Michael Seemann

Die Macht der Plattformen

Michael Seemann

Die Macht der Plattformen

Politik in Zeiten der Internetgiganten

Ch. Links Verlag

Für meinen Vater († 21. Januar 2021)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Der Ch. Links Verlag ist eine Marke

der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

1. Auflage, Mai 2021

basiert auf der 1. Druckauflage vom Mai 2021

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de

Umschlaggestaltung: Mate Steinforth

Satz: Britta Dieterle, Buch und Gestaltung, Berlin

ISBN 978-3-96289-075-9

eISBN 978-3-86284-468-5

Inhalt

Einleitung

1    Was ist eine Plattform?

Plattformdefinitionen

Drei Arten von Plattformen und ihre Kriege

2    Koordination und Infrastruktur

Erwartung

Generativität

Automatisierung

3    Netzwerkmacht

Eine kurze Geschichte der Netzwerkeffekte

Netzwerkeffekte revisited

Die Macht in den Netzwerken

4    Kontrollregimes

Level-I-Kontrollregimes

Level-II-Kontrollregimes

5    Strategien der Graphnahme

Plattformmacht

Horizontale Strategien

Vertikale Strategien

6    Plattformpolitik

Interdependenz

Netzinnenpolitik

Netzaußenpolitik

Netzsicherheitspolitik

7    Die politische Ökonomie der Plattform

Digitaler Postkapitalismus

Digitaler Hyperkapitalismus

Das Interregnum

Epilog

Die Plattformanalyse: Spotify

Ausblick: Zehn Prognosen

Was tun?

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Abbildungsnachweis

Der Autor

Einleitung

Da ist er wieder: User »RobDragon963_« ist online. Endlich kann ich den Download von Mobys DJ-Set »Teknoville at Cherry Moon« fortsetzen. »RobDragon963_« ist der einzige Napster-User, der das Set verfügbar hat, und ich muss es haben. Es ist das Frühjahr 2000, ich bin noch im Grundstudium, und gerade habe ich ein Erweckungserlebnis.

Zwei Wochen zuvor hat mich ein Kommilitone auf einen Internetdienst namens Napster aufmerksam gemacht. Dort bekäme ich alle Musik, die ich mir nur vorstellen könne. Und alles andere auch – und zwar für umsonst. Napster ist zu dieser Zeit weltweit der Hit an Universitäten, prallen dort doch massenweise junge Menschen auf kostenlose Internetbandbreite. Ich habe die letzten zwei Wochen kaum etwas anderes mehr gemacht als nach Musik gesucht, Musik heruntergeladen und Musik auf CDs und sogar auf DVDs gebrannt. Es ist, als sei eine gute Fee erschienen, die einem jeden Musikwunsch erfüllt.

Aber es ist mehr passiert, als dass ich nur meine Musiksammlung vervollständigt hätte. Zum ersten Mal habe ich verstanden, welche Wucht das Internet haben wird. Ich kann es damals nicht wirklich artikulieren, mir fehlen die Begriffe. Aber mir ist klar, dass hier Mechanismen am Werk sind, die die Welt revolutionieren können – sogar müssen. Diese Mechanismen sind so radikal anders als die Welt, in der ich aufgewachsen bin, dass ich alles darüber wissen muss.

John Perry Barlow, berühmter Internetpionier, beschrieb den Einschlag von Napster so: »Es war wie in dieser berühmten Szene aus 2001: Odyssee im Weltraum, als der prähistorische Affe einen Knochen in die Luft wirft, der dann zum Raumschiff wird. Napster war ein unfassbarer Sprung nach vorn.«1 Wie sich zeigen wird, ist Napsters Entwicklung tatsächlich wegweisend für die heutige Plattformökonomie. Napster wird uns deswegen über das gesamte Buch hinweg begleiten und als Linse dienen, mit der wir die Geschichte und die Theorie der Plattformen immer wieder genauer untersuchen und mit Anekdoten veranschaulichen werden.

Plattformen …

Napster war eine frühe Plattform, die den heutigen Internetriesen bereits strukturell sehr ähnlich war. Doch was ist eine Plattform? Google ich den Begriff, erscheint als Erstes der entsprechende Eintrag bei Wiktionary, einer freien Plattform für Begriffsdefinitionen, danach der bei Wikipedia – einer Plattform für freies enzyklopädisches Wissen. Bald danach kommt ein Twitter-Account unter dem Namen. Twitter ist eine Plattform für Kurznachrichten. Natürlich ist auch Google selbst, womit ich suche, eine Plattform. Während ich die Trefferliste durchgehe, trinke ich Kaffee aus dem Nespresso-Automaten, der mit seinem Kapselsystem ein Plattformgeschäftsmodell betreibt. Neben mir liegt das Sandwich, das ich mir per Lieferando habe bringen lassen – eine Essensbestellplattform. So wie die meisten Plattformen existiert sie als App auf dem Smartphone, entweder auf einem Android-Handy oder dem iPhone – beide sind ihrerseits Plattformen. Ebenso der Rechner vor mir, auf dem ich die Suche eingegeben habe und diesen Text schreibe. Das Web, das ebenfalls eine Plattform ist, basiert auf dem Internet, und auch das lässt sich als Plattform begreifen.

