Meinen Eltern, die ihrem inneren Kompass vertraut haben.
Vorwort
Die Wand des Schweigensvon Dr. Herbert Renz-Polster
Die Frage nach dem Warum
Die Verschickungen waren zum Guten des Kindes
Einleitung
Das System Kinderkurverschickung
Den kindlichen Willen brechen
Gab es eine Gesundheitsfürsorgesindustrie?
Kinder warnten sich gegenseitig
Medikamentengabe ohne medizinische Indikation
Heimweh als Synonym für Trauma
Aufarbeiten statt leugnen
Brüchige und spärliche Erinnerungen
Kapitel 1
Das Heimweh-TraumaSabine in Bad Rappenau
Geliebte kleine Schwester
Familie in Trauer
Kuranbieter werben massiv
Drill statt Trost
Weinende Kinder
Abgeschoben und alleingelassen
Eltern gehen zum Alltagsgeschäft über
Niemand nimmt die Hilfeschreie wahr
Kapitel 2
Gesunde Kinder werden starke ArbeitskräfteWoher stammt die Idee der Kinderkur?
Kritik und Verbesserungsvorschläge
Kapitel 3
Das NS-ErbeAndrea in Bad Friedrichshall
Kurerzählungen sind Familiengeschichten
Die Fahrt in die Vergangenheit
Ein Foto als Beweis
Das Heim, sein Personal und seine Geschichte vor 1945
Sozialisation als Kinderarzt an der Charité
Katastrophale Verhältnisse
Fluchtversuch nach Hause
Eltern beschweren sich
Sorge um das Wohl der Kinder
Der kalte Blick des Verwalters
»Es heißt, die Kinder müssten ihr Erbrochenes essen«
Keiner glaubt den Kindern
Perfide Mischung aus Tyrannei und Vernachlässigung
Kinderkurärzte mit NS-Vergangenheit
Unendlich lange 42 Tage und 42 Nächte
Aufwachsen im Wirtschaftswunderland
Die Kurerlebnisse drängen in die Gegenwart
In den Krankenhäusern dachte man allmählich kindgerechter
Die Kinderärztin verordnet den Kuraufenthalt
Ärzte werden für Kurverordnungen gesondert vergütet
Alleingelassen
»Du bekommst nichts mehr! Du bist zu dick!«
Kapitel 4
Gefangen im HorrorszenarioHelmut in Herrlingen
Das Heim, in dem Erwin Rommel lebte
Das Postlerkind wird verschickt
Der Bettnässer soll erst in Kur und dann eingeschult werden
Haus ohne Heiterkeit
Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Unzucht mit Kindern
»Pseudologia phantastica«
Angst vor der Frau mit der Spritze
Die Anspannung ist als Schmerz noch immer im Körper
Bettnässer in der Kinderkur
Geschlossene Räume erträgt Helmut nicht mehr
Zum ersten Mal glaubt ihm jemand
Kapitel 5
Kinder als Verschiebemasse Heike auf Borkum und in Heimenkirch
Frische Luft für Kohlenpottkinder und Kinder aus Berlin
Der Strafkatalog des Dr. Kleinschmidt
Nur ums adrette Aussehen besorgt
Körperliche und seelische Gewalt waren an der Tagesordnung
Kapitel 6
Pädagogik der EinschüchterungReinhard auf Borkum
Die Zeit ist im Kindererholungsheim stehen geblieben
Kinderknast
Strafen nur hinter den Wänden des Heimes
Kapitel 7
Schädliche MedizinEvelin in Scheidegg und Bayerisch Gmain
Die Angst vor Spritzen und Ärzten verfolgt Evelin bis heute
Scheidegger Kinderklinik mit langer Tradition
Erinnerungen fürs Leben
Zurück zum Ort der Qual
Kapitel 8
Verschickungsqual in DauerschleifeAlbert in Scheidegg, Berchtesgaden, Bad Reichenhall, Oberjoch und auf Norderney
116 Wochen Kur in 14 Jahren
Das Kind als medizinisches Vorzeigeobjekt
Vom Kinderheim ins Kinderkrankenhaus
Mit der Fahrkarte um den Hals in den Zug
Briefe als einziger Kontakt zur Welt
Warten auf das Wiedersehen
Der Krankenhausclown, ein Mutmacher für Kinder
Kapitel 9
Ausgeliefert und kein EntkommenMelanie in Bad Dürrheim, Gerhard in Bad Rappenau, Barbara auf Sylt, Andrea in Hirsau
Abschiede ohne Abschiednehmen
Überforderte Eltern
Zuschauen müssen, wenn andere bloßgestellt werden
Beschützen wollen, wo kein Schutz möglich ist
Der Selbstmörderinnenklub
Spätes Zuhören und Verstehen
Kapitel 10
Gegenwehr und Gegenentwürfe in Oberstdorf und Sylt
Frühe Whistleblowerin
Die Kinderzahl geht dramatisch zurück
Respektvoller Umgang mit Kindern
Strenge Hausordnung
Nischen im strengen Reglement gesucht
Pädagogik der Zuwendung
Viel dürfen, wenig müssen
Nachwort
Der Verdacht ist nun Gewissheit
Dank
Literatur
Vorwort
von Dr. Herbert Renz-Polster
Nach der (teilweisen) Aufarbeitung der Missbrauchskultur in Kirchen und der Heimerziehung liegt nun endlich ein Buch zur Missbrauchskultur in »Erholungs«-Einrichtungen vor, in die Kinder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts massenhaft verschickt wurden. Danke für diese umfassende Arbeit!
Viele von uns verorten die kinderfeindliche Praxis der Verschickung weit im Nebel der Geschichte. Dass Kinder von ihren Eltern, Freunden und dem häuslichen Umfeld getrennt wurden, um in der Fremde bei fremden Menschen zu leben, das war so im Mittelalter, wo Kinder zur Ausbildung in fremde Haushalte gegeben oder zu Lehrmeistern geschickt wurden. Oder in Kriegszeiten, wo Kinder zu ihrem eigenen Schutz zu Fremden aufs Land gegeben wurden.
