Inhalt

Prolog

1. Kapitel: Feiern

2. Kapitel: Erste Ermittlungen

3. Kapitel: Mordkommission „Rotberg“

4. Kapitel: Hausbesuche

5. Kapitel: Die Aalglatten

6. Kapitel: Die Niehler Fescherjunge

7. Kapitel: Auf Indianerjagd

8. Kapitel: Geständnisse

Epilog

Danksagung

Prolog

Wie vor jedem Auftritt hatte ich ziemliches Lampenfieber. Zwar waren wir eine eingespielte Truppe, aber gegen die Nervosität half das nichts. So standen wir im Foyer des Kristallsaals im Messekongresszentrum und nippten an unserem Kölsch. Ich schaute auf die Uhr: schon zehn. Noch gut fünfzehn Minuten, dann würde unsere zwanzig Mann starke Truppe der „KG Löstije Kuletschhöt vun 1982 e.V.“ unter der Leitung unseres Kommandanten Erich Koslowski den Einmarsch des Elferrates in den Festsaal begleiten und einige kölsche Lieder zum Besten geben.

Ich stand mit meinen Vereinskameraden Marcel und Dario etwas abseits vom Rest der Truppe an der überfüllten Theke. Unter den anwesenden Gästen schien keine allzu große Karnevalsstimmung zu herrschen. Wie für die Prunksitzungen der großen Karnevalsgesellschaften üblich, zeigten sich hier die Wichtigen und Prominenten aus Köln und Umgebung. Ums Feiern ging’s bei solchen Veranstaltungen nur am Rande. Man zeigte sich, seine neueste Rolex, die junge Geliebte und den maßgeschneiderten Smoking. Ein reines Schaulaufen.

Ich schaute mich um. Und tatsächlich, meine zugegebenermaßen voreingenommene Meinung wurde vollends bestätigt. Die wirklich kostümierten Gäste konnte man an zehn Fingern abzählen. Von den smokingtragenden und havannarauchenden Wirtschaftsbossen wurden die Cowboys und Clowns angestarrt, als wären sie von einem anderen Stern. Ich hasste solche „Events“. Wenn sie unserem Verein keine schöne Stange Geld eingetragen hätten, wäre ich der Letzte gewesen, der solche Möchtegern-Shows besuchte. Ein Gespräch wollte bei der herrschenden Lautstärke nicht so recht aufkommen. Dario und Marcel wirkten auch nicht gerade sonderlich motiviert, sie lehnten gelangweilt an der Theke. Ich winkte den gestressten Kellner heran und bestellte ein weiteres Kölsch. Aus den Lautsprechern ertönte „Superjeile Zick“, der karnevalistische Durchbruch für Brings. Neben mir unterhielt sich ein Yuppie mit seiner Gefährtin über „Personalmanagement“ und die „Einsparung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze“. Ein Thema, das seine Herzensdame sichtlich langweilte und gar nicht zu einer Karnevalssitzung passte. Erich kam auf uns zu. Langsam wurde mir in meinem bunten Lappenkostüm warm, ich nahm das schwarze Lack-Tschako – auf Kölsch „Kuletschhot“ –, das unserem Verein seinen Namen gab, zusammen mit der feuerroten Clownsperücke vom Kopf und wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Erich, der mit Hartmut Groß, unserem 2. Vorsitzenden, zu uns herüberkam, umarmte Marcel und mich freundschaftlich.

„Und Jungs, alles klar? In fünf Minuten ist die Pause vorbei, dann marschieren wir mit dem Elferrat ein. Denkt dran: Immer lächeln. Wir wollen doch schließlich Spaß und Freude vermitteln, oder?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Erich wieder. Sein langjähriger Freund Hartmut, Marcels und mein ehemaliger Dienstgruppenleiter, der mit seinem rotblond-weißen Bart und dem freundlichen Dackelblick Herzlichkeit nur so ausstrahlte, zwinkerte uns zu und folgte ihm in Richtung der Stehtische in der Mitte des Foyers, an denen noch einige weitere Mitglieder unseres Vereins standen. Meine beiden väterlichen Freunde, zwei sonst sehr zurückhaltende Menschen, waren an Karneval doch jedes Jahr wieder aufs Neue in ihrem Element. Ich konnte ihre Begeisterung an diesem Abend nicht teilen. Irgendwann fragte ich Marcel schließlich, ob meine Clownschminke nicht verwischt war, um wenigstens ein bisschen zu reden. Es half aber nicht viel. Nach einem gemurmelten „Nä!“ ebbte das kaum begonnene Gespräch wieder ab. Also widmete ich mich meinem inzwischen vierten Kölsch. Es beruhigte meine angespannten Nerven ein wenig.

Dann waren wir endlich an der Reihe. Die Jungs vom Elferrat in ihren Fräcken und den Narrenkappen auf den Köpfen stürmten zu der Tür, die den Weg in den spiegelverkleideten Kristallsaal freigab. Erich klatschte ein paar Mal in die Hände und wir bezogen unsere Einmarschpositionen. Dario hatte sich mit unserer Vereinsstandarte als Erster aufgestellt, danach kam der Rest der Truppe. Unter dem Beifall der Menge zogen wir zu dem Bläck-Fööss-Klassiker „Schötzefess“ in den durch etliche Scheinwerfer erhellten Saal. Eine enorme Hitze schoss mir entgegen; ich fühlte, wie das Clownskostüm an meinem Körper klebte. Jetzt hieß es nur, freundlich zu lächeln und die nächsten zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten durchzuhalten. Der Gedanke an meine bevorstehende freie Woche, in der ich den „richtigen“ Karneval in vollen Zügen genießen würde, hielt mich aufrecht.

