Aichiens Sohn – Die wilden Jahre: Eine Jugend in den frühen 1960ern Jahren

Wilfried A. Hary

Published by BEKKERpublishing, 2019.

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Aichiens Sohn – Die wilden Jahre

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Further Reading: Aichiens Sohn - Die ersten Jahre: Eine Kindheit in den 1950er Jahren

Aichiens Sohn – Die wilden Jahre

Eine Jugend in den frühen 1960ern Jahren

von Wilfried A. Hary

Der Umfang dieses Buchs entspricht 130 Taschenbuchseiten.

Nach „Aichiens Sohn – Die ersten Jahre“ wurde der Autor und Protagonist Wilfried A. Hary gefragt, ob denn noch weitere biographische Romane folgen würden, zumal welche, die sich ausführlicher mit den Anfängen seiner schriftstellerischen Karriere beschäftigen.

So entstand schließlich dieses weitere Buch!

Es waren wahrlich wilde Jahre, damals, in den frühen 1960ern. Damals war die Realität zuweilen tatsächlich wilder als die Fantasie überhaupt ersinnen kann.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author / Cover: Wilfried A. Hary

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Ich bin der festen Überzeugung, dass Demokratie die einzig mögliche Gesellschaftsform ist, die zumindest halbwegs funktionieren kann. Alle anderen haben längst bewiesen, dass sie sehr schnell in Menschenverachtung und totale Ausbeutung ausarten.

Dazu gehört natürlich als wichtigster Stützpfeiler der Demokratie die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit. Sie muss unangetastet bleiben, auch in Fällen, in denen uns die Meinung eines anderen vielleicht total gegen den Strich geht.

Einzige Voraussetzung natürlich: Es handelt sich tatsächlich um eine Meinungsäußerung und nicht etwa um Beleidigungen und üble Nachrede.

Nun hat ja jeder, der jemals in der Öffentlichkeit stand oder sogar immer noch steht, das zweifelhafte Vergnügen, immer wieder genau davon begehrtes Ziel zu werden: Übler Nachrede und ausufernder Beleidigung. Dass dies nicht nur auf sogenannte öffentliche Personen zutrifft, sondern durchaus jeden Einzelnen treffen kann, auch ohne den entsprechenden Bekanntheitsgrad, davon gibt es so viele Beispiele wie es Sand am Meer gibt. Nicht selten ufert das Ganze sogar aus in etwas, was man Mobbing nennt.

Ich selbst kann da ein trauriges Beispiel berichten, aus einer Zeit, als ich noch am Bau gearbeitet habe.

Dazu muss man wissen, dass ich nach Beendigung der sogenannten Volksschule (Aichien, mein Vater, hatte sich geweigert, mich auf das Gymnasium zu lassen) den fatalen und eigentlich ziemlich sinnentleerten Entschluss gefasst habe, eine Maurerlehre anzustreben. Im Hinterkopf hatte ich dabei die spätere Karriere vielleicht als Ingenieur oder Architekt. Wobei ich in keiner Wiese berücksichtigt hatte in meiner wohl altersbedingten Blauäugigkeit, dass man dazu gern zeichnen musste. Ein Ingenieur oder gar Architekt, der das Zeichnen hasste, so wie ich?

Wie gesagt: Sinnentleert. Und eigentlich auch fatal, denn eines hatte ich nicht nur vor, sondern setzte es tatsächlich auch in die Tat um: Ich beschritt den sogenannten zweiten Bildungsweg! Und das wohlgemerkt als Maurerlehrling.

Hat jemand eine Ahnung, welch abartige Arbeitszeiten am Bau einzuhalten sind? Und kann sich dabei irgendwer vorstellen, bei solchen Arbeitszeiten auch noch regelmäßig die Abendschule zu besuchen und zudem außerhalb der Schule fleißig zu lernen, bei einer Stoffdichte, an die kein normales Gymnasium auch nur annähernd heranreicht?

Ich jedenfalls hatte den Mut oder den Leichtsinn – wie immer man es werten mag – dies durchzuziehen, musste aber ziemlich schnell merken, dass es meine Möglichkeiten überdeutlich überstieg. Also musste ich mir eine Lösung für dieses Problem einfallen lassen, um nicht schon frühzeitig hoffnungslos scheitern zu müssen.

