»Deine Eltern sind Alt-68er, meine Alt-
38er«, meinte Robert, als wir im Frühling 2008 in Floridsdorf, dem 21. Wiener Gemeindebezirk, auf dem Weg zur Haltestelle der Linie 30 waren. Wir gingen an der Ostmarkgasse vorbei. Ein Plakat der Freiheitlichen Partei Österreichs strahlte uns entgegen. Es forderte Abendland in Christenhand.
»Pummerin statt Muezzin, erinnerst du dich?«, fragte Robert.
»Jaja«, antwortete ich gelangweilt. Die Pummerin ist die Glocke im Wiener Stephansdom, die zu Silvester das neue Jahr einläutet. Offenbar hatte die FPÖ kleine, rassistische Kinder zu einem Reimwettbewerb aufgerufen.
Wir kamen an einem weiteren das Abendland rettenden Plakat vorbei. Hier hatte jemand Flaschenpfand übers Abendland geklebt. Flaschenpfand in Christenhand stand nun da. Wir mussten lachen.
Als wir erneut an einem FPÖ-Plakat vorbeikamen, schrieb Robert mit einem Kugelschreiber Katholizismus ist heilbar über das Wort Christenhand. Als Volksschulkind hatte er mit den weißen Rettet den Steffl-Gelddosen aus Blech über die Mariahilfer Straße gehen müssen, um Geld für den unersättlichen Stephansdom zu sammeln. Der Dom war wie ein frommes Loch, in das Geld geworfen wurde. Ein Beweis, dass es Gott nicht geben konnte. Jedes Gebäude ist irgendwann einmal fertig, nur der Dom nicht. Ein offensichtlicher Sisyphusdom. Jedes Wiener Schulkind wurde seit Jahrzehnten dazu verdonnert, für den Steffl betteln zu gehen, egal, ob es Moslem war oder evangelisch und ausgetreten wie Robert.
»Gott war auch evangelisch, zumindest zum Zeitpunkt, als er aus der Kirche austrat«, sagte Robert, der seinen Zivildienst in Israel gemacht hatte. In Ein Gedi, einem Kibbuz am Toten Meer, hatte er als Bademeister gearbeitet, der vielleicht sinnloseste Job der Welt – es kann dort niemand untergehen. Deshalb hatte er viel Zeit, sich mit jungen Studentinnen aus Tel Aviv oder Haifa zu beschäftigen. Nur hin und wieder bekam ein hautkranker Deutscher das brennende Salzwasser in die Augen oder ein sich kratzender Russe lag unbeholfen auf dem Bauch, unfähig, sich in dem schweren Wasser selbständig zu drehen. Dann ließ Robert kurz von der jeweiligen Studentin ab und rettete Neurodermitiker und Psoriatiker, die dort wochenlang kurten. Erzählte er jedenfalls.
»Ist dieses Tote Meer so etwas wie der Zauberberg?«, fragte ich.
»Eher eine Zaubersenke. Es liegt etwa 400 Meter unter dem Meeresspiegel. Das Sonnenlicht kommt dort gefiltert an, deshalb kann man länger in der Sonne liegen. Klimatherapie nennt man das. Die Mineralien im Wasser, der hohe Bromgehalt in der Luft, die Sonne … Du siehst die unterschiedlichsten Hautkrankheiten. Ich mochte am liebsten die Vitiligopatienten. Irre komplizierte Kur, sie müssen ganz exakte Sonnen- und Schattenzeiten einhalten. Kurz rein in die Sonne und wieder zurück, ein ständiger Kampf zwischen Sonnenbrand und Pigmentierung.«
»Nie gehört«, grummelte ich.