Dass die Verschickungen keineswegs von »damals« sind, weiß ich aus meinem eigenen Leben mit einem »Verschickungskind«.
Meine Frau Dorothea wuchs in den späteren 1960er-Jahren in Indien als Tochter von Missionaren auf. Als sie fünf Jahre alt war, galt es, den Koffer zu packen. Die Reise ging über 2000 Kilometer in ein Internat in Südindien, in dem sie keine Menschenseele kannte, geschweige denn jemand ihre indische Gassensprache oder ihre Familiensprache sprach. Mit 20 anderen kleinen Kindern aus aller Herren Länder, mit denen sie einen Schlafsaal teilte, lebte sie ab da unter der Obhut einer englischen Matrone. Um eine »gute Schule« besuchen zu können. Ferien zu Hause gab es zweimal im Jahr, jedes Mal hieß es danach wieder: Koffer packen. Das war, natürlich, alles zu ihrem eigenen »Guten«.
Auch die Verschickungen der Kinder zur Erholung, von denen in diesem Buch die Rede ist, waren, natürlich, zu deren »Guten« – die Ferien von zu Hause sollten den Kindern einen Vorteil bringen, ob gesundheitlicher oder pädagogischer Art.
Dachten damals alle Eltern so? Das wird manchmal pauschal so behauptet. Früher, so wird dann vermutet, kannten die Eltern einfach das mit der »Bindung« noch nicht.
Das stimmt in dieser Pauschalität nicht. Zu allen Zeiten gab es Ethnotheorien oder Alltagskonzepte von Bindung, denen Eltern, Großeltern oder Erzieher*Innen aus dem Herzen heraus folgten. Zu allen Zeiten gab es Eltern, die um die Gefahren und Folgen von Trennungen von Kindern und ihren Bezugspersonen intuitiv wussten. Und die ihre Kinder weniger leicht fortgaben als andere. Oder solche Trennungen sogar als inakzeptabel ansahen und ihre Kinder davor bewahrten, so gut sie konnten. Nein, »das mit der Bindung«, das gab es längst, bevor die Bindung zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung wurde. Tatsächlich kam das Bindungsmotiv ja auch in der Wissenschaft schon vor der Formulierung der klassischen Bindungstheorie in sehr unterschiedlichen Schulen immer wieder an die Oberfläche. Man erinnere sich an die Arbeiten von Wilhelm Reich, René Spitz oder Harry Harlow. Oder an die wunderbare Arbeit von Anna Freud, die sie ausgerechnet an Säuglingen durchführte, die zu ihrem eigenen Schutz im Zweiten Weltkrieg aufs Land »verschickt« wurden. Sie stellte darin zusammen mit Dorothy Burlingham fest, dass die Säuglinge, die die Bombenangriffe mit ihren Müttern erlebt hatten, emotional ausgeglichener und besser entwickelt waren als diejenigen Säuglinge, die die Kriegsmonate in ruhigen ländlichen Gebieten, aber getrennt von ihren Müttern verbrachten. Natürlich war das für viele Menschen damals eine Überraschung. Aber allein, dass die Fragestellung verfolgt wurde, zeigt, dass bindungsgeleitete Hypothesen keineswegs von einem anderen Stern waren.
Liest man dieses Buch, so stellt sich einem immer wieder die bohrende Frage: Warum nur fiel es den an diesem System der Verschickungen Beteiligten – den Eltern, den Kinderärzten, dem pädagogischen Personal – nicht früher auf, dass das, was sie da machten, eben NICHT zum Guten der Kinder war? Warum etwa haben sie die Signale ignoriert, die von den Kindern selber kamen, die Verhaltens»störungen«, der Rückzug, die Ängstlichkeit? Kurz, warum konnte dieses System über Jahrzehnte Kinder traumatisieren?
Ich sehe den Grund darin: Über diesem System hing ein Schweigegelübde – eine Art Omertà, durch die sich die Mafia schützt. Natürlich war sich niemand dieses Gelübdes bewusst, die Wand des Schweigens entstand vielmehr auf dem Boden schadhafter Beziehungen.
Vor Kurzem erzählte mir meine 93-jährige Mutter von einer Verwandten, die ihr als Kind sehr nahestand. Diese Verwandte ging als Jugendliche nach dem Krieg zur Lehre in eine andere Stadt, sie wollte in einem Haushaltswarengeschäft Verkäuferin lernen. »Und Knall auf Fall kam sie wieder zurück. Und seither war sie irgendwie verändert. Wo sie vorher eine strahlende, fröhliche junge Frau gewesen war, war sie ab da in sich gekehrt und misstrauisch.« Was wohl passiert war, dass ein Lehrmädchen in den Nachkriegsjahren »Knall auf Fall« wieder ins Elternhaus zurückkam, mit dem Stigma einer abgebrochenen Lehre? Das blieb allen ein Geheimnis: »Sie hat nie etwas dazu gesagt.«
Wie denn auch – wenn Offenheit doch auf Vertrauen beruht? Auf das Vertrauen, gehört und verstanden zu werden?
Warum verschlossen die Eltern ihre Ohren vor ihren Kindern? Oft aus Scham. Das, was sie vernommen hätten, hätte in ihnen Scham ausgelöst. Scham begleitet den Marsch ins Schweigen.
Die Wand des Schweigens stand aber auch deshalb undurchdringlich da, weil das, was den Kindern in den Einrichtungen widerfuhr, gang und gäbe war. Oft genug wurden die Kinder ja auch zu Hause hart bestraft, entwertet und gedemütigt. Mussten den Teller leer essen. Wurden eingesperrt. Hätten sie ausgerechnet ihren Eltern gegenüber nun Klage wegen gewaltsamer Behandlung durch fremde Erwachsene führen können? Diese Wand sollte erst in den 1970er-Jahren allmählich zu bröckeln beginnen.