Irgendwo wusste ich etwas von einem sogenannten Jugendschutzgesetz. Es fiel immer nur in Kneipen auf oder Tanzböden, vor allem wenn man sie besuchte, obwohl man dafür eigentlich noch zu jung war: Da hing so ein Auszug aus dem Jugendschutzgesetz, in dem dies geregelt wurde, was allerdings wahrscheinlich noch niemals jemand wirklich gelesen hat. Mich eingeschlossen.

Und so machte ich die Probe aufs Exempel, ging zum Polier, klopfte auf meine leere Gesäßtasche und beschwerte mich:

„Laut Jugendschutzgesetz darf ich nur acht Stunden arbeiten! Jetzt sind acht Stunden vorbei, und ich mache Feierabend!“

Das brachte mächtig Stimmung auf die Baustelle, doch ich zog das rigoros durch, natürlich immer unterstützt mit dem obligatorischen Klaps auf meine Gesäßtasche.

Es funktionierte. Tatsächlich! Jeder glaubte jetzt, ich hätte dieses lediglich namentlich, aber ansonsten weithin unbekannte Gesetzbuch genau in dieser Tasche, obwohl ich noch nicht einmal wusste, ob es das als Gesetzbuch überhaupt gab und wie das aussehen sollte. Geschweige denn, dass ich jemals auch nur eine einzige Zeile darin gelesen hätte.

Nach acht Stunden konnte ich zwar leider die Baustelle nicht verlassen, weil ich mit dem firmeneigenen Bus hierhergekommen war, aber ich setzte mich demonstrativ in die Baubude und nutzte die Zeit bis zum regulären Feierabend, um fleißig zu lernen.

Zwar kam ich dann immer noch erst nach Hause von der Arbeit, wenn der Unterricht längst begonnen hatte, wobei ich permanent sehr viel Wichtiges im Unterricht versäumte, aber immerhin hatte ich jetzt endlich den nötigen Freiraum, um zu lernen.

Niemand wusste übrigens, dass ich überhaupt auf die Abendschule ging. Niemand wusste überhaupt etwas über mich. Das war auch gut so, denn dadurch gab es niemals auch nur den Hauch von Misstrauen. Dennoch gab es in der gesamten Firma, die immerhin einige hundert Arbeiter und Angestellte beschäftigte, niemand, dem das Ganze nicht erheblich auf die Nerven ging. Es war ja tagtäglich immer dasselbe Spiel: Alle arbeiteten – außer mir, der ich die letzten Stunden bis zum regulären Feierabend in der Baubude mit Lernen verbrachte. Was ich da im Einzelnen tat, hat kurioserweise überhaupt niemanden interessiert, was mir ja nur recht war.

Und hier kommt jetzt ein Lehrling ins Spiel, der mit mir angefangen hatte, obwohl er älter war. Sie nannten ihn Bully. Nicht umsonst, denn er war ein Jugend-Boxmeister, ein regelrechter Boxchampion im Schwergewicht. Bully war von mir geschätzt ungefähr doppelt so schwer wie ich und sogar größer. Kein Mensch wäre wohl jemals auf die Idee gekommen, sich mit Bully anzulegen, am wenigsten ich selber.

Seine Beliebtheit bei den Arbeitern und meine gleichzeitige Unbeliebtheit nutzte er dahingehend aus, dass er mich gern beleidigte und auch Übles über mich verbreitete, was so schlecht erfunden war, dass man eigentlich sofort merken musste, dass es sich um dumme Lügen handelte. Weil es jedoch ins Feindbild passte, um es einmal so auszudrücken, hat man ihm geglaubt.

Selbiges geschah übrigens auf jener Baustelle im Saarbrücker Vorort Güdingen, wo damals die Autobahnbrücke von uns gebaut wurde. Ich pflegte später zu behaupten, falls man beim Überfahren dieser Brücke eine Unebenheit spüre, dass dies dann wohl auf mich zurückzuführen sei, weil ich damals gemeinsam mit einem Maurergesellen als Lehrling die Nivellierung vorgenommen hatte.

Natürlich nur ein harmloser Scherz, denn wo ich für die Nivellierung mitverantwortlich war, waren Unebenheiten jeglicher Art gänzlich ausgeschlossen.

Ehrlich!