»Weißfleckenkrankheit. Scheckhaut. Eine Pigmentstörung. Am Toten Meer sind sie aber alle quietschvergnügt, weil jeder krank ist. Man muss sich nicht genieren, jeder hat irgendwo Flecken oder Tupfen. Die meisten sind da echt entspannt.«
Einer Frau aus Nürnberg, die aussah wie die klassische Kriegsverbrecherin, spitz und hart mit mitleidslosem Blick, hatte er Schwimmtampons besorgen müssen, weil das Salzwasser ihrem Intimbereich üble Schmerzen zufügte. Sie lag im Meer, brüllte wie am Spieß und hielt sich die Scham. Die späte Rache Israels: Salz auf fremde Wunden, fand Robert. Einmal zeigte er mir ein Foto des syrischen Symphonieorchesters, das er in Ein Gedi aufgenommen hatte. Die übermütigen Musiker, übrigens größtenteils Russen, sprangen gemeinsam kopfüber in die Salzkloake, in der nicht mal Bakterien überleben. Robert fotografierte sie, als sie schreiend und fluchend salzblind aus dem Wasser stapften.
Besonders schmerzhaft ist das Wasser bei offenen Wunden. Schon eine kleine Schnittwunde macht so ein Bad zum Höllenritt. Ein Ägypter, der in Österreich lebte, litt unter schwerer Neurodermitis. Den ganzen Körper hatte er sich aufgekratzt und er sprang, weil er das Jucken nicht mehr aushielt, ins Tote Meer. Robert hatte ihn noch warnen wollen, aber zu spät. Der Schrei war lauter als der Lärm der Hubschrauber, die über den nahen Hoteldächern kreisten, auf denen hautkranke Europäerinnen nackt in der glühend heißen Sonne lagen. Mit den sich drehenden Rotorblättern versuchten die jungen israelischen Soldaten die Handtücher wegzuwehen, um freien Blick auf die nackten Frauenkörper zu haben.
»Unter den Soldaten leiden auch viele an Hautkrankheiten, kein Wunder, wenn du in einem permanenten Aggressionszustand bist. Übrigens nicht nur die israelischen Soldaten, auch die UNO-Soldaten – blaue Helme, rote Flecken. Ist urverbreitet. Krieg ist schlecht für die Haut«, dozierte Robert, Zivildiener, Hobbydermatologe und verzweifelt bemüht, seine Jugend zu bewahren, indem er »ur« verwendete, das verstärkend gemeint ist und besonders von Wiener Schülern benutzt wird. Urheiß, urgut, urleiwand, eine Uruhr.
Nach Dienstschluss trieb Robert gern im Toten Meer vor sich hin. In der Dunkelheit blickte er auf die unbeleuchtete Wüste, die einzigen wenigen Lichter leuchteten aus dem Kibbuz. Wenn er mit den Ohren untertauchte, hörte er das Salz, aus dem das Tote Meer zu dreißig Prozent besteht. Seine Haut habe sich hier so weich angefühlt, sagte er, wie der vielbesungene Babypopo – ohne dass Robert je schon einmal einen Babypopo angefasst hätte. »Sicher ein Bild, das irgendein schwuler Priester geprägt hat«, meinte er.
Nach der Dämmerung war niemand mehr im Wasser. Die Touristenbusse waren nach Jerusalem weitergefahren oder über die King Hussein Bridge nach Jordanien. Robert war ganz allein. »Ich fühlte mich wie Österreich in der großen weiten Welt«, erzählte er wehmütig. »Ich habe alles, um zu funktionieren: Arme, Beine, Haare am Arsch und Bartwuchs im Gesicht, alles. Ein autarker Körper bin ich – und treibe in einer seifigen Salzsuppe. Nicht mal eine Bakterie da, kein einziges Lebewesen. Einmal trieb zwanzig Minuten lang in der Dunkelheit schweigend ein alter Mann neben mir. Er sah aus wie Ephraim Kishon und trug auch so eine getönte Brille, obwohl es finster war. Wir sprachen nichts, ich kannte ihn nicht. Nach zwanzig Minuten fragte er mich auf Deutsch: ›Sind Sie Wiener?‹ – ›Ja, wieso?‹ – ›Das hört man‹, kam die Antwort, und der Mann trieb weiter. Ich hatte kein Wort gesagt. Merkwürdig, was?«
»Vielleicht hast du so raunzend geschwiegen, dass er dich daran erkannt hat.«
Robert raunzte irgendetwas und schwieg. Ich musste unwillkürlich grinsen.