Zwischen den Geburtsjahrgängen 1970 und 1985 verdoppelt sich in Deutschland der Anteil der Kinder, die in ihrem Elternhaus nie körperliche Gewalt erfahren haben, von etwa 25 auf etwa 50 Prozent. Heute liegt dieser Anteil bei etwa 63 Prozent. 1997 wird die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt – gegen den Widerstand von immerhin zehn Abgeordneten aus CDU/CSU und FDP (einer von ihnen ist heute Bundesinnenminister, eine andere unterstützt inzwischen die AfD als Wahlkampfhelferin). Erst im Jahr 2000 sichert Deutschland mit seinem Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung allen Kindern das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zu (und auch das gegen den Widerstand der damals größten Bundestagsfraktion).
Aber da war noch eine dritte Ebene der Omertà. Die Wand des Schweigens stand auch auf dem Fundament eines tief in die Erwachsenen eingegrabenen Glaubens an die Autoritäten. Was die Experten anordneten, war richtig. Was Ärzte zu sagen hatten, galt. Widerspruch gestand man sich nicht zu – und er wurde auch nicht zugelassen. Wenn ein Heimleiter oder ein Arzt einem Kind eine Störung attestierte, dann war das Kind gestört, basta. Kurz, das Schweigen hatte auch eine Herrschaftsdimension. Die Wand bestand auch aus institutionalisierter Gewalt.
Meine Schwester kam im Jahr 1956 als leicht frühgeborenes Kind auf die Welt, meine Mutter durfte sie die ganzen drei Monate ihres Aufenthalts in der Klinik nicht besuchen. Im Alter von zwei bis vier Jahren musste meine Schwester mehrere Schieloperationen über sich ergehen lassen. Jedes Mal war sie wochenlang allein unter fremden Schwestern und Ärzten (Ärztinnen waren damals selten). Wenn sie mit ihren verbundenen Augen den Brei verkleckerte, wurde sie ausgeschimpft. Zum Frühstück gab es am Tisch Kuchen – für die »Erste-Klasse-Patienten«. Die anderen Kinder bekamen Brot.
Ja, wir haben viel gewonnen. Unsere Beziehungen untereinander, auch die zu unseren Kindern, sind menschlicher geworden, gleichwürdiger. Der Bund des Schweigens hat ein Stück seiner Grundlage verloren – die Distanzierung, das mangelnde Vertrauen. Wir sind freier geworden und auch kritischer.
Und doch sollten wir hellhörig werden, wenn wir dieses eine Motiv bedenken, das Eltern damals dazu brachte, ihre Kinder einem faulen System anzuvertrauen: Sie taten es für ihr Kind. Zu seinem Wohle. Wie oft hören wir heute ähnliche Begründungen?
Im Jahr 2018 machte ein Kinofilm über eine psychosomatische Abteilung einer Kinderklinik in Deutschland Furore, der therapeutische Gewalt gegen kleine Kinder zeigte, die dort »behandelt« wurden. Sie wurden in Gitterbetten in dunkle Räume eingesperrt – um das Alleine-Schlafen zu lernen. Sie wurden täglich nach einem Plan von ihren Müttern getrennt – angeblich damit sie so ein »Trennungstrauma« überwinden, das sie sich zum Beispiel vorgeburtlich zugezogen hätten. Die Reaktion der bürgerlichen Presse war überwiegend positiv. Kinder, so schrieb die seriöse ZEIT, durchliefen auf diese Art einen »Zivilisations-Crashkurs«. Ja, die Therapie sei hart – aber letztendlich doch zum Guten des Kindes.
Und wo begegnet uns sonst überall dieses »Es ist zum Guten der Kinder«? Kritisieren wir unser Bildungssystem, von dem wir doch wissen, dass es durch seinen Ausleseauftrag gerade den bildungsbedürftigsten Kindern dieses »Gute« sehr häufig schuldig bleibt? Von dem wir wissen, dass dort gerade diejenigen Kinder, die vom Leben sowieso schon benachteiligt sind, weiter benachteiligt werden? Kritisieren wir die Abwertung, die Ausgrenzung, die Beschämung, die dort gerade diejenigen Kinder erleben, die Aufwertung, Ermutigung und Zuspruch am dringendsten benötigen? Ich sehe das nicht. Wir rechtfertigen dieses System auf Schritt und Tritt.
Kritisieren wir die nach Auskunft aller Wissenschaftler eindeutig überforderte Kleinkindpädagogik? Ich sehe das nicht. Wir stimmen immer wieder in das Lamento ein: Hauptsache Plätze. Und was will man denn machen, es gibt nun einmal zu wenig Fachkräfte, bei dieser Bezahlung, Sie wissen schon. Aber frühe Bildung muss nun einmal sein. Sie ist zum Guten des Kindes. Dafür lassen wir uns gerne eine Geschichte einfallen. Wir wissen, dass da irgendwo ein Haken drin ist, aber wir lauschen gebannt.
Und kritisieren wir das komplett überforderte Geburtssystem? Die dort tagtäglich – meist entgegen den Intentionen des Personals – ausgeübte Gewalt, Beschämung, Fremdbestimmung, ja, teilweise auch Gefährdung der Gebärenden? Wirklich? Ich sehe das nicht. Allein die Sektion Oberland des Deutschen Alpenvereins hat etwa 20-mal mehr Mitglieder als alle gegenüber der real existierenden Geburtshilfe kritischen Vereine und Interessensgruppe zusammen – deutschlandweit.
Und von dem System der Altenpflege will ich gar nicht erst anfangen.
In vielerlei Hinsicht leben wir weiterhin die Omertà. Mit Blick auf die Schweigeopfer, von denen in den folgenden Kapiteln die Rede ist, können wir von diesem Buch etwas Wichtiges lernen: Wir sollten mutiger werden, vor allem als Gesellschaft.
