V8 – Du willst der Beste sein!
Mit Illustrationen von
Astrid und Marc Reimann
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Redaktion: Barbara van den Speulhof, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Astrid und Marc Reimann, Artattack-Design, München
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-4553-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
01 Schnee von gestern
02 Kein Weg zurück
03 Fast und Furious
04 Ein Pfeil, den man durch die Sonne schießt
05 Und wir werden Weltmeister
06 Das ist alles nur Müll
07 Ich bin nicht perfekt
08 Ob das wohl gut geht?
09 Weihnachtsschwäne können furzen
10 Vampire und Blutsauger
11 Spinnen, Sterne, Apfelträume
12 Regenbogenglitzerndes Ölpfützenfunkeln!
13 Das ist kein Traum! Das hier ist echt!
14 Nur einer von zweien kann der Beste sein
15 Es gibt keine Freundschaft unter den Besten
16 Sei gut! So gut, wie du kannst!
17 Der Dachsmann ist ein echter Schisser
18 Einmal verlieren, damit du der Beste bist
19 Das dunkle Geheimnis von Kiki Lilou
20 Der Trottel! Der Hasenfuß!
21 Ein Märchen für Kinder
22 Totalschaden
23 Das war’s
24 In den Klauen von Wildernacht
25 Ich kämpfe für das, was mir alles bedeutet
26 Lockvogel Robin
27 Das Ende vom Märchen
28 Porsche Puscher und Böse Ente
29 Du bist ein Fake, Kiki!
30 Das darf David nicht wissen
31 Der Galgenberg
32 Das Hasenfußrennen
33 Betrogen – Verraten
34 Die doppelte Ladung, fast achtzig PS
35 Turbo Poker
36 Das Rennen ist aus
„Bau dir ’ne Leiter,
bis zu den Sternen,
und wenn du oben ankommst,
dann pack zu!“
(Sebastian Horn, Banana Fishbones 2012)
Horizont endloser Höllenhighway! David fühlte sich fantastisch. Sein blau-weißes Gokart flog über die Straße und als er Vollspeed auf die Brücke bog, saugte sich das Profil der Reifen an den Asphalt. Ja, sein Hintern spürte ihren Grip. Oder halt, nein: Er spürte, wie sie ihn beinah verloren. Doch bevor das Gokart aus der Kurve brach, trat er kräftig in die Pedale und schoss auf die lange Brücke hinaus. Die Brücke, die sein Zuhause, den sicheren Norden, mit dem Süden verband. Dem Süden der Stadt, der verbotenen Zone.
Doch für David war die verbotene Zone jetzt das verheißene Land. Ölpfützen funkelnder Nürburgring! Er dachte noch einmal an die Blamage. Wie er vor nicht einmal anderthalb Tagen als gurkennasige Ballerinenelfe im rosa Tutu auf dem Titelbild der Zeitung prangte – und wie die Schlagzeile darüber seinen Traum zerplatzen ließ:
„Eigentlich wollte er Rennfahrer werden.“
Seitdem sich David erinnern konnte, wünschte er sich ein richtiges Kart. Ein Kart für die Kartbahn The Path of Glory, auf der nur die Besten der Besten fahren durften. Die Kartbahn der zukünftigen Profirennfahrer. Für so ein Kart hatte David gespart, und dafür hatte er drei Jobs angenommen. Einen als Zeitungsausträger, einen als Gurke, die Werbung für einen Supermarkt lief, und einen als Ankleidemodell für Ballerinakostüme in einem Kinder-Fantasy-Ballett.
Huh! Schleimiger Diesellutscher. Das war nicht gerade heldenhaft. Nein, das war sogar peinlich. So peinlich, als müsste man nackt, mit nichts als einer rosa Prinzessinnen-Unterhose bekleidet, durch die Fußgängerzone laufen.
Aber für einen noch nicht einmal elfjährigen Jungen gab es keine besseren Jobs. Und am Ende der Ferien hätte es David gereicht. Er hätte 3400 Euro gehabt. Die Hälfte der Summe, die so ein Kart kostet. Doch Luca hatte alles zerstört. Luca, seine Schwester. Luca, die Pest.
Denn obwohl die erst neun war, war sie jetzt schon meschugge. Durchgeknallt. Crazy. Sie glaubte tatsächlich, dass sie ein Superheld war: der Diamond Dachsmann von Drachenherz. Und als der war sie auf den Turm geklettert. Den Turm vor der Kartbahn.
