Der letzte Atemzug seiner Opfer soll ihm Unsterblichkeit verleihen …
Auf den Jungferninseln in der Karibik geht die Angst um: Eine Mordserie erschüttert das Urlaubsparadies. Allen Opfern fehlt die rechte Hand – ist die alte Legende vom »Machetenmann« zu neuem Leben erwacht? Der pensionierte FBI-Agent E.L. Pender wird um Hilfe gebeten. Pender hat schon bald eine Ahnung, wer hinter den Morden steckt – doch er kommt nicht an den Serienkiller heran …
Meisterhaft spielt Jonathan Nasaw in diesem Psychothriller mit den Ängsten seiner Figuren – und seiner Leser.
Jonathan Nasaw (geboren 1947) lebt in Kalifornien und ist der Autor zahlreicher Horror- und Psychothriller. Viele davon sind SPIEGEL-Bestseller.
Jonathan Nasaw
Seelenesser
Aus dem amerikanischen Englisch von
Ursula Gnade
beTHRILLED
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Digitale Neuausgabe
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Die Originalausgabe TWENTY-SEVEN BONES erschien 2004 bei Atria Books, New York
Copyright © 2004 by Jonathan Nasaw
Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
unter Verwendung einer Illustration © shutterstock: luxorphoto
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-4178-2
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Von zu großer Liebe zum Leben
Erlöst und nicht länger hoffend und bang,
Gilt welch immer Götter es geben mag
Im Stoßgebet unser innigster Dank,
Dass kein Mensch auf ewig lebet
Dass die Toten nie auferstehen
Dass der Flüsse matteste webet
Zum Meer seinen Weg, um drin aufzugehen.
Algernon Swinburne
»Der Garten der Persephone«
Sieh meine Lippen beben
Und die Augen sich drehen in den Kopf hinein,
Saug ein meinen letzten Odem
Und fang meine entfleuchende Seele ein!
Alexander Pope
»Eloise an Abelard«
1985 liegt in Lolowa’asi, einem Dorf auf der Insel Pulau Nias, fünfundsiebzig Kilometer vor der Westküste von Sumatra, ein Häuptling im Sterben.
Oder genauer gesagt, er sitzt im Sterben. In Lolowa’asi ist es nämlich immer noch Brauch, dass ein Häuptling die obligatorische Totenbettrede aufrecht sitzend hält, in seinem mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Ehebett, wenn nötig im Rücken gestützt von einer oder mehreren seiner Ehefrauen, in seiner Nähe der Schädel oder die rechte Hand eines seiner Feinde, damit er ihn über die Brücke in die nächste Welt mitnehmen kann.
Eine solche Rede, in der nicht nur das Leben und die Herrschaft des großen Mannes rekapituliert werden, sondern auch die Geschichte des Dorfs, zieht sich manchmal über Tage hin. Diese hier hat vor etlichen Stunden begonnen. Aber obwohl das dörfliche Leben um das Haus des Häuptlings herum seinen gewohnten Gang geht – Frauen kochen Jamswurzeln oder arbeiten auf den Feldern; Männer hacken Holz oder füttern und striegeln die Schweine, die im Wirtschaftssystem der Insel den wesentlichsten Quell und die demonstrative Darstellung des Reichtums verkörpern –, hat sich im Omo Sebua, dem Großen Haus, bisher noch keiner der beiden potenziellen Nachfolger des sterbenden Häuptlings von seinem Totenbett entfernt.
Für diese Anhänglichkeit gibt es einen Grund. In Lolowa’asi werden sowohl die Nachfolge als auch das Erbe noch auf die herkömmliche Weise übertragen: auf denjenigen unter den Nachkommen, dem es gelingt, dem Häuptling im allerletzten Augenblick so nahe zu sein, dass er dessen Todesodem tief einatmen kann, denn es herrscht der Glaube, dieser enthielte sein sofu und sein fa’atua-tua, seine Autorität und seine Weisheit, aber auch das allein ausschlaggebende lakhomi, den spirituellen Ruhm des Verstorbenen. Gemeinsam machen sie sein eheha aus – seinen Geist oder seine unsterbliche Seele.
Bring diesen Atemzug an dich, und du bekommst alles: die Schweine, das Land, den Geist, das Große Haus. Daher warten die beiden Erben mit nackter Brust und lauschen, die mit Goldfäden durchwirkten Festtags-Sarongs um die Hüften geschlungen, während die Frauen kommen und gehen und Platten mit Reis und Huhn und knusprigen Schweinekrusten auftragen.
Unter den Frauen ist aber auch eine, die weder kocht noch serviert. Sie ist eine junge Weiße, eine Amerikanerin, die Hälfte eines zweiköpfigen Teams von Anthropologen, die miteinander verheiratet sind. Sie und ihr Mann benutzen einen Camcorder für eine Dokumentation über das Dorf, das als die letzte Ansiedlung in der indonesischen Provinz Nordsumatra gilt, in der die traditionelle Kultur noch gepflegt wird. Er bedient den Camcorder, während seine wesentlich jüngere Ehefrau handschriftliche Notizen macht.
Die Anthropologen, die von dem Ritual auf dem Totenbett gehört, es aber noch nie selbst erlebt haben, wissen, was als Nächstes zu geschehen hat. Gemäß der Tradition wird der Häuptling nach der Rede und den Segnungen (alle im Raum Anwesenden einschließlich der Amerikaner kommen für ein gütiges Wort oder ein Stück von dem geweihten Kieferknochen eines Schweins infrage), von seinen Frauen gestützt, auf dem Totenbett sitzen bleiben, während seine beiden Söhne am Fußende des Betts im Kreis herum gehen.