»Findest du es eigentlich ärgerlich, dass ihr Österreicher Deutsch sprechen müsst? Dass ihr keine eigene Sprache habt?«
»Das ist unsere Sprache!« Robert fuhr auf. »Ihr habt sie uns weggenommen, so wie die Haydnhymne. Und was habt ihr Deutschen mit der Sprache gemacht? Wir sagen: ›Ich gehe in die Schule.‹ Ihr sagt: ›Ich gehe zur Schule.‹ Wie wär’s, wenn ihr Deutschen mal hineingehn würdet? Uns trennt …«
»… die gemeinsame Sprache«, vollendete ich sein Lamento.
Die Studentinnen aus Tel Aviv und Haifa, mit denen sich Robert während seines Zivildienstes bevorzugt beschäftigte, waren überwiegend bewaffnet, erzählte er mir. Seiner Meinung nach gab es wenig Geileres als eine Kompanie junger Frauen in Uniform mit umgehängter Maschinenpistole. Im Kriegsfall würde er sich denen sofort ergeben, in der Hoffnung, dass was geht. »Ich hab eben meinen Zivildienst ernst genommen. Während ich Sex mit den Soldatinnen hatte, konnten sie nicht auf Araber schießen«, posaunte der Friedensficker aus Wien. Das war wohl der Klassiker unter den sexuellen Phantasien von Zivildienern: junge bewaffnete Frauen in Uniform. Wehrpflichtige haben dafür wahrscheinlich Phantasien mit Frauen aus sozialen Berufen: Sex mit der Altenpflegerin oder der Behindertenbetreuerin. In Israel dauert die Wehrpflicht ewig, Zivildienst gibt es nicht. Den machen Deutsche und Österreicher, als Sühnearbeit.
»Herrliche Sühnearbeit«, sagte ich. Robert nickte. Klaus, ein Freund von ihm, hatte seinen Zivildienst in Auschwitz gemacht. Er fuhr heute noch manchmal hin, wenn es dort eine Party gab, wo er dann auflegte. Er war DJ und hatte sich den etwas albernen Namen »Merchant of Venice« gegeben.
In einer Diskothek in Auschwitz hatte er sich während des Zivildienstes in eine Kellnerin aus Krakau verliebt. Agnieszka arbeitete im jüdischen Viertel von Krakau, in Kazimierz, in einem für Touristen hergerichteten Schtetl-Lokal, dem »Rubinstein«. Dort gab es koscheres Essen und jeden Abend Klezmer-Musik. Nach seinem Zivildienst ging Agnieszka mit ihm nach Wien – die große romantische österreichisch-polnische Aussöhnung. »Ty wadna iestes!«, sagte DJ Merchant of Venice ihr noch immer mehrmals am Tag. »Du bist schön!«
»Ty Alfons iestes! – Und du ein Trottel!«, antwortete sie dann.
Für Klaus ist Auschwitz seitdem positiv besetzt. »Seine Großmutter dagegen schimpft heut noch, weil sie nicht versteht, was er dort gemacht hat«, erzählte Robert. »Weil sie meint, dass es gar keine Gaskammern gab. Da musst du mal dabei sein, bei ihr im Pensionistenheim, die sitzen alle zusammen vorm Fernseher und sagen: ›Das ist ein Jud, das ist einer, und das ist ein Jud. Die ist ein Jud, der ist ein Jud!‹ Den ganzen Tag sitzen sie so da. Die Deutschen waren begeisterte Nazis, aber schlechte Antisemiten, heißt es. Wir Österreicher waren dafür schlechte Nazis, aber begeisterte Antisemiten.«
»Wie heißt das Pensionistenheim? Kurt-Waldheim-Stift?«
»Nein, das ist so ein Gewerkschaftsheim. Da werden die Alten von Vietnamesinnen gepflegt. Klaus’ Oma hätte natürlich lieber ihren Enkel als persönlichen Zivildiener gehabt. Klaus hat ihr dann mal gesagt: Oma, bei mir würdest du verhungern. Ich würd dir nichts kochen, weißt du, warum? Ich leugne die Existenz von Gasherden. Aber die Oma hasst die freundlichen Asiatinnen. Sie sagt immer, dass sie diesen Frühlingsrollenduft nicht aushält. Findest du, dass Frühlingsrollen unangenehm riechen?«