Auf dem strahlte das Logo und der Schriftzug darunter: The Path of Glory – Für die Besten der Besten. Und genauso einer wollte sie sein. Die Beste der Besten. Das wollte sie ihrem Bruder beweisen. Ihrem Bruder, der auf sie aufpassen musste. Ja, ‚Schwesterchen sitten‘ war Davids Job Nummer Vier. Das war sein Deal mit Mama und Papa. Jede freie Minute der schulfreien Zeit. Jede Minute der Ferien. Dafür zahlten sie ihm die Hälfte des Karts. Die andere Hälfte, die er nicht hatte. Und deshalb klebte Luca wie ein alter Kaugummi an seinem Fuß.
Aber die Tutu-Elfen-Ankleideprobe war ein absolutes „No“. Zu der konnte David Luca beim besten Willen nicht mitnehmen. Nein, nicht nach dem Debakel im Supermarkt, wo sie ihn vor Kiki blamiert hatte. Vor Kiki Lilou. Oh, gerade vor der! Dem einzigen Mädchen, das David … das David Huh! Nein! Beim verchromten V8 … das war eine Geschichte, die hier nicht hingehörte.
Deshalb spendierte er Luca ein Eis. Im Döner Diner von Frodo Bilboa direkt gegenüber dem Kartbahnturm, und auf den kletterte Luca natürlich hinauf. Anstatt nichts zu tun und auf ihn zu warten, verzapfte sie wieder einmal Mist. David sah das vom Ankleidetisch im Ballettschultanzsaal. Er starrte durch das Fenster und dort, 15 Meter über dem nackten Asphalt, verloren Lucas Super-Elektromagnet-Heldenstiefel plötzlich den Halt. Sie fielen dem Wackelkontakt im Schalter zum Opfer, und während ein Stiefel in die Tiefe stürzte, erinnerte sich Luca an ihre Angst. Höhenangst im Quadrat und das noch mal neun.
Für Luca war selbst ein Bordstein ein bis in die Hölle reichender Abgrund, und David blieb nichts anderes übrig, als sie zu retten: im gurkennasigen Elfentutu.
Der Rest war nur grausam. David wurde als Gurke gefeuert und anstatt Geld zu verdienen, hatte er Schulden. Das zerfetzte Elfentutu kostete ihn über 500 Euro. Dazu kamen Zeitungsartikel und Fernsehbericht. David war ruiniert. Finanziell und moralisch. Und sein Traum war zerplatzt. Niemals im Leben würde er ein Rennkart bekommen, und er lechzte nach Rache. Er wollte Luca umbringen, ja, oder zumindest wollte er ihr nie verzeihen.
Doch jetzt war das alles nur noch Schnee von gestern. Vorgestern Nacht hatten sie die Münze bekommen. Die magische Münze. Die Münze der Burg. Die Burg, das ist die Rennfahrerschule, aus der alle Weltmeister kommen. Daraufhin hatten sie sich in die Hölle getraut: in die Höhle des Löwen. Sie hatten den Barakudas getrotzt und auf Tod und Leben geschworen. Und sie waren am Ende zu Freunden geworden. Zum Rennstall V8. Egal, wie gegensätzlich sie waren und wie sehr sie sich mochten oder hassten.
Robin, der Schnösel aus der Villengegend im Norden, der beste Kartfahrer auf der Straße des Ruhms. Kiki Lilou, das Mädchen aus der verbotenen Zone, das ihr ölverschmiertes Gesicht immer unter einer Kapuze verbarg, der großen Kapuze ihres hellblauen Sweatshirts. Luca, Davids verrückte kleine Schwester, die keine Schwester sein wollte, und die sich deshalb Tag und Nacht als Superdachsmann verkleidete. Ja, und natürlich am Ende er selbst: David Michele, der Junge mit dem Rennfahrerhintern und dem größten und schnellsten Traum, den es gab.
Und dieser Traum ging jetzt in Erfüllung. Trotz aller Blamagen und Hindernisse. Er hatte immer an sich geglaubt. Nein, nicht an sich selbst, sondern an Kiki Lilou und vor allen Dingen an Robin. Und deshalb flog er über die Straße, die Straße am Fluss und bog vor dem Dachsmannkart seiner Schwester auf die lange Brücke ab. Die Brücke zum Süden. Denn dort, im Herzen der verbotenen Zone, warteten zwei Autos auf ihn. Zwei Rennwagen, die man nicht kaufen konnte. Zwei schnuckelige Biester, die schnell genug waren, um die Da-Vinci-Raketen der Barakudas zu schlagen. Und das in zwei Wochen.