Der übertrieben freundliche und gespielt witzige Sitzungspräsident begrüßte in schlechtem Kölsch die langsam wieder in den Saal eintrudelnden „leev Fastelovendsfründe“ und sagte alsdann ein „Highlight des kölschen Fasteleers“ an. Damit war unser mit bunten Lappenkostümen, roten Perücken, Pappnase und nachgebildetem Polizei-Tschako bekleideter Männerchor gemeint. Die Kapelle setzte auf ein Zeichen Erichs hin ein und begann mit dem ersten Lied. Ich hakte Marcel und Eugen, die links und rechts neben mir standen, unter, und begann zu schunkeln. Aus voller Brust schmetterten wir der nicht besonders begeistert wirkenden Menge den Willi-Ostermann-Hit „Heimweh nach Köln“ entgegen, das, als sehr melancholisches Lied, eher als Abschlussnummer gepasst hätte. Nach drei weiteren Liedern des größten Kölner Komponisten wurden wir mit „Drei Mol Kölle Alaaf“ verabschiedet. Den Geschmack des Publikums hatten wir offensichtlich nicht getroffen. Dafür waren die Gäste zu borniert und unser Bühnenprogramm zu konservativ.

Es war inzwischen Viertel vor elf, der einzige Auftritt an diesem Tag lag hinter uns. Ich beschloss, gemeinsam mit Marcel und Dario noch ein bisschen im Foyer zu bleiben und ein paar Kölsch zu trinken. Der Rest der Truppe wollte nach Hause, schließlich stand uns eine anstrengende Woche bevor. Wir hatten ja gerade mal Dienstag, den 25. Februar. Mit Weiberfastnacht und Rosenmontag lagen die Sessionshöhepunkte noch vor uns. Erst in einer Woche würde die „fünfte Jahreszeit“ vorbei sein. Nur gut, dass ich mir – dank genügend Überstunden – freigenommen hatte. Nach ein paar Gläsern Kölsch tauten Marcel und Dario langsam auf. Wir erzählten Witze und alberten herum. Mit zunehmendem Alkoholpegel gewann auch die langweilige Party an Attraktivität. Wir nickten dem Wachmann an der Saaltür freundlich zu, betraten den Sitzungsraum und bewunderten das Bühnenprogramm von Bernd Stelter, der eher den Geschmack des Publikums zu treffen schien als wir. Ich zog die rote Pappnase aus, das Tschako und die Perücke hatte ich schon im Umkleideraum abgelegt.

„Der Bernd hat dieses Jahr wieder ein super Programm, was?“, meinte Marcel.

„Auf jeden Fall. Sollen wir noch ein Kölsch trinken?“ Ich blickte Marcel und Dario fragend an.

„Na klar. Wir haben doch morgen alle frei“, sagte Dario.

„Ihr faulen Beamten vielleicht. Ich hab morgen ein wichtiges Meeting mit einem meiner Kunden. Muss um halb elf in Münster sein.“

„Jetzt stell dich mal nicht so an, Marcel. Kommt, ich geb noch einen aus!“ Ich trieb Marcel und Dario vor mir her ins Foyer. Der Kellner schaute mich genervt an. „Noch drei Kölsch, die Herren?“

„Was für ’ne Frage. Na klar!“ Aus dem Saal ertönte Bernd Stelters Version des Smokie-Hits „Alice“, „Ober Zack ’n Helles“. Die Leute tobten.

Ich ließ meinen Blick durch das relativ leere Foyer streifen. Ein paar Meter vor uns bereitete sich eine Tanzgruppe auf ihren bevorstehenden Auftritt vor. Eines der Mariechen machte einen Spagat, ein paar junge Männer machten Dehnübungen. Sie alle trugen weiße Matrosenuniformen. Ich hatte die Truppe schon öfter gesehen, sie zählte zu den besten ihrer Zunft. Die „Fidelen Rheinschiffer“ waren eine traditionsreiche Tanzgruppe, über die die Presse während der Session fast täglich Lobeshymnen veröffentlichte. Ein kleiner, durchtrainierter Mann in weißer Kapitänsuniform kam aus dem Umkleideraum, in dem auch wir uns gut anderthalb Stunden zuvor eingefunden hatten. Er war etwa Anfang vierzig, hatte die Haare gelb-orange gefärbt und war so braungebrannt, als ob er sich gerade sechs Wochen auf Mallorca gesonnt hätte. Ich kannte diesen Mann, um den sich die gesamte Tanzgruppe scharte, als er kaum den Raum betreten hatte: Klaus-Dieter Döring, einer der erfolgreichsten kölschen Tanztrainer, der zur fünften Jahreszeit in den lokalen Medien allgegenwärtig war. Döring brauchte nicht viele Worte, um die kreischenden und herumalbernden Teenager zu disziplinieren. Die sechzehn jungen Karnevalisten formierten sich zu einem großen Kreis, fassten sich an den Schultern und beugten sich nach vorn. Eine Geste, die ich bisher nur von den Footballspielern der Cologne Crocodiles kannte. Döring erhob die Stimme: „Also, Leute: Wir gehen jetzt da rein und geben unser Bestes! Wir sind die Besten! Wir sind cool! Wir zeigen allen anderen, wo’s langgeht! Wer sind wir?“

