, dass es nicht an ihm sei, alles Unrecht aus der Welt zu schaffen. Aber wenn nicht er etwas tat, wer dann?

»Vater Yarvi!«, brach es aus ihm heraus, viel zu laut, und dann, als der Gelehrte sich zu ihm umwandte, fuhr er viel zu leise fort: »Ich muss mit dir sprechen.«

»Worüber denn, Brand?« Überrascht hielt er inne. Er hatte nicht erwartet, dass sein Gegenüber auch nur die geringste Ahnung haben würde, wer er war.

»Über Dorn Bathu.«

Ein langes Schweigen folgte. Der Gelehrte mochte nur wenige Jahre älter sein als Brand; er hatte so helle Haut und so helles Haar, als sei alle Farbe aus ihm herausgewaschen worden, er war so dürr, dass eine steife Brise ihn hätte umpusten können, und dann hatte er auch noch diese verkrüppelte Hand. Und dennoch, aus der Nähe betrachtet, war da etwas Kaltes in seinen Augen. Brand fühlte sich, als ob er unter diesem Blick dahinwelkte.

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »Sie ist keine Mörderin«, flüsterte er.

»Der König hält sie dafür.«

Bei den Göttern, seine Kehle war wie ausgedörrt, aber nun preschte Brand weiter vor, wie es sich für einen Krieger gehörte. »Der König war nicht unten am Strand. Der König hat nicht gesehen, was ich gesehen habe.«

»Und was hast du gesehen?«

»Wir haben darum gekämpft, wer einen Platz auf der Heerfahrt bekommen sollte …«

»Erzähle mir nie wieder Dinge, die ich schon weiß.«

Dieses Gespräch verlief ganz und gar nicht so glatt, wie Brand es sich erhofft hatte. Aber so ist es nun einmal mit den Hoffnungen.

»Dorn hat gegen mich gekämpft, und ich konnte sie nicht überwinden … Sie hätte einen Platz bekommen sollen. Aber Meister Hunnan ließ anschließend drei andere gegen sie antreten.«

Yarvi sah zu den Höflingen hinüber, die stetig aus der Götterhalle strömten, und trat etwas näher. »Drei auf einmal?«

»Edwal war einer von ihnen. Sie wollte ihn gar nicht umbringen …«

»Wie hat sie sich gegen diese drei geschlagen?«

Brand blinzelte überrumpelt. »Na ja … sie hat ihnen weitaus mehr Schaden zugefügt als umgekehrt.«

»Das steht außer Frage. Kürzlich erst habe ich Edwals Eltern mein Beileid ausgesprochen und ihnen versichert, dass ihnen Gerechtigkeit zuteilwerden würde. Sie zählt also sechzehn Winter?«

»Dorn?« Brand war sich nicht sicher, was das mit ihrem Urteil zu tun hatte. »Ich … glaube ja.«

»Und sie hat sich auf dem Kampfplatz die ganze Zeit über gegen die Jungen behauptet?« Er betrachtete Brand von Kopf bis Fuß. »Gegen die Männer?«

»Meistens behauptet sie sich nicht nur.«

»Sie muss sehr kampfeslustig sein. Und entschlossen. Und dickköpfig.«

»Soweit ich das beurteilen kann, ist ihr Kopf aus den dicksten Knochen, die es gibt.« Brand begriff, dass diese Bemerkungen wenig hilfreich waren, und schloss unsicher: »Aber … sie ist kein schlechter Mensch.«

»Das ist niemand, wenn man seine Mutter fragt.« Vater Yarvi stieß einen schweren Seufzer aus. »Was soll ich also deiner Meinung nach tun?«

»Mei… meiner Meinung nach?«

»Befreie ich also dieses Mädchen, das so viel Ärger macht, und mache mir damit Hunnan und die Familie des getöteten Jungen zu Feinden, oder lasse ich sie mit Steinen zermalmen, um ihre Ankläger zufriedenzustellen? Wie lautet deine Lösung?«

Brand hatte nicht erwartet, nach einer gefragt zu werden. »Ich denke mal … du solltest nach dem Gesetz urteilen?«

»Dem Gesetz?« Vater Yarvi schnaubte. »Das Gesetz folgt eher Mutter Meer als Vater Erde und ist ständig in Bewegung. Das Gesetz ist eine Theaterpuppe, Brand, die das sagt, was ich sie sagen lassen will.«

»Ich dachte nur, ich sollte jemandem die … na ja … die Wahrheit sagen?«

»Als ob die Wahrheit etwas Kostbares wäre. Unter jedem Blatt, das im Herbst fällt, finde ich eine Wahrheit, Brand, und jeder hat seine eigene. Du hast dir also weiter nichts dabei gedacht, als die Last deiner Wahrheit bei mir abzuladen, ja? Es sei dir unendlich dafür gedankt, denn schließlich habe ich allein damit, Gettland vor einem Krieg mit der gesamten Bruchsee zu bewahren, nicht annähernd genug zu tun.«

»Ich dachte … ich dachte, damit täte ich etwas Gutes.« Gutes tun, das erschien ihm ganz plötzlich nicht mehr wie ein hell leuchtender Schein, klar wie Mutter Sonne, sondern eher wie ein unsteter Glimmer im Dämmerlicht der Götterhalle.

»Gutes für wen? Für mich? Für Edwal? Für dich? Ebenso, wie jeder seine eigene Wahrheit hat, sieht auch das Gute für jeden anders aus.« Yarvi kam noch ein wenig näher und sprach jetzt noch leiser. »Meister Hunnan mag vermuten, dass du mir deine Wahrheit anvertraut hast, und was dann? Hast du die Folgen bedacht?«

Sie senkten sich jetzt auf Brand, kalt wie frisch gefallener Schnee. Er hob den Kopf und sah Rauks Augen in den Schatten der Halle blitzen, die sich allmählich leerte.

»Ein Mann, der all seine Gedanken darauf richtet, Gutes zu tun, ohne über die Folgen nachzusinnen …« Vater Yarvi hob seine verdorrte Hand und drückte Brand den einen krummen Finger gegen die Brust. »Das ist ein gefährlicher Mann.«

Damit wandte sich der Gelehrte ab, und die Spitze seines Albenstabes pochte auf die Steine, die der Lauf der Jahre glatt geschliffen hatte. Brand blieb zurück, starrte mit aufgerissenen Augen ins Dunkel und machte sich mehr Sorgen als zuvor.

Ihm war überhaupt nicht so, als stünde er im Licht.