Einleitung
Getreu dem Motto »Luftveränderung tut jedem gut« sind ab der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre bis weit in die 1980er-Jahre hinein in der Bundesrepublik alljährlich etwa eine Viertelmillion Kinder in die Kindererholung verschickt worden. Die Jüngsten waren knapp ein Jahr alt, die Ältesten standen am Beginn der Pubertät. Insgesamt betraf es im Lauf der Jahrzehnte geschätzt acht Millionen Kinder. Mal ging es in ein Haus in der näheren Umgebung, mal wurde quer durch Deutschland verschickt – in die Berge, an die See, in die verstreut liegenden Solebäder. Die Kinder reisten nach Amrum, Norderney, Föhr oder Sylt ebenso wie ins Allgäu, in den Schwarzwald oder den Harz.
Das Wort »Verschickungskinder« hören manche der Betroffenen heute zum ersten Mal. Aber es scheint ihnen sofort passend für ihr damaliges und oft auch noch ihr späteres Lebensgefühl. Verschickt zu werden, das heißt unter anderem, vom Individuum zur Nummer zu werden. Für sechs Wochen und manchmal gar für länger waren diese Kinder einem System ausgeliefert, das zu ihrem Besten sein sollte. Viele hatten fürchterliches Heimweh, nicht wenige waren verzweifelt, erlebten ihren Aufenthalt als puren Albtraum, leiden noch heute unter ihren Erlebnissen dort. Sie wollen Aufklärung darüber, warum sie in Kur geschickt wurden und warum sich ein System, das ihnen Schaden zugefügt hat, so lange halten konnte.
Dabei trug es einen vielversprechenden Namen: Kinderkur. Die Idee, Kinder mit etwas aufzupäppeln, was sie im Alltag nicht ausreichend bekamen, war angesichts der schlechten Versorgungslage direkt nach dem Zweiten Weltkrieg so zündend wie ehrbar. Kränkelnde und schwache Kinder sollten sich endlich satt essen können, frische Luft bekommen, neue Anregungen erhalten. Aber was viele Kinder der aufstrebenden Bundesrepu-blik in den schließlich fast 1000 Erholungsheimen in öffentlicher, kirchlicher und privater Trägerschaft erlebt haben, hat Narben hinterlassen. Warum hat das so lange niemanden interessiert? Gab es keine Signale oder Hilferufe? Oder hat man nicht richtig und geduldig genug hingehört, wenn Kinder versuchten, das Erlebte zu schildern? Womöglich hat man es von ihnen gehört, ihnen aber nicht geglaubt, sie für vermeintliche Lügen und Übertreibungen gar noch getadelt? War das Wahrnehmen unmöglich in einem Land, das in Normalität und Routine verliebt war, weil es den großen Ausnahmezustand von Faschismus und Krieg vergessen wollte? Wurden die Kinder der Bundesrepublik die späten Opfer der Sozialisation ihrer Eltern und des Heimpersonals in autoritären Strukturen sowie der alle Maßstäbe verschiebenden Kriegserfahrungen? Viele Erwachsene dieser Zeit jedenfalls hatten Härte gegen sich selbst eingepaukt bekommen und das Durchhalten als Überlebensprinzip verinnerlicht. Hier stellt sich auch die Frage, was in der Bundesrepublik zugunsten des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, zur Erreichung der Ziele der Nachkriegselterngeneration alles zu kurz kam? Was war hier wichtiger als das Einfühlen in die Kinderseele: das Erarbeiten von Statussymbolen, die Fassade einer funktionierenden Familie – und mit all dem das Vergessen der Vergangenheit? Welches Menschen- und speziell welches Kinderbild herrschte hier (immer noch?) vor, um mit Kindern so umgehen zu können?
Die Verschickungskinder haben nicht das große, inzwischen gesellschaftlich anerkannte Drama jener Heimkinder erlebt, die in der Bundesrepublik und der DDR jahrelang seelische und körperliche Gewalt aushalten mussten und deren Biografien und Entfaltungsmöglichkeiten bis in die Gegenwart zerstört worden sind. Nicht ehelich – im Behördenjargon: verwahrlost – aufzuwachsen, reichte oft schon, um in den Fokus des Jugendamtes zu geraten. Im Schatten solchen Unrechts haben die Verschickungskinder öffentlich geschwiegen.
Mancher, der verschont blieb, fragt, was denn in ein paar wenigen Wochen Kur so Großes passiert sein solle, dass es bis heute in den Leben der Verschickungskinder weiterwirkt? Was in den Kuren geschah, war fraglos zeitlich viel begrenzter als die Schikanen, Demütigungen und Übergriffe, die Heimkinder der frühen Bundesrepublik und der DDR erlebt haben. Aber in beiden Heimstrukturen handelte man aus dem gleichen Denken heraus: Man agierte aus Prinzip respektlos gegenüber Kindern, weil das Brechen des kindlichen Eigenwillens als Schlüssel zur Entwicklung des sozial gut integrierten Erwachsenen galt. Und diese Haltung beziehungsweise die Taten und Unterlassungen, die aus ihr erwachsen, können zumindest in manchen Seelen auch in kurzer Zeit großen Schaden anrichten. Das eben bezeugen die Geschichten jener Verschickungskinder, die verstört und verletzt aus der Kur zurückkehrten. Das Hauptaugenmerk dieses Buches liegt auf den Bedingungen, unter denen die Verschickung zu einem Massenphänomen in der prosperierenden Bundesrepublik wurde. In dem Deutschland, das für sich in Abgrenzung zur DDR in Anspruch nahm, Kinder nicht in staatlichen oder politischen Jugendorganisationen zu konditionieren oder gar zu gängeln.
Dieses Buch handelt von einem bislang unerzählten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Wurzeln des Geschehens reichen dabei weit zurück bis in die Kaiserzeit. Und es ist auch kein rein deutsches Phänomen. In den Niederlanden etwa waren die Bleekneusjes, die Blassnasen, und ihr Schicksal schon 1998 Thema einer Ausstellung und eines Erzählprojektes im Freilichtmuseum Arnheim. Ihre Geschichte gleicht der ihrer deutschen Leidensgenossen: Fern der Familien sollten sie genesen – stattdessen vergrößerte sich ihr Leid dort oft. Für alle Länder gilt: Die Folgen dieser Erholungskuren für die psychische Gesundheit so mancher ehemaliger Verschickungskinder erstrecken sich bis in die Gegenwart.