Die Gruppe antwortete einstimmig und aus voller Brust: „Die Besten!“

„Ich kann euch nicht hören! Wer sind wir?“

„Die Besten!“

„Lauter!“

„Wir sind die Besten und wir sind cool!“

„Na also!“

Der Kreis löste sich auf, die Gruppe klatschte noch dreimal in die Hände und bezog Aufstellung. Ich verzog das Gesicht. „Was war das denn jetzt? Ist das ein Motivationskurs oder ein Tanzverein?“

„Keine Ahnung, Pitter, aber dieser Döring spinnt doch sowieso. Du musst nur mal mit den Leuten aus seinem Umfeld reden. Ich hab letzte Woche noch mit ’ner Bekannten gesprochen, die auch mal bei den Rheinschiffern getanzt hat. Ich war fassungslos, was der für Trainingsmethoden hat. Der verlangt den armen Teenies alles ab. Proben bis zum Umfallen. Ein richtiges Arschloch ist das. Und arrogant obendrein.“

Ich konnte gerade selbst feststellen, was Marcel meinte: Döring hatte uns erblickt und rümpfte nur abfällig die Nase, bevor er sich wieder abwandte. Marcel schüttelte den Kopf. „So ’n Idiot. Kommt sich wie der Größte vor. Dabei war der doch vor einem guten halben Jahr mit seiner Truppe ziemlich in die Schlagzeilen geraten.“

„Was meinst du?“

„Na, habt ihr das nicht mitgekriegt? Der hat doch mit seinen beschissenen Trainingsmethoden ein Mariechen auf dem Gewissen! Sagt bloß, ihr habt da nix von gehört. War doch groß in der Zeitung. Da ist vor ’nem halben Jahr das Hauptmariechen der Rheinschiffer bei der Probe für eine Hebefigur so unglücklich gestürzt, dass es seitdem querschnittsgelähmt ist. Die Mutter hat Döring in der Öffentlichkeit angeprangert und ihn sogar angezeigt. Aber die Staatsanwaltschaft sah keine Veranlassung für Ermittlungen. Der Typ hat doch überallhin Beziehungen. Ein richtiger Kotzbrocken!“

„Na, na, na, Herr Koslowski, was sind denn das für Ausdrücke?“ Ich leerte mein halbvolles Kölsch in einem Zug und winkte den Kellner abermals heran. „Noch drei!“

Der mit seinem Job sichtlich überforderte Mann verdrehte die Augen und ging zum Zapfhahn.

Bernd Stelter war mittlerweile mit seiner Zugabe fertig und verließ nach einer Rakete den hörbar mitgerissenen Saal. Der Sitzungspräsident kündigte nun überschwänglich die Rheinschiffer an, woraufhin die Kapelle „Heidewitzka“ anstimmte. Döring klatschte in die Hände und rief laut „Einmarsch!“ Dann begab er sich mit dem vor ihm gehenden Tanzmariechen, das er unsanft durch die Eingangstür bugsierte, in den Saal und nahm seine Tanzpartnerin in den Handsitz. Die restlichen Rheinschiffer legten die rechte Hand zum Narrengruß an die linke Schläfe und folgten Döring im Gleichschritt.

„Sollen wir uns die Angeber ansehen?“, fragte Dario.

Ich schüttelte den Kopf. „Nee, lass uns lieber noch einen trinken.“

Dario schaute ungläubig auf mein leeres Glas. Seit unserer Ankunft vor fast zwei Stunden hatte ich schon acht Kölsch getrunken. Langsam wurde mir warm. Ich stützte mich lässig auf die Theke.

Der Kellner unterdrückte ein genervtes Seufzen.

„Wollen Sie schon wieder eins?“

„Wenn’s Ihnen nicht zu viele Umstände macht ...“

Der Kellner schüttelte den Kopf und ging wieder zur Zapfanlage. Ich zog das knallbunte Jackett aus. „Was ist mit euch beiden, ihr Abknicker? Wollt ihr nicht langsam mal austrinken? Ihr hinkt hinterher!“

Marcel hob beschwichtigend die Hände. „Ich hab genug, muss jetzt nach Hause. Dario, sollen wir uns ein Taxi nach Riehl teilen?“

Ich schaute auf die Uhr: 23.15 Uhr. „Der Abend ist doch noch jung, Freunde! Lasst uns noch ein bisschen feiern!“

„Nee, Pitter, der Marcel hat recht. Ich mach mich auch vom Acker! Wir sehen uns dann morgen Abend zum Auftritt in den ‚Riehler Heimstätten‘. Ciao!“

„Tschüss Pitter!“

Dario und Marcel tranken aus, schüttelten mir die Hand, holten aus dem Umkleideraum ihre Sporttaschen und Vereinsanoraks und verließen über die vor dem Foyer befindliche Rolltreppe das Kongresszentrum.