»Kommt wohl drauf an, was man reintut. Aber was hat sie denn gegen intensiven Geruch? Hitler soll ja sehr unangenehm aus dem Magen heraus gerochen haben«, sagte ich. »Jaja, da sieht man’s wieder«, erwiderte Robert, »ihr Deutschen habt euch viel mehr mit der Vergangenheit beschäftigt. Wir in Österreich glauben noch immer, dass Hitler ganz lieblich aus dem Mund roch. Wie ein Berchtesgadener Alpenveilchen.«
»Nee. Der stank bestialisch. Wie vergorene koreanische Hundesuppe. Deshalb sprach er oft im Freien, weil sich das dann ein bisschen verflüchtigen konnte.«
»Auf dem Heldenplatz hat man nichts gerochen?«
»Doch. Aber man dachte, der Donaukanal sei übergegangen und braune Brühe sei ausgetreten. Es war aber nur der Führer. Stauffenberg hatte mit seiner Bombe nur für bessere Luft sorgen wollen, wie wir heute wissen. 1000 Jahre Mundgeruch«, brummte ich. »Mit der Parole hätten die Nazis weniger Erfolg gehabt. Mundgeruch ist schwer vermittelbar. Nicht verkultbar. So wie Prostatabeschwerden und nächtlicher Harndrang. Damit kannst du schwer bei Frauen punkten. ›Du, ich tröpfle nach, magst du zu mir nach Hause kommen?‹ Hat Hitler wohl einen klaren geraden Strahl gehabt? Wenn du Führer bist, macht dich das nicht fertig, dass du in dir eine Vorsteherdrüse hast? Wenn ich Führer wär oder Papst, würd ich mir die Prostata rausreißen. Keine Macht neben mir würd ich dulden, schon gar nicht von so ’nem Vorsteher.«
Wir waren inzwischen am Floridsdorfer Spitz. Rumpelnd bog die Straßenbahn um die Ecke, und wir stiegen ein.
In der Sitzreihe neben uns sang ein schätzungsweise Zwölfjähriger in einem violetten Austria-Wien-Trikot »Es wird ein Wein sein, und wir wern nimmer sein«, ein wehleidiges Trinkerlied, das Hoffnung macht auf ein Glas, falls man wiedergeboren wird. »I muaß in mein früheren Leben a Reblaus g’wesen sein«, sang der ein Meter dreißig große Bub wei-
ter. Er hatte einen flachen Hinterkopf – wahrscheinlich ein Tscheche oder Slowake. Dort werden, so heißt es, die Hinterköpfe der Neugeborenen plattgedrückt. Dann wickelt man die Babys in enge Decken, wie in Zwangsjacken, und legt sie auf die Wickeltische. Durch den platten Hinterkopf rollen sie nicht runter und bleiben unversehrt, während in Deutschland und Österreich immer wieder Kinder vom Wickeltisch purzeln, weil die Köpfe die Form von Eiern haben.
Ich führte unsere Betrachtungen fort. »Ich glaub, Hitler hat im Ersten Weltkrieg bei einem Gasangriff seine Eier verloren. Sein Schwanz hing daher leblos an ihm dran und blickte freudlos auf den Boden, und wenn er ihn stimulieren wollte – nichts. Impotent in Nazihänd. Weißt du, wozu die Prostata gut ist?«
»Ja«, antwortete Robert. »Damit’s beim Wichsen nicht staubt.«
»Ab vierzig sollte man sich die Prostata anschauen lassen«, sagte ich und klang dabei wie eine Sprechstundenhilfe.
»Ich bin aber noch nicht vierzig.« Robert blickte aus dem Fenster. Wir fuhren nun über die Alte Donau. Die Sonne spiegelte sich auf dem Wasser. Er hatte recht. In drei Wochen erst würde er vierzig werden.
Der Zwölfjährige öffnete zischend eine Dose Ottakringer Bier, nahm einen tiefen Schluck und begann erneut zu singen: »Wann i amol stiarb, miassn mi d’ Fiaker trogn und dabei d’ Zither schlogn, weil i das liab, liab, liab.«
Er hatte eine viel zu tiefe Stimme, die nach Zigaretten und Alkohol klang und roch. Ein unheimliches Kind mit einem unglaublichen Frnak im Gesicht – einer Knollennase, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Auf seinem rechten Turnschuh stand mit violettem Edding das Wort »blunzn« geschrieben, auf dem linken das Wort »fett«. Übersetzt hieß das: »Betrunken wie eine Blutwurst.« Ich dachte wieder an Hitlers Gemächt.