Wenn nun auch in Deutschland das einst Erlebte in den älter gewordenen Verschickten nach oben und endlich in die Öffentlichkeit drängt, dann stellen sich zusätzlich spezifisch deutsche Fragen. Das Schicksal der Verschickungskinder rührt an die Frage, wie sehr oder wie wenig die Nachkriegsgesellschaft tatsächlich mit Haltungen, Ideen und Konzepten gebrochen hat, die zum Faschismus geführt und im Dritten Reich ihre grausige Blüte erlebt hatten. Führt eine direkte Linie von der Pädagogik der NS-Ideologie und deren Erziehungsbibel Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, die Johanna Haarer verfasst hatte, zu jenem Kasernenhofdrill, der den jungen Kurgästen in manchen Heimen abverlangt und durch unmenschliche Methoden erzwungen wurde? Waren die Menschen, die in den Heimen Verantwortung trugen, selbst Opfer ihrer eigenen Traumata oder der ihrer Eltern? Gaben sie die Grausamkeiten, denen sie selbst ausgesetzt waren, an Schwächere weiter? Gab es jenseits einer möglicherweise von der NS-Erziehungsdoktrin durchtränkten Pädagogik in den Kurheimen zumindest in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik auch eine Kontinuität des medizinischen und pflegerischen Personals? Oder war alles bloß die Folge der Überforderung des Personals und eines damals schon herrschenden Personalmangels? Und gab es womöglich eine Gesundheitsfürsorgeindustrie, die unabhängig von medizinischem Nutzen an den Kinderkuren als lukrativem Wirtschaftszweig in strukturschwachen Regionen verdiente?
Die folgenden Recherchen werden belegen: Ja, es gab diese Gesundheitsfürsorgeindustrie. Kinderärzte wurden beispielsweise Mitte der 1970er-Jahre dazu angehalten, zur Auslastung von Kinderkurheimen beizutragen, als Anreiz wurden ihre Kurverschreibungen honoriert.
Solche Fragen waren lange tabu. Mittlerweile werden sie auch von der Politik gestellt, im Januar 2020 bei einem Gespräch mit der Autorin über das Thema etwa vom baden-württembergischen Sozialminister Manne Lucha. Die Familienminister aller Bundesländer haben inzwischen gemeinsam an das Bundesforschungsministerium appelliert, ein Forschungsprojekt zum Thema auf den Weg zu bringen. In Baden-Württemberg hat das Sozialministerium Vertreter von Verbänden, Krankenkassen, Kurträgern und ehemaligen Verschickungskindern zum regelmäßigen Austausch eingeladen. Das erklärte Ziel dieser Treffen heißt: Aufklärung der Geschehnisse in den Kurheimen. Andere Bundesländer tun Ähnliches.
Es ist an der Zeit, die Tür in diese Vergangenheit weit aufzumachen und das Dunkel auszuleuchten. Die heute erwachsenen Kinder zu sehen, in denen einst etwas zerstört wurde, als niemand ihre Heimwehtränen trocknete. Als sie Teller leer essen mussten, auch wenn sie vor lauter Ekel erbrachen. Als sie nicht wagten, in ihren Briefen nach Hause ihre Qualen und Ohnmachtserfahrungen anzusprechen, weil sie befürchteten, dass ihnen niemand glauben, das Heimpersonal vielleicht aber die Briefe lesen und sie zusätzlich bestrafen würde.
Was die Erwachsenen nicht ahnten oder nicht ahnen wollten, sprach sich unter den Kindern teilweise sehr wohl herum. Die knapp sechsjährige Ursula aus dem Sauerland bekam Ende der 1960er-Jahre von ihrem Bruder, der ein Jahr zuvor verschickt worden war, den Tipp, am Abend vor der Abreise eine ganze Tube Zahnpasta aufzuessen. Sie bekomme dann so hohes Fieber, dass man sie unmöglich in den Zug setzen könne. Ursula wollte auf keinen Fall erleben, was ihr Bruder in der Kur erlebt hatte. Sie hatte zwar nur eine verschwommene Ahnung davon, was das im Einzelnen war, aber sie hatte bemerkt: Er war nach seiner Rückkehr nicht mehr der lebhafte Junge von vorher. Er war nun verschlossen und in sich gekehrt. Ursula ging kein Risiko ein. Sie aß die Zahnpasta. »Ich bin drum herumgekommen«, sagt sie heute und meint die Kinderkur.
Auch Martina wusste, dass es schlimm werden konnte. Sie erinnert sich noch an die Erleichterung unter den Kindern im Zug von Süddeutschland an die Nordsee, als der wirklich bis nach Sylt fuhr und nicht in Richtung Norderney abbog. Von Norderney hatten sie nämlich Fürchterliches gehört. Angsteinflößende Geschichten kursierten über viele Heime. Die Erwachsenen haben sie offenbar weggewischt, wie Geschichten vom Spukmann unter dem Bett.
Warum melden sich die ehemaligen Verschickungskinder erst jetzt zu Wort, viele Jahrzehnte später? Ein wichtiger Teil der Antwort liegt in der Ungleichheit des Erlebens. Ansätze zum Erzählen trafen immer wieder auf den Unglauben, den Spott oder die Wut anderer, die ebenfalls eine Kinderkur absolviert haben, aber ganz andere Bilder und Erinnerungen mitbrachten – schöne Erinnerungen, die sie sich nicht zerreden lassen wollten. In manchen Familien geraten Geschwister über die Frage, was in der Kinderkur geschehen ist, im Erwachsenenalter in erbitterten Streit. Es geht um nicht weniger als die Deutungshoheit über die eigene Kindheit.