Doch weiter von damals: Ich habe mir jedenfalls all diese Beleidigungen genauso gefallen gelassen wie den permanenten Rufmord, weil ich es ganz einfach nicht wagte, etwas dagegen zu unternehmen. Es gab zwar schon damals gesetzliche Regelungen, wie man Beleidigungen und Rufmord ahnden konnte, aber dazu musste man natürlich ausreichend Beweise und/oder Zeugen benennen können. Das konnte ich nicht, weil sowieso jeder gegen mich war. Eine Situation, die ich ertragen musste, weil ich sonst halt die Abendschule nicht geschafft hätte.

Wie gesagt: Genau das ahnte ja keiner von denen! Noch nicht einmal jener, der von morgens bis abends am selben Bau erzählte – jedem, der es wissen wollte, und vor allem natürlich jedem, den das überhaupt nicht interessierte:

„Ich muss doch unbedingt mein Abi machen!“

Er ging ebenfalls auf die Abendschule, war aber dort schon weiter fortgeschritten und dermaßen konzentriert auf das Lernen, dass er alles andere sowieso überhaupt nicht wahrnehmen konnte. Auch mich nicht.

Nebenbei bemerkt: Viele Jahre später stellte es sich heraus, dass er der ältere Bruder war eines Kollegen von mir, der in Rubenheim wohnte (genannt: Ruwenum!). Dieser Kollege erzählte mir dann, sein älterer Bruder sei inzwischen Lehrer geworden.

Aber weiter, kommen wir sozusagen zum Höhepunkt von alledem. Ich saß mal wieder in der Baubude, nach meinem ganz persönlichen Feierabend, als ich draußen die Unruhe bemerkte. Vorsichtshalber räumte ich einmal meine Unterlagen beiseite, um mich auf das zu konzentrieren, was da augenscheinlich auf mich zu kommen sollte.

Und es kam auf mich zu! Unweigerlich! Und zwar in der Gestalt von Bully, der doch tatsächlich sich hatte dazu anstiften lassen, mir das beizubringen, was man im Volksmund wohl die „Flötentöne“ nennt. Und zwar gehörig, wie ich vernahm.

Polier und Vorarbeiter hatten sich zurückgezogen, um nicht Zeugen zu werden. Genauso wie der Bauleiter, der sowieso nicht immer anwesend war. Ich wusste: Niemand würde mir beistehen, und jeder würde es mir gönnen, von dem riesigen Bully einmal gründlich in die Mangel genommen zu werden.

Angesichts des Fleischberges, der da in der Tür erschien (wer weiß, wie ein Ork aussieht?), rechnete ich mit dem Schlimmsten – musste ich auf jeden Fall! Ich war gegenüber ihm gewissermaßen ein schmächtiges Nichts.

Aber es gibt da eine Metapher, nach der man niemals eine Ratte in die Enge treiben sollte! Und, ganz ehrlich, das trifft nicht nur auf Ratten zu, sondern vielleicht sogar auf alle Lebewesen auf dieser Welt. Also auch auf mich!

Ich stand plötzlich auf dem Tisch, kaum dass Bully hinter sich die Tür geschlossen hatte, und hechtete direkt auf ihn zu, völlig ohne Rücksicht auf Verluste. Was hatte ich denn zu verlieren, sowieso?

Der Überraschungseffekt war ganz auf meiner Seite. Ich traf ihn mit voller Wucht, und es gelang mir bei dieser Aktion, ihn  zu Fall zu bringen, um aus meiner dadurch überlegeneren Position heraus und ohne im Geringsten zu zögern und natürlich mit aller mir zur Verfügung stehender Kraft diesen Fleischberg unter mir zu bearbeiten. Bevorzugt an Körperstellen, an dem auch ein lebendig gewordener Ork empfindlich war. Beispielsweise im Gesicht und zwischen den Beinen.

Ohne jetzt tiefer in die unerfreulichen Details eingehen zu wollen: Am Ende saß ich wieder auf meinem Platz in dieser Baubude, weitgehend unverletzt, und Bully schleppte sich mühsam und sehr schwer angeschlagen nach draußen. Sein Zustand war gotterbärmlich und ein Schock für alle, die darauf gehofft hatten, nicht ihn, sondern natürlich mich würden sie in diesem Zustand sehen können.

Was soll ich sagen: Die Menschen sind nun einmal so. Wer es nicht glaubt, lebt entweder hinter dem Mond oder ist ansonsten so weit von der Wirklichkeit entfernt, dass es kaum noch weiter geht. Auf jeden Fall hat mir diese Aktion gehörig Respekt verschafft. Da gab es niemanden mehr, der mich beleidigte oder auch nur wagte, mir Übles nachzusagen. Auch Bully nicht, der mir künftighin lieber aus dem Weg ging und seinen Mund hielt, was mich betraf.