»Kannst du dich noch erinnern, wie wir einmal Jörg Haider gesehen haben? Er trug eine Einkaufstüte mit einem Rasierer. Von Braun!«
Robert lächelte. »Haider fuhr wenigstens einen Phaeton, und ich fahr immer noch Straßenbahn. Außerdem war’s ein Remington-Rasierer. Wir hätten’s nur lustiger gefunden, wenn’s ein Braun gewesen wär.«
»Als Haider ein Kind war, schaute seine Mutter immer mal aus dem Fenster und sagte: ›Ich muss mal kurz nach dem Rechten schauen.‹« Ich lachte. »Ich find’s jedenfalls sicherer, mit dir Straßenbahn zu fahren als mit Haider Auto.«
Wir zuckelten am Donaupark vorbei. Hier hatte ich mir beim Fußballspielen vor Jahren mal ein paar Bänder gerissen. Im Donaupark steht der originell benannte Donauturm, von dem man sich mit einem Bungeeseil in die Tiefe stürzen kann. Wir spielten am Fuße des Turms Fußball, ich blickte während des Spiels nach oben zu einem Trottel, der sich runterstürzte, und dachte mir, Wahnsinn, wie gefährlich das ist, und trat in ein Maulwurfloch. Man hörte es in meinem Bein so laut schnalzen, dass der Turmspringer laut aufschrie, weil er glaubte, sein Bungeeband sei gerissen.
Im Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus lag ich dann auf einer Trage neben einer Frau um die fünfzig. Auch sie lag auf einer Trage. Ein Pitbull war mit einer Leine daran festgemacht. Der Hund hatte keinen Maulkorb und wirkte sehr aggressiv. Unruhig zerrte er an der Leine und scharrte mit seinen Krallen am Linoleumboden. Ich vergaß meine Schmerzen und konzentrierte mich auf meine Panik.
»Was ist? Was schaun wir denn so deppert?«, kam es von der Seite. Die Frau trug ein weißes Unterhemd, das an der Seite blutgetränkt war.
»Tut mir leid. Ich wollte nicht blöd schauen. Ich hab mir die Bänder gerissen. Entschuldigung.«
»Hast was an mein Hund zum Aussetzen, Deitscher?«
»Nein, hab ich nicht.« Mir brach der Schweiß aus, was nichts mit meiner Verletzung zu tun hatte. Würde der Hund mich anfallen, könnte ich nicht einmal weglaufen, bestenfalls wegkriechen. Ein gefundenes Fressen für einen Kampfhund, der kampflos seine Beute reißen könnte. Ein Glückstag für ihn – ich hörte seine Magensäfte jubelnd brodeln.
»Hat der Hund Sie gebissen? Wegen dem Blut …«, stammelte ich.
»Der Hund? Hamms dir ins Hirn gschissen? Mein Hund beißt mi net. I beiß eam, aber weil i eam so liebhab, dass i eam fressen könnt, vastehst? Na, die Wunde ist von einem gschissenen Oaschloch, der mein Hund deppert angschaut hat. Das mag i net, wenn ma mein Hund deppert anschaut. Da hab i eam in die Goschn ghaut, und er hat mir sei Messer in die Seiten gsteckt. I hob eam oba das Messer aus der Hand grissen und eam in den Bauch gsteckt, dem Schwindligen.«
Erst jetzt bemerkte ich die beiden Polizisten, die neben ihr auf Krankenhausstühlen warteten.
»Ich würde unserem bundesdeutschen Freund raten, den Hund von der Wilden Wanda nicht deppert anzuschauen«, sagte der eine Polizist zum anderen.