Die einen möchten eine geborgene Kindheit hinter sich wissen. Die anderen können keinen Frieden mit dem Damals schließen, sie möchten, dass man ihre Verwundungen endlich zur Kenntnis nimmt. Hört man genauer hin, eint die Betroffenen jedoch noch etwas anderes, eine gemeinsame Sorge: Nie mehr sollen Kinder solch institutioneller Gewalt ausgesetzt sein wie sie einst. Und für das eigene Leben gilt wohl für die meisten, was Melanie, 1976 als Sechsjährige nach Bad Dürrheim verschickt, so formuliert: »Ich möchte mich, wenn ich alt bin und Hilfe brauche, nie mehr so ohnmächtig fühlen wie damals als Kind.« Die Angst, noch einmal als Schwächere in einem Machtgefüge anderen, Stärkeren hilflos ausgeliefert zu sein, ist für sie ein unerträglicher Gedanke. Und nicht nur für sie.
»Wir waren ja alle so klein«, beschreibt eine andere Verschickte mehr als eine Altersstufe oder Körpergröße. Und eine weitere findet mit den Worten »Wir wurden alle ganz nackig gemacht« ein schlüssiges Bild für die Erfahrung des Ausgeliefertseins. »Alles war plötzlich weg: die vertraute Umgebung, die Familie, die Freunde. Einfach alles.« Hört man solche Sätze, sieht man unwillkürlich schutzlose kleine Mädchen vor sich, nicht erwachsene Frauen, die nun selbst längst erwachsene Kinder haben.
Für Medikamentenversuche, wie sie die Pharmazeutin Sylvia Wagner für Erziehungsheime nachgewiesen hat, wurden bislang keine Belege in den Akten zur Verschickung gefunden. Aber schon früh sagte Wagner, dass es einige Hinweise gebe, dass Kinder in den Kinderholungsheimen sediert worden seien. Wagner hält das für sehr naheliegend, weiß sie doch aus ihrer Recherche, dass in der Eingewöhnungs- und Heimwehphase der Heimerziehungsunterbringung Kinder medikamentös sediert wurden. Warum, fragt sie, solle das bei der vergleichbaren Personalsituation – zu wenig und fachlich oft nicht qualifiziert – in den Kindererholungsheimen anders gewesen sein?
Für die Heilstätte Maria Grünewald, in Wittlich in der Eifel gelegen, hat sie in der Fachzeitschrift Medizinische Welt einen Bericht aus dem Jahr 1961 über den Einsatz von Contergan »als ideales Mittel zur Sedierung unserer tuberkulosekranken Kinder« gefunden. »Kinder, die besonders unter der Trennung von zu Hause litten, gewöhnten sich viel schneller in ihre neue Umgebung ein und wurden ausgeglichener, wenn man schon am ersten Tag mit der Verabreichung von Contergan begann«, zitiert Wagner den Bericht.
Auch in den Kindererholungsheimen gab es abends Tee. Manche Kurkinder erinnern sich, nach dem Genuss des Getränks müde geworden zu sein. Das passt zu der Anweisung, die der Kinderarzt und Hannoveraner Pädiatrie-Professors Kurt Nitsch 1961 in einer Abhandlung, verfasst mit Kurt Hartung, gibt. Unter dem Titel Klimakuren bei Kindern. Zur Behandlung von Konstitutionsschwächen schreibt er: »Wir bekennen uns zu der Auffassung, dass besonders sensible und vegetativ labile Kinder mit großem therapeutischen Nutzen in Krisenzeiten oder bei Änderung des Milieus kurzfristig sedativ behandelt werden können. So ist es etwa sinnvoll, in der ersten Zeit einer Klimakur ein leichtes Schlafmittel am Abend zu geben und über Tag ein niedrig dosiertes Sedativum. Die Kinder gewöhnen sich schneller ein und werden in ihrer allgemeinen Umstimmung nicht durch unerwünschte Reize behindert. Ebenso sind wir davon überzeugt, dass besonders psycholabile Kinder zur Eingewöhnung kurze Zeit ohne Schaden mit Meprobamaten oder ähnlichen Präparaten behandelt werden dürfen.« Das sind Beruhigungsmittel und Tranquilizer, die, wie Wagner betont, medizinisch nicht indiziert waren. Ohne Einverständnis der Eltern sei eine solche Medikamentierung Körperverletzung.
Die Erinnerungen mancher Kinder an sogenannte Heimwehpillen passen ins Bild. Andere erinnern sich an Spritzen. Auch davon wird hier noch ausführlich die Rede sein.
Nitsch ist es auch, der in der erwähnten Anleitung zur Durchführung der Klimakur rät, Kindern keinesfalls den ersehnten Nutzen ihres Verschickungsaufenthaltes als Begründung für die Reise zu nennen. »Vielmehr muss dem Kind suggeriert werden, dass ›die schönste Reise seines Lebens‹ bevorstände.«
Die Briefe aus der Kur enthielten meist keine Details zu Atmosphäre, Abläufen, Problemen. Aber manchmal genügen wenige Worte, um alles zu vermitteln. Diese sechs zum Beispiel: »Ich möchte so gerne nach Hause.« Keine emotionalen Schnörkel, keine künstliche Dramatik. Und doch ist das ein Notruf, abgesetzt in tiefster Verzweiflung. Geschrieben hat den Satz die neunjährige Dagmar am 4. Mai 1970.
1970: Das ist das Jahr, in dem die Beatles kurz vor ihrer Auflösung ihre Fans in aller Welt noch immer in Ekstase versetzen. Aber auch Simon & Garfunkel, Led Zeppelin und viele weitere Musiker veröffentlichen wegweisende Alben: Die Popmusik spiegelt wie die Mode einen großen Umbruch. Die Röcke waren längst kürzer geworden, die Sitten lockerer. In Berlin wird am 14. Mai der Kaufhausbrandstifter Andreas Baader befreit – dies gilt als Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion. Die Welt ist in Aufruhr. Autoritäten werden infrage gestellt, Gewissheiten wanken. Von all dem aber ist in den Kinderholungsheimen nichts zu bemerken. Sie befinden sich an Orten, deren Namen einen guten Klang haben, weil sie auch für Erwachsene beliebte Urlaubsziele sind. Ihre Namen bringen den Geruch von Seeluft und Sonne oder den erdigen Geschmack von Wald mit sich. Aber der schöne Schein trügt.