Na ja, was soll’s?, sagte ich mir und leerte mein Glas. Bevor ich etwas sagen konnte, hob der Kellner resigniert die Hände und stöhnte nur: „Ich weiß schon!“

Zwischenzeitlich war der Auftritt der Rheinschiffer vorbei. Mit ihnen strömten auch mehrere Sitzungsgäste ins Foyer. Nach etwas mehr als einer Stunde der zweiten Sitzungshälfte schien sich bei einigen der Kölschdurst breitzumachen. Es gehörte zu den Regeln der großen Kölner Festsäle, in den Sitzungsräumen kein Bier, sondern nur Wein, Sekt und ähnliche feine Alkoholika auszuschenken. Vollkommener Schwachsinn! Die Theke füllte sich, ich wurde unsanft beiseite geschubst. Aber das war mir auch egal. Ich bestellte ein neues Kölsch. Aufgrund des Andrangs musste ich jetzt allerdings länger warten. Kaum hatte ich zum Trinken angesetzt, da wurde ich von der Seite angerempelt, sodass sich das köstliche Bier über mein weißes T-Shirt ergoss. „Hey, pass doch auf!“, raunzte ich die Verursacherin des Unfalls an. Aber die Frau, deren Kostüm ich nicht so genau definieren konnte – es bestand aus einem schwarzen Spitzenkleid, einem schwarzen Schleier und einer venezianischen Gesichtsmaske –, ließ sich statt einer angebrachten Entschuldigung nur zu einem hochnäsigen „Tststs“ bewegen und machte sich mit ihrem Kölsch in der mit einem auffälligen Edelsteinring geschmückten Hand von dannen. So stand ich da wie ein begossener Pudel. Die Freude am Feiern hatte mir diese Tussi gründlich verdorben. Abgesehen davon sah ich mit dem besudelten Hemd wie ein besoffener Heckenpenner aus. Ich beschloss, mir ein Taxi zu nehmen und nach Hause zu fahren.

So bahnte ich mir den Weg durch die Massen in den eleganten Konferenzraum, der uns „Profi-Karnevalisten“ als Umkleide diente. Ich erblickte die von ihrem Auftritt sichtlich geschafften Rheinschiffer. In der hintersten Ecke entdeckte ich meine Sporttasche und die Vereinsjacke. Ein lauter Streit riss mich aus der Müdigkeit. Ich konnte eine aufgeregte Frauenstimme vernehmen: „Sie verdammtes Schwein! Sie haben meine Tochter zum Krüppel gemacht! Das zahl ich Ihnen heim, darauf können Sie sich verlassen!“

Eine Mittvierzigerin stand vor dem gelangweilt lächelnden Klaus-Dieter Döring und packte ihn am Kragen. Döring ergriff die Handgelenke der Frau und riss sie von seinem Oberkörper. Im nächsten Moment wischte er provokant mit den Fingerspitzen über seinen Reverskragen, als ob die Frau ihn beschmutzt hätte. „Sehen Sie lieber zu, dass Sie ganz schnell von hier verschwinden, Frau Wegberg! Sie machen sich ja lächerlich! Wer hat Sie hier überhaupt reingelassen?“ Dann lachte er und drehte sich um. Die Frau kämpfte mit den Tränen. Sie riss Döring an der Schulter herum und gab ihm mit voller Kraft eine Ohrfeige.

Nachdem sie Döring noch als „Arschloch“ tituliert hatte, machte sie kehrt und verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Döring hatte nur für einen kurzen Moment die Fassung verloren und versuchte jetzt, seine treudoofe Schafherde zu beruhigen. „Ganz ruhig Leute, von dieser Person lassen wir uns doch nicht den Abend verderben! Ich schmeiß ’ne Runde Cola!“ Die Meute hatte sich wieder beruhigt. Ich sah zu, dass ich Land gewann. Ich wollte einfach nur ins Bett und ausschlafen.

Den ganzen Mittwoch hing ich nur zuhause rum und schaute irgendwelche Talkshows. Abends aß ich dann mit Marcel, seiner Frau Diana und Dario zu Abend. Danach traten wir vor einem begeisterten Publikum in den „Riehler Heimstätten“ auf, einem großen Seniorenzentrum. Bei den älteren Mitbürgern fand unser Programm, anders als am Tag zuvor, großen Anklang. Zuhause trank ich noch zwei Flaschen Kölsch und bereitete mich mental auf den folgenden Tag vor – Weiberfastnacht. Ein Blick in den Auftrittsplan verriet mir, dass wir an diesem bedeutenden Tag in diversen Festzelten und -sälen in Köln und dem Umland von Bergheim bis Eitorf auftreten würden. Den Abschluss sollte ein Auftritt in der Börse um elf Uhr abends bilden. Danach war nur noch pures Feiern angesagt. Aber aus dem Feiern sollte an diesem Karneval für mich nicht allzu viel werden ...

1. Kapitel: Feiern

Gasthaus „Zum Jan“,
Thieboldsgasse 137, 50676 Köln-Altstadt/Süd,
Freitag, 28. Februar 2003, 00:36 Uhr

Ein anstrengender Tag lag hinter uns. Seitdem wir uns um acht Uhr morgens in unserem Vereinslokal in Ehrenfeld getroffen hatten, waren wir „im Auftrag des Frohsinns“ unterwegs gewesen. Es fing an mit einem Auftritt in Bergheim, dann ging es auf die PP-Sitzung in unserer behördeneigenen Kantine, dann weiter nach Euskirchen, Siegburg, Overath und zum Schluss nach Eitorf. Bis Eitorf war alles glattgegangen, aber dort hatten wir eine halbe Stunde Programmverzögerung, sodass wir unseren letzten Auftritt in der Börse am Maria-Ablass-Platz in der Nähe des Doms erst um halb zwölf wahrnehmen konnten.