»Halt die Pappn, du Vollkoffer«, rief die Wilde Wanda. »Der Deitsche und i, mir san Freind. Net woar, Deitscher? Wir Hinnigen miassen zammhalten.«
Später erfuhr ich, dass meine neue Freundin die einzige Zuhälterin Wiens war. Sie war lesbisch, schickte ihre Freundinnen auf den Strich und war bekannt dafür, sehr jähzornig und ständig gewaltbereit zu sein. Mehrmals saß sie im Gefängnis, weil jemand ihre Hunde blöd angeschaut hatte und sie dazu neigte, wortlos zuzustechen. Wort- und grußlos. Jeden Konflikt bewältigte sie mit der Faust oder dem Messer.
Ich wurde in den Gipsraum geschoben und bekam einen Gehgips bis zum Knie, strahlend weiß. Mit Krücken bewegte ich mich ungeschickt Richtung Ausgang, als ich hinter mir eine laute Stimme hörte: »Heast, woart!«
Die Wilde Wanda winkte mir zu, mit Handschellen. Ihre Wunde war versorgt worden, nun stampfte sie zu mir, mit dem Hund an der Leine, dahinter die Polizisten, in Sicherheitsabstand zum Hund.
»Des is gschissen, mit die Krücken. Oba du gwöhnst di scho dran«, sagte sie. »Heast, hobts es an Schreiber?«, fauchte sie die Polizisten an.
Unterwürfig reichte ihr einer einen Kugelschreiber. Trotz ihrer Wunde beugte sie sich runter zu meinem Bein. Wanda schrieb sie auf den Gips. »Gute Besserung«, sagte sie und warf den Stift dem Polizisten an den Kopf.
»Ihnen auch. Gute Besserung.«
»Danke, aber des kummt zu spät. Bei mir hülft ka Besserungsanstalt. Da is Hopfen und Malz verlorn. Gemma, Bambi.«
Der Hund bellte, und Wanda zog mit Bambi und den beiden von ihr gezähmten Polizisten ab.
Der Junge mit den blunznfetten Schuhen sang den alten Sigi-Maron-Schlachtruf »Leckts mi aum Oasch«. Robert verzog das Gesicht.
»Wie kann man so falsch singen? Da blutet man ja aus den Ohren. Johannes Wittgenstein, der Bruder des Philosophen, war so musikalisch, dass er schon als Kind weinend zusammenbrach, wenn die Blasmusik auch nur einen falschen Ton spielte, wusstest du das? Und Paul, ein anderer Bruder von Ludwig, war Pianist und hatte im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren. Er setzte seine Karriere trotzdem fort. Wie das ganze Land Österreich. Nur noch ein Arm, aber musikalisch. Und mit wem besuchte Ludwig Wittgenstein in Linz die Schule?«
»Ist das ein Quiz?«, fragte ich.
»Mit Adolf Hitler. Ein veganer Diktator und ein schwuler Philosoph – fast ein Traumpaar. Das ist eben ein kleines Land, da kommt’s zu den seltsamsten Begegnungen«, seufzte Robert.
Wir fuhren über die Floridsdorfer Brücke. Die Sonne reflektierte auf dem Wasser. Unter uns fuhren Radfahrer. Von Passau bis Budapest.
»Schön, nicht? Eigentlich sehr schön«, sagte Robert.
»Darfst du das? Wien schön finden?«, frage ich.
»Dir gegenüber schon. Wenn du aus Wien kämst, wär’s ein bissl merkwürdig, Wien öffentlich schön zu finden – solange man hier ist. Wenn man im Ausland ist, kann man Wien auch loben. Wien …« Genüsslich sprach er es aus. »Wiiien. Sagt sich gut. Besser als Duisburg, was?«
»Ja. Und sieht auch besser aus, Wien. Besser als Duisburg. Ich glaube, Duisburg war immer schon hässlich. Schon vor dem Krieg. Ich glaub, Duisburg wurde durch die Bombardierung sogar eher schöner. Und ja, Wien klingt auch viel besser. Natürlich. Wiien. Wiie’n Tortenstück. Ja, wiie’n Kuchen. Vielleicht ein Geburtstagskuchen?«
»Jetzt hör auf. Fängst du wieder an? Ich will keinen Kuchen, und ich will kein Fest. Ich finde eher vierzig Gründe, die gegen eine Party sprechen, als einen einzigen dafür. Warum sollte ich meinen vierzigsten Geburtstag feiern? Kannst du mir das verraten?«
Ich konnte es ihm nicht verraten und sah aus dem Fenster. Auf einem Plakat wünschte der Wiener Bürgermeister allen Wienerinnen und Wienern einen erholsamen Sommer, in kurzem Hemd, das Sakko lässig über die Schulter geworfen. Wo immer man den Bügermeister auf Bildern sah, vermutete man hinter ihm ein Glas Weißwein oder ein großes Bier. König und Mundschenk in einer Person. Der Mann hatte ein Gesicht, das ohne Glas vorm Mund einsam wirkte. Ein anderes Plakat der Österreich-Werbung zeigte einen idyllischen Bergsee, ein hölzernes Bootshaus mit Steg und ein Pärchen, das ins Wasser sprang. Wann haben Sie das letzte Mal in Trinkwasser gebadet? lautete der Slogan.