Heiliger Big-Block von Muscle-Car! Ja, das war David seit letzter Nacht klar. Diese Sommerferien, die erst vor drei Tagen begonnen hatten, waren jetzt schon die besten Sommerferien der Welt.
Die besten Ferien und vielleicht die letzten. Denn wie jeder, der vor lauter Freude nur noch nach vorn schaut – ohne Furcht in die Zukunft –, schaute David nicht mehr zurück. Sonst hätte er das Auto gesehen, dass ihnen wie ein knallgelbes Reptil über die Uferstraße folgte. Ein Auto, das er schon kennen musste und dessen Motor so unheilvoll klang wie die zwei schwarzen Streifen. Die zogen sich fett vom doppelten Auspuff über das Dach und die Motorhaube bis nach vorn zum Kühlergrill. Und der grinste so böse wie der Fahrer.
Doch David schaute nicht nach hinten. Er ließ den sicheren Norden zurück und raste auf der Brücke über den Fluss, bis er die Wohnwagen der Gipsys im Süden erreichte. Hier zog er die Bremse und schaute sich um. Hier war er mit Robin und Kiki verabredet. Doch die waren nicht da.
„Was hab ich dir über den Schnösel gesagt?“, motzte Luca, die in ihrem schwarz-weißen Dachsmann-Kart jetzt neben ihm hielt. Sie versuchte damit, ihre Angst zu vertreiben. Die Wohnwagen der Roma sahen nicht besonders einladend aus.
„Dein Robin hat doch Angst, sich dreckig zu machen, und er steht dazu noch auf Kiki Lilou.“
David durchzuckte ein heißkalter Blitz. Doch das würde er Luca niemals verraten. Das mit Kiki Lilou ging sie nichts an. Das ging niemanden irgendetwas an. Das war eine völlig andere Geschichte.
Da tauchte Robin plötzlich auf. Er steckte den Kopf durch das Geländer des Weges, der von der Brücke zur Flusswiese führte.
„Wir sind beide hier“, sagte er mit trotziger Stimme, und Kiki, die nur einen Augenblick später neben ihm erschien, grinste sie an:
„Und ihr solltet auch ganz schnell zu uns kommen. Bevor euch der da hinten entdeckt.“
Sie deutete mit dem Kopf zur Brücke. Deren Fahrbahn war nicht gerade. Sie schwang sich zur Mitte ein wenig hoch und hinter dieser kleinen Erhebung tauchte das knallgelbe Autodach auf.
„Das ist der Bulle!“, schrie Luca erschrocken.
„Los, komm!“, befahl David, ließ seine Reifen durchdrehen und raste vor Luca zur Uferwiese hinab. Dort sprangen sie aus ihren noch rollenden Karts und eilten zu Kiki und Robin zurück.
Sie waren im Süden, fiel es David siedend heiß ein. Sie waren noch Kinder und wollten Rennautos bauen. Autos, die man nicht kaufen konnte. Und mit denen wollten sie Rennen fahren. Geheime Rennen um die noch geheimere Burg. Das konnte der Polizei ganz bestimmt nicht gefallen. Und mit diesen Gedanken spähten er und die anderen durch das Geländer auf die Brücke zurück.
Der schwarz-gelbe Chevy Monza glitt über die Brücke, wie sich ein Krokodil an seine Beute anschleicht.
„Oh, das war zu langsam“, grinste Habicht noch einmal, entblößte die Zähne und griff mit der rechten Hand auf den Beifahrersitz. Dort lag die Kiste mit seinen Sweeties, den heiß geliebten Süßigkeiten.
„Ich hab euch gesehen. Ich weiß, wo ihr seid.“
Dann fuhr er gemächlich an den Kindern vorbei. Er sah Davids Helm durch das Geländer blitzen. Er sah Lucas Dachsmannmütze und ihr Kostüm. Er sah Kikis blonde Locken, die aus der großen Kapuze fielen. Er sah ihr ölverschmiertes Gesicht und den Dreck an Robins Anzug. Doch er tat so, als wäre er blind. Als würde er die vier Kinder nicht sehen. Er hielt sich die Marshmallow-Maus vor den Mund und biss ihr genüsslich in die Nase.
„Mein Vater hat ihn beauftragt!“, erklärte Robin, als Habicht außer Sichtweite war. „Er soll mich suchen und finden und …“
„Dann warst du heute noch gar nicht zu Hause?!“ David war baff. Das hatte er Robin nicht zugetraut. Der war ja noch cooler als dieser Huck Finn. Der Kerl aus den Büchern, der mit Tom Sawyer rumhing und lauter verbotene Sachen machte.