Dagmars Brief veranschaulicht, wie bedrohlich und einschüchternd viele Kinder die fremdverordnete Erholung empfunden haben. Er ist mit Tinte geschrieben, in der ungelenken Schrift eines Grundschulkindes. Man sieht den Buchstaben die Mühe an, die es das Mädchen gekostet hat, sie ohne Kleckse und unschöne Korrekturen zu Papier zu bringen. Aber gerade in ihrer Bescheidenheit schnüren einem Dagmars Worte die Kehle zu. Sie erzählen nicht von offensichtlich Skandalösem. Sie sind eine stille Bitte um Erlösung. Sie sagen nicht, wie furchtbar das Leben an diesem fernen Ort ist. Kein Wort von Einsamkeit, fehlender Zuwendung und dem Gefühl, mutterseelenalleine inmitten der anderen zu sein. Doch zwischen den Zeilen hockt das Elend. Gerade mal zwei Wochen ihrer Kur hatte Dagmar hinter sich, als sie diesen Brief schrieb. Vier Wochen lagen also noch vor ihr. Sie berichtet davon, wie viel Schnee jetzt im Mai noch liege. Dass die Sonne bei den Spaziergängen so sehr blende, dass sie eine Sonnenbrille brauche. Fast hat man den Eindruck, alles Drumherum in diesem Brief diene nur einem einzigen Zweck. Dem nämlich, den einen wichtigen Satz endlich loswerden zu können, ihn gleichzeitig aber auch gut zu tarnen. »Ich möchte so gerne nach Hause.« Dagmar fügte noch eine Bitte dazu: »Schreib mir mal ein paar Karten oder Briefe.« Auf den Briefumschlag hat sie mit Buntstiften ein großes rotes Herz gemalt. Es hängt an einer roten Schnur und verschließt den Briefumschlag wie ein Siegel. Nur die Adressaten also sollten lesen, was das kindliche Herz so sehr beschwerte. Wie vernünftig ist dieses Kind, wie sehr bemüht, den Konversationston der Erwachsenen zu treffen. Um keinen Preis will es auffallen oder gar Ärger machen.
»Sechs Wochen waren einfach eine viel zu lange Zeit«, sagt Dagmar heute. Und die begann schon mit einem Schock. Gleich beim Eintreffen im Kurheim wurden Dagmar und ihr ein Jahr jüngerer Bruder getrennt. Dabei war das doch beider Trost gewesen: dass sie in der Fremde ein vertrautes Gesicht nahe bei sich haben würden. Vielen Geschwistern oder Freunden erging es so. Noch zu Beginn der 1990er-Jahre, berichtet eine Verschickte, wurden die Betten von ihr und ihrer Zwillingsschwester auseinandergestellt. Die beiden hatten einander zum Trost bei der Hand gehalten, um einschlafen zu können. Der knapp sechsjährigen Caroline war die Vorstellung von einem Urlaub mit den drei Jungs aus ihrem Wohnhaus, die wie Brüder für sie waren, zunächst durchaus verlockend erschienen. Aber die hier das Regiment führenden Nonnen trennten sie gleich bei der Ankunft im hessischen Bad Soden von ihren Freunden. Caroline hatte das starke Empfinden: »Das ist ungerecht.« Dem ersten Schrecken sollten weitere folgen.
Caroline (2. von links) glücklich wieder zu Hause nach der Kur
Dass viele Verschickungskinder angepasst und demütig auf ihre emotionale Entwurzelung reagiert haben, wurde als Beweis für die Charakterbildungskraft des Systems gewertet. Diese krude Interpretation belegen viele Entlassberichte der Kurärzte an den jeweiligen Kinder- oder Hausarzt: »Albert ist ein braves Kind« steht da etwa. In diesem Fall wurde aber nur aktenkundig gemacht, wie sich ein Kind aus Selbstschutz in innere Emigration und Resignation geflüchtet hat. Auch Dagmar und Caroline fühlten sich ohnmächtig. »Ich habe mich gefügt und darauf gewartet, dass die sechs Wochen um sind«, sagt die erwachsene Caroline.
Wenn Kinder sich beklagten, dann wurde das routiniert abgewiegelt. Immer wieder findet sich dieser Mechanismus in den Akten: Der Beschwerde eines Kindes folgt das Verwiesenwerden ins Reich der Erfindungen. Via Kinderschutzbund gelangten beispielsweise im Jahr 1965 die Vorwürfe einer Siebenjährigen an das badische Landesjugendamt in Karlsruhe. »Am meisten entsetzt sind wir über die sehr glaubhafte Erzählung des Kindes, dass die Kinder, wenn sie nicht essen wollten, mit der Peitsche zum Essen gezwungen würden, und wenn sie sich erbrechen, das Erbrochene wieder essen müssten. Abends nach 8 Uhr dürften die Kinder nicht mehr austreten. Bis 8 Uhr morgens sind die Klosetts verschlossen. Bei nassen Betten gibt es Prügel, ebenso bei Verschmutzung der Betten durch Nasenbluten. (…) Wir halten es für ausgeschlossen, dass das Kind alles erfunden hat«, schreibt die Sachbearbeiterin – mit der Bitte um Aufklärung.
Das zuständige Landratsamt Sinzheim jedoch »sieht keine Veranlassung, die Arbeitsweise des Kindererholungsheims zu bemängeln«. Gewährsfrau für diese amtliche Zurückweisung der Vorwürfe ist keine unabhängige Prüferin, sondern der Einfachheit halber eine der in Verdacht Gezogenen – die stellvertretende Heimleiterin. Die hat wissen lassen, die Behauptung, dass Kinder nachts nicht austreten dürften, sei unrichtig. »Kinder, bei denen bekannt ist, dass sie Bettnässer sind, erhalten am Abend weniger Flüssigkeit und werden außerdem bei den Mahlzeiten entsprechend berücksichtigt.« Auf den Vorhalt, dass die Kinder mit der Peitsche zum Essen gezwungen würden und Erbrochenes wieder essen müssten, hat die Heimleitung erklärt, es gebe im ganzen Heim weder Stock noch Peitsche.