Ich hatte bis zum Ende meiner Lehrzeit eine gewisse Narrenfreiheit. Die machte mich zwar nicht beliebter, aber machte das Ganze durchaus erträglich.

Es führte sogar zu einer Vereinbarung zwischen der Firma und mir, die man wahrscheinlich als einmalig bezeichnen kann: Ich brauchte nur drei Tage die Woche zu arbeiten, um auf die volle Stundenzahl zu kommen – laut dem Jugendschutzgesetz, wie ich es selber erfunden hatte, halt die maximal zulässige Stundenzahl. Dienstags war sowieso Berufsschule, und jetzt hatte ich von Freitag bis einschließlich Sonntag frei. Dadurch konnte ich zumindest dienstags nach der Berufsschule und freitags sowieso, weil ich da frei hatte, die Abendschule pünktlich besuchen.

Und weil mich die Berufsschule sowieso nur am Rande interessiert hat, konnte ich mich dabei entspannen und nach der Berufsschule das für mich eigentlich Interessante lernen, was ich für die Abendschule benötigte.

Nur einmal sagte man zu mir, bevor ich zur Abschlussprüfung der Maurerlehre ging:

„Wenn du dort durchfällst, trinken wir ein Bier mehr an diesem Tag!“

Dieses Bier musste leider ausfallen, denn ich bestand natürlich. Noch heute bewahre ich meinen Facharbeiterbrief in einer besonderen Schublade auf, worin sich auch noch andere besondere Dinge befinden, etwa meine Scheine von der Uni später.

Selbstverständlich würde ich nie verraten, mit welchen Noten ich die Prüfung bestanden habe. Höchstens so viel: Es waren keine Bestnoten, sondern es reichte total, um diese Belohnung für drei Jahre am Bau in Form eben des Facharbeiterbriefes zu erhalten.

Bully habe ich übrigens nur einmal danach wiedergesehen, also nach meiner Lehrzeit: Im Freibad von St. Ingbert. Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits hart trainierender Body Builder und nicht mehr der Schmächtige von einst nach der Schule und während meiner Lehrzeit. Zufällig haben sich unsere Wege gekreuzt, und ich hörte ihn abfällig murmeln:

„Modell Wilfried!“

Aber ich brauchte ihn nur anzusehen, um ihn erschrocken zurückweichen zu lassen. Mit einem leisen Lächeln, das ich mir nicht verkneifen konnte, setzte ich meinen Weg fort.

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Noch eine Kleinigkeit betreffend jene Baustelle, wo damals die Autobahnbrücke von heute entstanden ist, mit meiner bescheidenen Beteiligung während der nach dem angeblichen Jugendschutzgesetz exakt zulässigen Höchstarbeitszeit für Jugendliche meines Alters:

Der Polier, das genaue Gegenteil von dem, was man vielleicht einen Freund hätte nennen können, hatte einen wichtigen Auftrag für mich: Die Einschaler waren im Akkord damit beschäftigt, just den Pfeiler einzuschalen, auf dem Jahre später der Autobahnabschnitt drüber gehen sollte in Richtung Paris und Metz. Der Pfeiler also für die spätere Brücke über der Brücke. Man kann ja diese Konstruktion heute noch bewundern, denn sie hält immer noch diesem extremen Überverkehr stand, der seit Jahrzehnten  rund um die Uhr darüber rollt.

Dieser zusätzliche Pfeiler hatte eine schmale Flanke, nicht breiter als ein normales Schalbrett lang ist. Die Verschalung des Pfeilers an sich, ohne diese Flanke, die der Verstärkung und der Stabilisierung dienen sollte, konnte gut im Akkord erledigt werden. Sofern man auf so etwas wie Sicherheit nicht den geringsten Wert legte. Also von wegen eine Brüstung am Gerüst, während die Verschalung gewissermaßen in den Himmel wuchs.

Die Verschaler, meist geübte Zimmerleute, weil die Berufsbezeichnung Betonbauer damals erst frisch eingeführt worden war, balancierten auf viel zu schmalen, gerade mal genügend dicken Brettern in luftiger Höhe herum und zogen eine Bretterwand hoch, die den Beton später für die Ewigkeit an Ort und Stelle fixieren sollten. Nur die Flanke, die bereitete ihnen Sorge, weil die ein wenig knifflig war, um es einmal so zu umschreiben, also verhältnismäßig viel Zeit benötigte.