Nun lag dieser letzte Auftritt für Weiberfastnacht auch hinter uns. Das Kostüm war durchgeschwitzt, die Füße taten weh. Von der Singerei war meine Kehle ganz trocken. Eigentlich die besten Voraussetzungen dafür, ins Bett zu fallen und auszuschlafen. Aber wenn man so ein Vollblutkarnevalist ist wie ich, lässt man sich durch solche Beschwerden wahrlich nicht vom Feiern abhalten. Der Großteil unseres Vereins – pensionierte Polizisten jenseits der sechzig – hatte sich dann auch direkt nach dem Börsen-Auftritt Richtung Heimweg verabschiedet. Nur der „harte Kern“ – bestehend aus Marcel, Dario, Erich, Hartmut und meiner Wenigkeit – war noch übrig geblieben. Nach zwei von Erich auf die erfolgreichen Auftritte ausgegebenen Runden Kölsch baten wir den Fahrer unseres kleinen gecharterten Reisebusses, uns zum Neumarkt zu fahren. Wir hatten uns entschlossen, der bei Karnevalisten bekannten und beliebten Kneipe „Zum Jan“ in der an den Neumarkt grenzenden Thieboldsgasse einen Besuch abzustatten. Dieses urige Lokal bot den idealen Rahmen zum Feiern nach einem harten Vereinstag. Zwar war das „Kasino“, wie der gemütliche Keller des Gasthauses offiziell hieß, an Weiberfastnacht für das traditionsreiche Reiter-Korps Jan von Werth reserviert, aber Erich kannte eines der Mitglieder des „Corps à la suite“, des Ehren-Korps dieser in historischen Musketieruniformen gekleideten Gesellschaft. Und dieser „Kontaktmann“ hatte unseren Verein offiziell eingeladen. Schließlich feierte das Korps in diesem Jahr seine „sieben mal elfte“, seine siebenundsiebzigste, aktive Session seit der Gründung im Februar 1925. Willi, unser Busfahrer, beeilte sich, uns am Neumarkt abzuliefern. Er war hundemüde und wollte ins Bett.

Der Neumarkt war selbst zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch mit maskierten Jecken bevölkert. Überall hörte man spontan angestimmte Lieder wie „Mer losse d’r Dom in Kölle“ oder den aktuellen Sessionshit der Höhner, „Viva Colonia“, der wie eine Bombe eingeschlagen war. Aber leider sah man auch viele betrunkene und teils fast bewusstlose Jugendliche, die von ihren Kumpels gestützt werden mussten. Alle paar Minuten erblickte man die blau flackernden Lichter der Rettungswagen, die sich um die unvernünftigen Schnapsleichen kümmern mussten. Nicht zu vergessen die Tonnen von Müll – leere Bierflaschen, Essensreste und sonstiger Unrat –, die den tapferen Frauen und Männern der Stadtreinigung eine Sonderschicht bescheren würden. Marcel und Dario wollten noch etwas bei dem chinesischen Schnellimbiss an der Ecke Neumarkt/Fleischmengergasse essen, während Erich, Hartmut und ich schon vorgingen. Weit kamen wir jedoch nicht. Eine kostümierte Menschenmenge versperrte den Zugang zu dem gemütlichen Lokal in der kleinen Gasse. Ein grün-weißer VW-Bus mit eingeschaltetem Blaulicht stand mitten auf der Straße neben einem signalroten Rettungswagen und einem Notarzteinsatzfahrzeug, die beide ebenfalls das Blaulicht eingeschaltet hatten. Eine aufgebrachte Stimme schrie: „Mensch, Leute, jetzt seid doch vernünftig, hier gibbet nix zu glotzen. Und ihr könnt jetzt hier auch nich rein! Los, geht weiter!“

Eine bunte Truppe von Hänneschens, Bärbelchens, Musketieren, Hippies, Hexen und Teufeln machte sich unter lautstarkem Protest auf den Rückweg Richtung Neumarkt. Dabei wären sie als „Karnevalszivilisten“, die keinem Verein und erst recht nicht dem Reiter-Korps Jan von Werth angehörten, an jenem Tag wohl ohnehin nicht in die Kneipe gekommen. Ich schaute Erich und Hartmut erstaunt an. Neugierig, wie ich nun mal bin, und in der Gewissheit, dass hier etwas passiert sein musste, ging ich auf die Gruppe von sechs Beamten im olivgrünen Einsatzanzug der Bereitschaftspolizei zu. Besonders freundlich sahen die Kollegen nicht aus.

Ich wandte mich an den Wortführer des kleinen Trupps, der zuvor auch die Jecken entnervt weggeschickt hatte. Es war ein ziemlich kräftig gebauter Polizist, etwa einen Kopf größer als ich. Unter dem zu kleinen grünen Barett konnte ich eine kurze Stoppelfrisur erkennen. Der Brillant im Ohr verlieh dem uniformierten Kollegen etwas Prolliges.

„’n Abend Kollege, was ist denn hier passiert, wenn ich fragen darf?“

Der Bereitschaftspolizist verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich skeptisch an. „Kumpel, nur weile ’nen albernen Helm aufm Kopp has, musse nich denken, dat wer Kollegen sind. Hasse dat kapiert?“

Da war ich aber an einen netten Kollegen geraten. „Man wird ja wohl noch fragen dürfen!“ Der Alkoholkonsum der letzten Stunden machte mich aufsässig.