Zum Vorhalt, das Kind könne doch nicht alles erfunden haben, erklärte die anwesende Ordensschwester laut Antwortschreiben des Landratsamtes, es sei unrichtig, dass überhaupt geschlagen werde. »Es wird zugegeben, dass es einmal vorkommt, dass ein Kind von einer Tante einen ›Klaps‹ bekommt, wenn dies zur Herstellung der Disziplin erforderlich ist.«
Banalisieren, bagatellisieren, leugnen, wegschieben: Was hier am Einzelbeispiel sichtbar wird, war bis fast in die Gegenwart das Modell für den Umgang mit Problemen in der Gesundheitsindustriesparte Kinderkuren. Und noch heute findet sich in einem internen Gedankenaustausch auf Heimleitungsebene der Satz, der nicht von einer Offenheit im Umgang mit der eigenen Geschichte spricht. »Noch bin ich sehr zuversichtlich, dass uns kein Schatten aus einer längst vergangenen Zeit trifft«, ist da in einer Mail zu lesen. Viele der Fragen rund um den Komplex sind augenblicklich noch nicht abschließend zu beantworten. Sie müssen Teil weiter gehender interdisziplinärer Forschung sein. Dieses Buch erzählt von Einzelschicksalen, die jedoch über sich hinausweisen. Es stellt Recherchen vor, die an anderer Stelle mit großer Wahrscheinlichkeit ähnliche Ergebnisse zutage bringen werden. Außer Frage steht aber schon jetzt: Was geschehen ist, hat Kinderseelen verletzt. Es widersprach allen Prinzipien der Bindungstheorie. Die Kinder waren in der Kinderkur einem System ausgesetzt, das zumindest in der Praxis völlig außer Acht ließ, dass zur körperlichen immer auch die seelische Gesundheit gehört.
Die erfahrene Familientrauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper aus Gelsenkirchen, selbst ein Verschickungskind aus dem Ruhrgebiet, hat eine interessante Beobachtung gemacht. In ihren Trauerseminaren lässt sie die Teilnehmer immer dort auf ihrer Lebenslinie eine Kerze hinstellen, wo zum ersten Mal Traurigkeit in ihr Leben gekommen ist. Die 56-Jährige hat festgestellt, dass die Frauen und Männer oft die Zeit in der Kinderkur mit einem Licht markieren. Auch Mechthild Schroeter-Rupieper selbst hat ihre Kerze genau dort hingestellt. Sie rechnet die Zeit der Kinderkur in vielen Biografien der Kategorie der noch immer nicht gelebten Trauer zu.
Zur Verteidigung des manchmal ignoranten Umgangs mit den Kindern, ist man schnell geneigt, partielle Themenblindheit zu unterstellen: Damals habe man bei Kinderkrankheiten eben rein von dieser Physis her gedacht. So aber stimmt diese Verallgemeinerung nicht. Mancher Fall macht ratlos, weil schlicht eins und eins nicht zusammengezählt wurden. So liest sich der Bericht einer Mutter aus dem Jahr 1973 über die Kur ihrer gerade mal 21 Monate alten Tochter wie das Protokoll eines vorsätzlichen ärztlichen Kunstfehlers. Das Kind, das so früh schon zwei Lungenentzündungen hinter sich hatte, neigte zu Asthmaanfällen. Die traten regelmäßig montags auf. Dann nämlich verließ der Vater, der weit entfernt arbeitete, die Familie wieder für die ganze Woche. Der Kinderarzt vermutete ganz nachvollziehbar, die Anfälle seien seelisch bedingt. Überhaupt nicht nachvollziehbar ist, was er nun als Kur für diese ins Körperliche durchschlagende Trennungsangst verordnet: einen vierwöchigen Kuraufenthalt für das noch nicht einmal zweijährige Mädchen! Wieso er es sinnvoll fand, dieses Kind ohne jede vertraute Bezugsperson auf die Nordseeinsel Norderney zu schicken, wird sein Geheimnis bleiben. Die Mutter erinnert sich, dass der Verordnung ausdrücklich nicht nur die »gute Seeluft« zugrunde lag, sondern sie auch die Chance für die Tochter beinhalten sollte, sich ein wenig mehr vom Vater abzukoppeln. Die Angst vor dem Verlust des Vaters sollte also durch eine noch brutalere Trennung geheilt werden. Schweren Herzens, aber dem folgend, was sie für höhere ärztliche Einsicht hielten, brachten die Eltern ihre Tochter in das von der Krankenkasse zugewiesene Erholungsheim.
Dort nahm eine Schwester in Ordenstracht Erwachsene und Kleinkind in Empfang. Die Eltern bugsierte sie in einen Büroraum. Das Mädchen nahm sie an der Hand und verschwand mit ihm in den Tiefen des alten Klinkersteingebäudes. Die Eltern hatten keine Gelegenheit, ihre Tochter noch einmal in den Arm zu nehmen oder ihr ein paar tröstende Worte zu sagen. Dieser Moment hatte Züge einer Entführung. Doch damit nicht genug: Besuche seien verboten, tat die Schwester den überrumpelten Eltern kund. Dies war über lange Zeit eine weitverbreitete Regel in den Kurheimen – zwar nicht unbedingt rechtskonform, dafür umso gängiger. Lediglich im Heim anrufen durften sie, aber nur einmal in der Woche, um sich nach ihrer Tochter und deren Gesundheitszustand zu erkundigen. Das Kind selbst durfte nicht ans Telefon. Die Eltern durften nur zuhören, wie sich eine Schwester mit der Kleinen unterhielt. Man kann sich ausmalen, welch Quälerei das für Kind und Eltern war.