Genau das Richtige für Aichiens Sohn, dachte sich da der Polier und wies mich an, diese Flanke zu ergänzen mit Schalbrettern. Natürlich ebenfalls ohne jegliche Sicherung. Das sah dann so aus, dass mir ein Hilfsarbeiter jedes Brett einzeln hoch reichen musste, während ich mich mit einer Hand festhielt. Ich setzte das Brett an und musste das Kunststück fertig bringen, mit der freien Hand den entsprechenden Nagel erst in das lockere Brett zu drücken, um dann den Hammer aus dem Holster zu ziehen, wie der Westernheld seinen Colt, um damit gezielt den Nagel einzuschlagen.

Das ging die ersten Meter recht gut. Wenn ich nicht gerade einen schmerzhaften Krampf in die Hände bekam. Nach unten sah ich nur, wenn ich das nächste Brett und dann den nächsten Nagel gereicht bekam. So sah ich nur aus den Augenwinkeln, wie hoch ich bereits war, verzweifelt bemüht, das nur ja auszublenden. Was wäre passiert, wenn man herausgefunden hätte, wie sehr ich unter Höhenangst litt?

Ich war irgendwann etwa zehn Meter über Bodenniveau. Alles war bisher gut verlaufen. Mein Handlanger war mir wirklich eine große Hilfe, und die von mir verarbeiteten Schalbretter saßen wie die sprichwörtliche Eins – immerhin steht die Brücke ja heute noch! -, da verlor ich das erste Mal das Gleichgewicht. Unmittelbar nachdem ich das nächste Schalbrett entgegengenommen hatte und mich vorsichtig aufrichtete, auf einem schmalen und viel zu dünnen Brett balancierend, mich mit der anderen Hand krampfhaft festhaltend.

Das Brett flog im hohen Bogen davon, ich rutschte mit der Hand ab, die mich eigentlich festhalten sollte, und ruderte verzweifelt mit den Armen.

„Halte dich fest!“, brüllte der Handlanger unter mir entsetzt.

Kunststück: Genau das versuchte ich ja so verzweifelt.

Irgendwie fiel ich nicht einfach dort hinunter in die schier bodenlose Tiefe, sondern ich drehte mich wohl in der Luft. So genau kann ich das im Nachhinein nicht sagen. Mir wurde erst so richtig bewusst, dass ich es wohl überleben würde, als ich mit beiden Händen eine der Gerüststreben weiter unten umklammerte und am ganzen Körper zitterte wie das sprichwörtliche Espenlaub.

Es war wie ein Wunder, dass ich das überlebt hatte! Wahrlich! Als hätte eine unsichtbare Hand mir noch einmal eine Chance einräumen wollen.

Ich weiß noch nicht einmal mehr, wie es mir anschließend überhaupt gelungen ist, heil nach unten zu klettern, um dieser gnadenlosen Höhe endgültig zu entkommen. Jedenfalls brüllte ich dort unten, immer noch zitternd am ganzen Körper, unflätig herum und verkündete jedem, der es hören wollte, aber auch, wenn es ihn gar nicht interessierte, dass ich dort hinauf niemals wieder steigen würde.

Selbstverständlich vergaß ich nicht, zwischendurch auch einmal auf meine Gesäßtasche zu klopfen und mich auf ein Gesetzbuch zu berufen, das dort garantiert überhaupt nicht vorhanden war.

Der Polier war immerhin Augenzeuge des Beinaheabsturzes geworden und mindestens so bleich wie ich. Immerhin hätte er mich auf dem Gewissen gehabt. Obwohl er sicher nicht in Sorge war um mich, sondern eher um sich selber: Wie hätte er meinen Tod wohl rechtfertigen sollen gegenüber seinen Vorgesetzten?

Es ist ja nicht so, als wäre die Arbeit am Bau heutzutage völlig gefahrlos, aber im Vergleich zu damals... Nein, ein solcher Vergleich verbietet sich wohl von selbst. Um einen Eindruck zu gewinnen von dem, was damals am Bau so ablief, sollte man vielleicht einmal die ärmsten Gegenden dieser Welt aufsuchen. Dort geht das immer noch so zu wie damals bei uns, dem Vernehmen nach.

Ist das nicht eine Schande?

Und das überlebt nicht jeder so glücklich wie ich, garantiert!

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Wenn ich so zurückblicke