„Mensch, Keule, hasse wat anne Ohren oder wat? Also: Mach’en Abgang! Und zwar flott!“ Ich war ein wenig verstört, von einem Kollegen derart derbe behandelt zu werden, und starrte ihn fassungslos an. Zwei Rettungssanitäter kamen mit ihrer Erste-Hilfe-Ausrüstung aus dem Inneren des Gebäudes gestürmt, gefolgt von einem glatzköpfigen Notarzt mit signalroter Wetterjacke, der seine ganze Aufmerksamkeit dem Klemmbrett widmete, das er in den Händen hielt. Der Notarzt kam zu dem unfreundlichen Bereitschaftspolizisten herüber, klopfte ihm auf die Schulter und fragte: „Habt ihr die Kollegen von der Kripo schon verständigt?“ „Klar!“

„Und wo bleiben die dann?“

Genervt griff der Kollege nach seinem Funkgerät. Dabei sah er Hartmut, Erich und mich finster an. „War noch wat?“, fragte er in strengem Ton. Erich packte mich am Ärmel und sagte: „Komm Jung, wir haben hier nix verloren. Gibt doch noch genug andere Läden.“

Auch Hartmut fasste mich an der Schulter. „Du hast den Erich doch gehört. Lass uns gehen!“ Dabei blickte er den Beamten vorwurfsvoll an, was ihm aufgrund seiner gutmütigen Art sichtlich schwerfiel. Aber der Pötter winkte nur ab und sprach in sein Funkgerät.

Im Wegdrehen bekam ich noch den folgenden Funkverkehr mit: „Arnold von Irma 61/32!“ Keine Sekunde später knackte es in seinem Funkgerät. „Kommen, Irma 61/32!“

„Frage Ankunft K-Wache?“

„K-Wache rollt an und trifft unverzüglich am ‚TO‘ ein!“

„Verstanden!“, raunzte der Kollege ungehalten.

Klasse! Ausgerechnet ich musste mich mit so einem Ruhrpott-Asi von der Hundertschaft Bochum anlegen. Dass er von den Bochumern war, verriet mir sein Funkrufname „Irma“. Die Bochumer Jungs waren jedes Jahr an Karneval zur Unterstützung in Köln und nahmen das ganze Spektakel normalerweise genauso locker wie ihre „einheimischen“ Kollegen.

Hier musste etwas Schlimmes passiert sein. Sonst hätte der Hundertschaftsbeamte gewiss nicht derart abweisend reagiert. Und sonst wären die anwesenden Rettungssanitäter nicht dermaßen hektisch gewesen. Außerdem hätten die Kollegen dann nicht die Jungs von der K-Wache alarmiert und von einem „TO“, also einem „Tatort“, gesprochen. Aber darüber wollte ich mir keine weiteren Gedanken machen. Schließlich war meine Anwesenheit nicht erwünscht – und außerdem wollte ich endlich mal wieder völlig ausgelassen feiern!

Wir hatten gerade Dario und Marcel vor dem China-Imbiss getroffen, da bog ein unauffälliger Ford Mondeo B Turnier in die Thieboldsgasse ein, einer unserer Zivilwagen. Wir berichteten Marcel und Dario von dem Zwischenfall mit dem Bochumer Kollegen und traten den Rückweg zur Börse an. Schließlich war dort im Foyer auch noch einiges los. Wir schunkelten mit den übrigen Jecken um die Wette, das Kölsch floss in Strömen. Gegen halb vier machte die Börse dicht, ich war mit etwa fünfzehn weiteren Personen der Letzte. Dario, Marcel, Hartmut und Erich hatten sich schon gegen halb zwei verabschiedet. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, als ich verzweifelt versuchte, mir ein Taxi an den Straßenrand zu winken. Einer der Fahrer hatte dann doch Mitleid und lieferte mich zuhause ab. Von der Fahrt bekam ich in meinem betrunkenen Zustand nicht viel mit. Ohne mein Vereinskostüm auszuziehen, fiel ich zuhause ins Bett und schlief keine Minute später ein.

Der schrille Ton meiner Türklingel riss mich am nächsten Tag aus dem Tiefschlaf. Zunächst wollte ich das Geräusch ignorieren und mich einfach wieder umdrehen. Aber mein Besucher klingelte beharrlich weiter. Entnervt schaute ich auf meine Armbanduhr. Ich wollte es kaum glauben: Es war schon fünf vor halb zwei mittags! Es kam mir vor, als wäre ich gerade mal vor einer Stunde ins Bett gegangen. Meine Schminke war verlaufen und hatte die Bettwäsche rot-schwarz eingefärbt. Ich verfluchte mich dafür, immer auf derart extreme Weise versumpfen zu müssen. An der Tür klingelte es immer noch. Wutentbrannt stand ich auf, schrie nur „Ja doch!“ und ging zur Gegensprechanlage. „Wer stört?“, brüllte ich in den Lautsprecher. Die Stimme, die mir antwortete, besänftigte mich ein wenig. „Ey, Pitter, bleib mal locker! Ich bin’s, der Figo! Und den Düsseldoofen hab ich auch mitgebracht! Mach mal auf, Chef!“

Ich lächelte, schüttelte den Kopf und betätigte den Türöffner. Ich hörte ein Summen unten an der Haustür. Im nächsten Moment wurde sie aufgestoßen. Ich öffnete meine Wohnungstür und konnte sehen, wie meine beiden Kollegen in den ersten Stock stürmten.