„Er hat hier unter der Brücke geschlafen!“, bestätigte Kiki seine Vermutung und während David nur stolz darauf war, so einen mutigen Freund zu haben, erwachte Lucas Misstrauen:
„Ach ja, und woher willst du das bitte wissen? Hast du vielleicht auf ihn aufgepasst?!“
David schoss das Blut in den Kopf und ließ seine beiden Ohrläppchen glühen: Kiki und Robin allein, ähm, zu zweit … hier unter der Brücke …
Da packte sich Kiki den erstbesten Gegenstand, der neben ihr im Müll am Straßenrand lag, und schleuderte die rostige Kanne zornig gegen Lucas Knie.
„Autsch! Das tut weh!“, beschwerte die sich und blitzte Kiki giftig an.
„Das sollte es auch!“, schoss die zurück und wandte sich dann an David und Robin. „Und euch soll es warnen. Ich bin zwar schon zwölf, aber ich habe mit Jungs trotzdem noch nicht das Geringste zu tun.“
Sie schaute die Jungen zornig an, sprang die Straßenböschung hinab und setzte sich in ihr fantastisches Kart. Das war nicht wie Davids mit Plastik verkleidet, sondern mit echtem, rostigem Stahl.
„Hier, der ist für dich!“, sagte sie spöttisch zu Robin, der hilflos dastand und zusehen musste, wie David und Luca in ihre Fahrzeuge sprangen. Er selbst war zu Fuß von zu Hause geflohen. Er selbst hatte kein Gokart. Er brauchte das nicht. Er wurde von seinem Vater überallhin chauffiert: zur Schule, zur Kartbahn oder wohin er sonst wollte. „Du darfst bei mir auf den Beifahrersitz.“
Robin schaute verdattert von der Motorradsitzbank aus speckigem Leder, die Kiki Lilou auf ihr Kart montiert hatte, zum peinlichen Fahrradhelm.
„Der passt doch zu dir!“, genoss das Mädchen den Spott und trat schon in die Pedale. „Er ist golden und glänzt und er ist ganz sauber.“
Und Robin blieb nichts anderes übrig. Er setzte den goldlackierten Plastikhelm auf und sprang in den Sattel. Er hielt sich sogar an Kiki fest. Er schlang seine Arme um ihren Bauch. Das sah David ganz deutlich – und so rasten sie durch die Straßen der Arbeitersiedlung im Süden der Stadt. Sie fuhren ins Herz der verbotenen Zone.
„Hey, David!“, motzte Luca, die vor ihrem Bruder fuhr. „Was meint die damit: Sie hat mit Jungs noch nichts zu tun? Hält die uns vielleicht für drei schnuckelige Mädchen?“
„Ich kann ja mal nachschauen!“, lachte Kiki Lilou und lenkte ihr Kart ganz nah an Lucas.
„Ich warne dich, hörst du!“, erschrak Davids Schwester, die keine Schwester sein wollte. Keine Schwester, kein Mädchen und nicht Luca Michele. Sie war doch der Dachsmann von Drachenherz. „Ich warne dich, hörst du!“, rief sie noch einmal, und Kiki, die ihr nicht zu glauben schien, überholte sie lachend.
„Okay, wie du willst. Dann wird es Andalee selber tun.“
Und obwohl Andalee so melodisch klang, so hell und melodisch, klang dieser Name in Lucas Ohren in diesem Augenblick mindestens so dunkel wie der einer Hexe.
„Doppelgiftschwänziger Rochenwaran!“ Luca starrte auf die Fabrikhalle, die sich mit ihrer ochsenblutroten Fassade vor ihnen in den Himmel erhob. Sie sah das Schild mit dem bulligen Nashorn. Andalee hieß das Biest und darunter klaffte das offene Tor der Halle wie ein riesiges schwarzes Loch, aus dem es kein Entrinnen gab. Für den ersten Augenblick schien es Luca sogar, als würden sich die Auto- und Flugzeugwracks, die auf dem Platz davor lagen, langsam bewegen. Als saugte das schwarze Loch sie ein.
„Wer zum Teufel ist Andalee?“, fragte der Dachsmann mit heiserer Stimme. Sie schaute zu David, doch der war im Gegensatz zu ihr von diesem Horrorschrottplatz fasziniert.