»Auch schön«, sagte ich.
»Der Almsee ist das. Saukalt. Gletscherwasser. Viel Spaß, wennst da reinspringst. Dem Mann wird’s sein Zumpferl zerrissen haben wie dem Messner die Zehen. Das ist Patriotismus: für Österreich den Schwanz opfern!«
»Ist das danach eigentlich immer noch Trinkwasser?«, murmelte ich, verwarf den unappetitlichen Gedanken aber gleich wieder.
»Am Almsee hat der Konrad Lorenz, dieser Verhaltensforscher, seine Experimente mit den Graugänsen gemacht«, fuhr Robert fort. »Im Salzkammergut gibt’s ja viele Gänse – nicht alle sind Tiere. Gleich nebenan bei den Salzburger Festspielen sieht man praktisch nur welche. Alte, verschrumpelte Graugänse. Wusstest du, dass Graugänse – also die Tiere, meine ich –, dass die sich das Aussehen von Menschen merken? Die erkennen einen nicht am Geruch oder an der Stimme, sondern am Aussehen. Verrückt, oder? Der Lorenz ist 1989 gestorben. Nach zehn Jahren hat man eine lebensgroße Lorenzfigur gebaut, superecht hat die ausgesehen, selbst seine Schwestern haben gesagt, dass der künstliche Lorenz dem echten total ähnelt. Die Figur haben sie dann an den Almsee gestellt. Man wusste, dass noch Gänse leben, die als junge Gänse mit ihm gearbeitet haben. Und tatsächlich, sie sind alle gekommen und haben den alten Lorenz begrüßt.«
»Wir könnten dir zum Vierzigsten auch eine Statue hinstellen«, sagte ich. »Als Zeichen unserer Zuneigung.«
Robert lachte. »Wollt ihr nicht auch warten, bis ich ein paar Jahre tot bin? Ihr könntet mich ausstopfen und mit dieser Puppe Riesenpartys feiern.«
»Ein Fest. Ein Abendessen. Du wirst vierzig!« Ich merkte selber, wie unsexy das klang.
»Wenn ein Hundstrümmerl vier Tage lang auf der Straße liegt, gibt’s auch kein Fest«, seufzte er.
»Bei aller Kritik, aber ich würde dich nie mit Hundescheiße vergleichen.«
»Macht’s, was ihr wollt. Aber kein Fest!«, schloss Robert unmissverständlich die Diskussion.
Schweigend fuhren wir weiter.
»Dirk, mit dem dotterweichen D wie Damentoilette«, murmelte Robert plötzlich.
»Bitte?«
Der Blunznfett-Bub lachte. »Des is urgut«, rief der Junge. »Haaßt der Deitsche so?«
»Ja, so heiße ich«, grummelte ich.
Die Straßenbahn fuhr an einem Würstelstand vorbei, der den unglücklich gewählten Namen »Zum rostigen Wurstkessel« trug. Ich dachte an Frau Resch und ihre Zange und den Abend, als ich Robert kennengelernt hatte. Ich dachte an 1988, als es noch zwei Deutschlands gab und Córdoba erst zehn Jahre zurücklag. Als Sophie noch nicht meine Frau war, sondern anderen Jungs übers Haar strich, und ich bei »Kina« nur an China dachte und noch nicht an meine Tochter.