„Figo“, oder besser gesagt Kriminalkommissar André Werner, kam als Erster auf mich zu. Er hatte drei duftende, flache Kartons mit der Aufschrift Pizzeria Napoli in der Hand. Dicht hinter ihm kam Kriminaloberkommissar Thorsten Herberts, den wir aufgrund seiner Herkunft alle nur den „Düsseldoofen“ annten, mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen die Treppe herauf. Er sah ein wenig müde und genervt aus. Erst vor Kurzem war er zu unserem Kommissariat versetzt worden und arbeitete seitdem nicht mehr nur als „Aushilfe“ für uns.

Figo erblickte mich im Türrahmen und lachte sich halb kaputt. „Ey, Alter, wie siehst du denn aus? Geiler Hausanzug! Wo kriegt man denn so was her? Und dann diese Schminke! Siehst aus wie ’n Zombie …“

„Willste mich jetzt auch noch auslachen, Bürschchen? Dir werd ich helfen!“ Ich lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Danach reichte ich dem knapp nickenden Thorsten die Hand und bat die beiden Kollegen in meine Wohnung.

„Wir haben gedacht, dass wir unsere Mittagspause mit dem lieben Kollegen Merzenich verbringen und gleich Pizza mitbringen. Prosciutto war doch richtig, oder?“, sagte Figo und stellte die drei Pappkartons auf meinem Küchentisch ab.

„War ’ne super Idee, Jungs, ich hab tierischen Kohldampf!“

Figo und Thorsten hingen ihre Jacken im Flur auf und nahmen in meiner Küche Platz. Blitzschnell hatte ich Besteck geholt. „Wollt ihr auch ’n Kölsch, Männer?“

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft sagte Thorsten etwas: „Nä, danke. Wir sind doch im Dienst – und das schon seit etlichen Stunden!“

„Außerdem reicht’s doch, wenn einer von uns wie ’ne Schnapsfabrik stinkt!“, warf Figo ein. „Hast wohl wieder einen über den Durst getrunken, was, Mann?“

Energisch winkte ich ab. „Wie können Sie mir nur so was unterstellen, Herr Werner? Ich trink doch nie was!“ Gelächter brach aus. Ich holte zwei Gläser und eine Flasche Cola für meine Kumpels.

„Und wie war’s gestern noch bei dir?“, wollte Figo wissen. „Scheinst dich ja gut amüsiert zu haben, wenn ich das richtig sehe.“

Ich erzählte meinen Kollegen von meiner Weiberfastnacht. „Ist das nicht Scheiße, an Karneval arbeiten zu müssen?“ Ein bisschen wollte ich mich für den Überfall der beiden rächen. Thorstens Miene verfinsterte sich. „Vor allem, wenn man Rufbereitschaft und dann auch noch so einen beschissenen Fall an der Backe hat …“

Erstaunt schaute ich die Kollegen an. „Wieso? Was ist denn los?“

„Hast wohl noch nix davon gehört, was? Gestern Abend ist einer abgemurkst worden. Mitten in der Innenstadt! In ’ner Kneipe! Das musst du dir mal vorstellen! Im Büro ist die Kacke am dampfen …“

Unwillkürlich dachte ich an unseren Bereitschaftsplan. Für die nächsten Tage war unsere Mordkommission dran. Theo sollte im Ernstfall gemeinsam mit Dario und Andríkos ausrücken, Nina und ich hatten dienstfrei und konnten als einzige Ermittler der MK 3 unbeschwert feiern.

„Jetzt lasst euch mal nicht die Würmer aus der Nase ziehen und erzählt mehr!“

Thorsten klinkte sich erneut ins Gespräch ein: „Also, wenn du’s wirklich wissen willst … Ist ja nicht dein Fall …“

„Erzähl!“

„Na gut. Also, gegen Mitternacht ist auf der Toilette des – wie heißt das Lokal noch gleich, Figo?“

„Zum Jan“, entgegnete Figo.

„Also, auf jeden Fall ist da einer tot auf der Toilette aufgefunden worden, hinterrücks abgestochen.“

Ich konnte mich an die unliebsame Begegnung mit dem Kollegen der Hundertschaft Bochum in der Thieboldsgasse erinnern und erzählte meinen Freunden davon. Also deshalb war da in der Nacht so ein Trubel gewesen.

„Ja genau, die Bochumer Kollegen waren als Erste am Tatort. Keine zwei Minuten nach dem Anruf in der Leitstelle sind die da eingetroffen. Die hatten sich am Neumarkt aufgehalten und drauf geachtet, dass die Jecken an der Bahnhaltestelle keine Randale machen.“

Ich biss ein Stück meiner leckeren Pizza ab und nahm einen kräftigen Schluck aus meiner Kölschflasche. Verwundert musste ich feststellen, dass mir das Zeug nach meinem gestrigen Absturz schon wieder schmeckte.