„Oh“, grinste Kiki. „Andalee ist die, die das hier alles bewacht. Und die jedem Kerl, der keiner ist, den Schlüpfer über die Ohren zieht.“
Sie setzte den Helm ab, stülpte die große Kapuze über den Kopf, sodass ihr Gesicht in dessen Schatten verschwand, und ging auf das schwarze Hallenloch zu.
Luca erschrak. Sie wollte nur weg. Doch David und Robin folgten dem Mädchen. Sie liefen ihm nach wie dem Rattenfänger von Hameln.
„David!“, rief Luca und sprang aus dem Kart. „David!“, rief sie und schloss zu ihm auf. „Das ist hier der Süden. Der tiefste Süden.“
Sie schaute sich um. Doch sie konnte nichts sehen. Sie verschwanden gerade im schwarzen Loch. Innen war es rübenkrautfinster und draußen so hell, dass man nichts sehen konnte. Da packte sie ihren Bruder am Arm: „Und wehe“, zischte sie drohend, „du verrätst dieser Andalee, dass ich kein Kerl und kein Junge bin.“
Doch sie erhielt keine Antwort. David hörte ihr einfach nicht zu. Er war noch immer fasziniert und in seinen staunenden Augen war das schwarze Loch in der ochsenblutroten Wand unter dem Nashornbiest keine Gefahr, sondern der Eingang zum Paradies.
Die Halle war riesig. Das sah er, als sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnten: so riesig wie eine Kathedrale. Autowracks türmten sich darin auf. Motoren wuchsen wie Pflanzen um die mächtigen Säulen. Kronleuchter hingen von der Decke und sogen den Blick in die Tiefe, ans Ende der Halle, wo sich eine aus Auspuffrohren gebaute Orgelpfeife gegen das bunte Fenster erhob. Und das reichte wie in einer Kirche bis zur unsichtbaren, in der Dunkelheit hinter den Kronleuchtern verschwindenden Decke hinauf.
„Wow!“, staunte David, „Woher kennst du das hier?“ Von so einem Ort hatte er schon immer geträumt.
„Oh,“, sagte Kiki, die vor ihm ging, „ich bin hier zu Hause.“
David blieb die Spucke weg.
„Zuhause? Oh Mann! Und warum hast du mir das noch nie gesagt? Wir gehen seit vier Jahren auf dieselbe Schule.“
„Ach wirklich?“ Kiki drehte sich um. „Ich hab es versucht. Erinnerst du dich?“
Sie sah David an und der wurde rot. Er erinnerte sich an den Supermarkt: „Ich will dir was zeigen“, hatte sie zu ihm gesagt und dann fielen ihm noch mindestens zwei Dutzend andere Gelegenheiten ein: Blicke von Kiki auf dem Pausenhof. Oder im Klassenzimmer, wenn er sich umsah, weil er ihren Blick im Rücken spürte. Wie sie am Straßenrand auf ihn zu warten schien … nach der Schule oder dem Sport …
„Einen Moment!“, hörte er Lucas Stimme und dann spürte er ihre Hand, die seinen Arm umklammert hielt. „Heißt die da vielleicht Andalee?“
Sie zeigte nach links in eine Gasse zwischen den Autos. Dort lag ein rehfarbenes monströses Tier, das nicht mit einem Reh verwandt war. Es war ein bulliger, mürrischer Mastiff. Ein 60 Kilo schwerer Kampfhund.
„Nein, der heißt Fast!“, kam die Antwort aus der Höhe der Halle, wo die Decke im Dunkel verschwand. Doch aus diesem Dunkel senkte sich jetzt, von einem Kranarm getragen, ein saugglockenbestückter Geschützstand herab.
Rot leuchteten die Gummigeschosse im petrolgrünen Heck des kubanischen Straßenkreuzers. Aus dem war der Geschützstand nämlich gebaut und dahinter saß eine Frau. Rastagelockt und um die 30. Sie grinste verwegen und wischte sich noch mehr Öl ins Gesicht.
„Der da heißt Fast!“, wiederholte sie genussvoll und nickte dann drohend zur anderen Seite. „Und der da ist …“
„… Furious“, hauchte Robin beeindruckt und entdeckte den zweiten Kampfhund, der rechts von ihnen im Schatten döste. Er war die schwarze Seele seines Bruders.
„Oh, verflixt, Kiki!“, flüsterte David. „Ist das deine Mutter?“
„Oh, ja!“ kam die Antwort vom Geschützstand, der jetzt den Hallenboden erreichte. „Aber das wird euch nichts nützen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass das da meine Schoßhündchen sind.