Wenn seine erste Frau ahnt, dass der Häuptling stirbt, wird sie den anderen Ehefrauen ein Zeichen geben. Gemeinsam werden sie ihn wieder auf den Rücken legen, und der glückliche Erbe, der dem Bett in dem Moment am nächsten ist, wird sich mit geöffnetem Mund über den Häuptling beugen und den letzten Atemzug in sich aufsaugen, sofu, fa’atua-tua, lakhomi, eheha und alles, was dazu gehört.
Einzig und allein das Timing ist ausschlaggebend – die Amerikaner erwarten eine Art feierliche Variante des Spiels »Die Reise nach Jerusalem« oder etwas in der Größenordnung, nur dass in diesem Fall ungewöhnlich intensiv gerangelt wird, wenn die Musik, im übertragenen Sinn, endet. Unter vier Augen haben sie sich sogar darüber lustig gemacht.
Aber am Ende hat das, was sich an diesem Sommernachmittag abspielt, gar nichts Komisches an sich. Die Kamera hält alles fest. Ehe sie den anderen Ehefrauen bedeutet, dass für den Häuptling die Stunde geschlagen hat, die für uns alle schlagen wird, gibt die erste Ehefrau des Sterbenden dem älteren Sohn, Ama Bene, dem Sohn ihrer eigenen Lenden, ein verstohlenes Zeichen, indem sie den Handrücken, wie zum Zeichen ihrer Trauer, auf ihre Schläfe legt. Er verlangsamt seine Schritte und steht neben dem Kopf seines Vaters, als sie den alten Mann wieder auf die Matratze mit dem Batiktuch sinken lassen. Die magere nackte Brust – nicht einmal der reichste Mann in Lolowa’asi hat viel Fett auf den Rippen – senkt sich, hebt sich und senkt sich wieder.
Als Ama Bene sich gerade über seinen Vater zu beugen beginnt, zeigt die Bandaufnahme, dass er gewaltsam zur Seite gestoßen, sogar bis über den Bildrand hinausgeschoben wird, und während in dem Raum schlagartig Chaos ausbricht, ist Ama Halu, der jüngere Sohn, derjenige, den die Kamera einfängt, wie er sich über den Häuptling beugt. Er atmet tief ein, ein gewaltiges jauchzendes Luftschnappen, und reißt triumphierend die Arme in die Luft.
Aber im nächsten Moment taumelt Halu vom Bett zurück, und eine blutige Speerspitze, die nach unten weist, ragt in einem obszönen Winkel aus seinem Unterleib hervor. Hinter ihm kommt Bene wieder ins Bild, packt den Speer und lehnt sich zurück, und um der Hebelwirkung willen stemmt er seinen nackten Fuß gegen das Hinterteil seines jüngeren Bruders.
Die Speerspitze verschwindet. Bene kippt mit dem besudelten Speer in der Hand nach hinten um, während Halu taumelnd zu der Anthropologin wankt. Sie fängt ihn in ihren Armen auf. Blutige Schaumblasen quellen aus seinem Mund.
In der Zwischenzeit ist Bene wieder auf die Füße gekommen und rast auf die beiden zu. Seine Absicht besteht eindeutig darin, den väterlichen Atem auf diesem Umweg zurückzuverlangen. Aber Halu hat andere Vorstellungen. Er wirft einen Blick über seine Schulter, bedenkt seinen Bruder mit einem breiten, blutigen Grinsen und dreht sich dann wieder zu der Frau um. Er umklammert mit beiden Händen ihren Hinterkopf und zieht ihr Gesicht an seines, öffnet den Mund ganz weit und legt seine Lippen auf ihre.
Sie wehrt sich mit blutverschmiertem Mund. Sie versucht, den Kopf abzuwenden, aber obwohl Bene sich bemüht, die beiden voneinander zu lösen, ist Halus Todesgriff nicht zu durchbrechen. Halu sinkt schwer auf die Knie, die Frau ebenfalls. Er haucht seinen letzten Atem in ihren Mund, während sein Bruder wiederholt mit dem Ende des Speers von hinten auf ihn einschlägt wie mit einem Knüppel. Die Frau fühlt den dumpfen Aufprall der Hiebe indirekt; der Vorderzahn, der an jenem Tag abbricht, wird nie überkront werden.
Was den letzten Atem des Sterbenden angeht – er ist so zart wie ein Seufzer, sauer und kupferhaltig, und in der Vorstellung der Frau besteht kein Zweifel daran, und für sie wird auch nie Zweifel daran bestehen, dass er mehr als nur Kohlendioxyd enthält. Die Hände, die ihren Kopf umklammert halten, lockern sich; der Tote stürzt auf den Boden. Als sie jetzt allein dort kniet, blickt sie auf – Ama Bene, der Brudermörder, steht über ihr; sein Gesicht ist vor Wut verzerrt, und er hat den Speer mit der besudelten Spitze wurfbereit in der Hand. Sie bedenkt ihn mit einem blutigen, triumphierenden Grinsen. Das Blut und der Triumph gehören nicht nur ihr allein, sondern auch dem Toten; das Grinsen dagegen ist ganz und gar ihr eigenes.