Thorsten fuhr fort: „Dann ist das übliche Prozedere durchgeführt worden. Das muss ich ja nicht extra erwähnen, oder?“

Ich winkte ab. Nachdem der zeitgleich mit der Polizei alarmierte Notarzt den Tod offiziell festgestellt und – wie in diesem Fall offensichtlich geschehen – eine nichtnatürliche Todesart attestiert hatte, meldeten die Kollegen der Schutzpolizei das der Leitstelle, die die Kollegen der Kripo – bestehend aus der K-Wache, die außerhalb der regulären Dienstzeit die kriminalpolizeiliche Sachbearbeitung übernahm – alarmierte. Die rückte infolgedessen aus. Ich konnte mich an den Mondeo-Zivilkombi erinnern, den ich in der Nacht zuvor am Neumarkt ankommen gesehen hatte. Und wenn die K-Wache es dann aufgrund der Gesamtumstände für nötig hielt, wurde das Dreierteam der eigentlich fünfköpfigen Mordkommission des KK 11 herbeigerufen, die mit der Bereitschaft an der Reihe war. Wenn der MK-Leiter es für notwendig erachtete, wurden dann auch noch zwei Beamte des MK-Kaders, eines behördenweiten Pools von Kriminalbeamten, die die Mordkommissionen personell unterstützten, alarmiert, um erste Ermittlungen durchzuführen. Sollte der MK-Leiter tatsächlich davon ausgehen, dass ein Kapitaldelikt vorlag, alarmierte er den Staatsanwalt und später auch den Rechtsmediziner. Die beiden Kollegen des ebenfalls alarmierten Erkennungsdienstes sicherten indes Spuren, der mit ihnen angerückte Tatortfotograf des Fotozentrallabors kümmerte sich um die Bilder.

„Und weiter? Wer war der Tote, wie ist er umgekommen, habt ihr schon Verdächtige?“

Figo, der eigentlich für das KK 32 arbeitete, das für Diebstahl und Hehlerei zuständig war, meldete sich kauend wieder zu Wort: „Bleib mal easy, Pitter. Die Story ist ganz schön bescheuert. Noch am Tatort haben wir einen Verdächtigen festgenommen.“

Thorsten fiel Figo ins Wort: „Wenn du dieses ‚Jan’ gut kennst – und davon gehe ich mal stark aus, schließlich bist du so’n richtiger Jeck und du bist ja heute Nacht auch da aufgekreuzt …“, ich nickte zustimmend, „ … dann weißt du ja, was da an Karneval los ist. Das Reiter-Korps Jan von Werth hat da mit einigen Gästen anderer Gesellschaften, die sie persönlich eingeladen hatten, den Ausklang von Wieverfastelovend gefeiert.“

Ich nickte stumm, ohne zu erwähnen, dass auch ich mit meinem Verein zu den erlauchten Gästen gehört hatte.

„Wir haben gemeinsam mit den Jungs von der K-Wache und den ebenfalls alarmierten Kaderkräften die Personalien von hundertdrei Leuten aufgenommen und die dann auch noch befragt. Das musst du dir mal reinziehen: Wir waren damit über drei Stunden beschäftigt! Und wie du dir vorstellen kannst, waren diese ganzen Jecken alle ziemlich aufgeregt. So ’ne Bereitschaft hab ich noch nie erlebt!“

„Aber so lange bist du ja auch noch nicht bei uns“, bemerkte ich scherzhaft.

Thorsten lächelte nur gequält und fuhr fort, ohne auf meinen Kommentar einzugehen. „Wir hatten richtig Arbeit, für Ruhe zu sorgen. Nur gut, dass die Bochumer da waren – und Staatsanwältin Rossi, die nur ihre schrille Stimme erheben musste, um die Leute zu beruhigen. Die Jecken im ‚Jan’ waren alle in heller Aufregung – wie ein richtiger Hühnerstall!“, sagte er und verdrehte die Augen.

Ich nickte zustimmend. Schließlich konnte ich mir sehr gut vorstellen, wie der äußerst „sympathische“ Kollege aus dem Ruhrpott, den ich in der Nacht getroffen hatte, gemeinsam mit der leicht cholerisch veranlagten Anklagevertreterin die bedauernswerten Angehörigen des Reiter-Korps in einfühlsamster Weise „beruhigte“. Einen Türsteher hätte deren Auftreten wohl vor Neid erblassen lassen. Ich biss ein großes Pizzastück ab und bohrte weiter nach: „Ihr habt eben gesagt, dass ihr noch am Tatort einen Verdächtigen festgenommen habt.“

„Ja, richtig. Noch so ’ne bescheuerte Sache. Wie du ja selbst mitbekommen hast, haben die Kollegen den Tatort abgeriegelt. Es kam keiner mehr rein und keiner mehr raus. Eine gute Dreiviertelstunde, nachdem die Leiche gefunden worden war, hat ein Typ von der Tanzgruppe des Toten aber drauf bestanden, wieder ins ‚Jan’ zu dürfen. Er sei mit seinem Verein auf Einladung des Reiter-Korps in dem Laden und wäre nur für etwas mehr als eine Stunde unterwegs gewesen, seine ganzen Klamotten seien noch in der Garderobe. Schließlich haben die Kollegen ihn nach Rücksprache mit Karl-Heinz dann doch in den Keller gelassen. Das hat einen richtigen Tumult gegeben, als der bei seinem Verein ankam. Eines der Mariechen aus seiner Truppe ist ihm an die Gurgel gesprungen und hat ihn für den Tod des aufgefundenen Vereinskameraden verantwortlich gemacht. Die Kollegen sind darauf aufmerksam geworden und haben sich ein bisschen näher mit ihm beschäftigt. Sie mussten gar nicht lange nachfragen, dieses Mariechen hat den Typen schwer belastet. Er sei eifersüchtig gewesen, weil sie beide mal zusammen gewesen seien, sie sich aber schließlich für den Toten entschieden habe. Dieser Junge ist dann bei der Befragung aber auch ausgeflippt und hat rumgeschrien, das muss ein Bild für die Götter gewesen sein …“