Plattformen sind in alle Lebensbereiche gedrungen. Sie produzieren unsere Fernsehserien, bringen uns von A nach B, organisieren unsere Unterkünfte in fremden Städten und Ländern, informieren uns über spannende Orte, Restaurants, Produkte. Wir organisieren unser Liebesleben über sie. Wir tragen sie in der Hosentasche, am Handgelenk, im Rucksack – und das oft gleichzeitig. Plattformen vereinfachen unser Leben und verkomplizieren es. Sie geben uns Freiheit und schränken sie ein. Sie regulieren unsere Leben und sollen stärker reguliert werden. Sie sammeln unsere Daten, Vorlieben und Erlebnisse. Sie bilden Modelle von uns und versuchen, unser Verhalten vorherzusagen. Plattformen moderieren, was wir sagen, und sie sind immer öfter unser Chef.2

Aber noch mal: Was sind Plattformen überhaupt? Häufig werden sie von Unternehmen betrieben, aber Plattformen und Unternehmen sind nicht deckungsgleich. Wie wir zeigen werden, gibt es Plattformen, die von mehreren oder sogar gar keinen Unternehmen betrieben werden, und Unternehmen, die mehrere Plattformen betreiben. Außerdem haben Plattformen nicht einfach Kund*innen, sondern Nutzer*innen. Das ist insoweit ein Unterschied, als dass wir gar nicht so sehr mit einer Plattform als über eine Plattform interagieren – mit anderen Nutzer*innen nämlich, sei es geschäftlich oder privat. Plattformen sind damit so etwas Ähnliches wie Märkte, indem sie einfach einen Ort des Austausches anbieten. Doch weil Plattformen Beziehungen herstellen, greifen sie auch ordnend in die Interaktionen ein, beispielsweise auf Basis der sogenannten Community-Guidelines oder einfach den AGBs. Plattformen nehmen mehr als andere Unternehmen eine gewisse Regierungsfunktion ein.3

Das Faszinierende an Plattformen ist, dass sie sich unseren althergebrachten Kategorien entziehen. Obwohl es oft Unternehmen sind, sind sie zugleich regierungs-, also staatsähnlich, andererseits auch marktähnlich – und eigentlich nichts davon. Eine zentrale These dieses Buches ist, dass es sich bei Plattformen nicht einfach nur um eine neue Technologie oder ein neues Geschäftsmodell handelt, sondern um nicht weniger als ein eigenständiges Strukturparadigma sozialer Organisation, das neben Markt, Staat und Unternehmen eine eigene Kategorie beansprucht.

… und ihre Macht

Alle sind sich einig, dass Plattformen besonders viel – einige würden sagen: zu viel – Macht haben. Doch was meinen wir damit, wenn wir ihnen Macht zusprechen? Welche Art von Macht haben sie? Zunächst haben Plattformen bzw. die sie betreibenden Unternehmen oft enorme wirtschaftliche Macht. Wirtschaftliche Macht ergibt sich schlicht daraus, mehr Ressourcen zur Verfügung zu haben als andere Akteure. Apple besitzt 193,8 Milliarden US-Dollar an Bargeldreserven4 – das entspricht dem Gesamtumsatz der Daimler AG im Jahr 20195. Der wirtschaftliche Erfolg von Plattformunternehmen ist so groß, dass die meisten Bücher über Plattformen Business-Ratgeber sind, die zu erklären versuchen, wie man selbst an diesem Erfolgsmodell partizipieren kann.

Die zweite Form der Macht, die Plattformen zugeschrieben wird, ist die Marktmacht. Marktmacht hat ein Unternehmen, wenn es fähig ist, den Wettbewerb in einem Markt empfindlich einzuschränken und im schlimmsten Fall die Preise zu kontrollieren. Tatsächlich gibt es derzeit sowohl in den USA als auch in Europa zahlreiche Kartellrechtsverfahren gegen Plattformunternehmen. Vielerorts steht der Vorwurf im Raum, sie nutzten die eigene Marktmacht zum Nachteil von Wettbewerber*innen und zum Teil auch von Konsument*innen aus. Dass Plattformen eine große Marktmacht haben, liegt auf der Hand.

Eine dritte Macht, die den Plattformen nachgesagt wird, lässt sich mit dem Wort Datenmacht beschreiben. Plattformen sind im Besitz einer Menge von Daten. Daten über die Gesellschaft und ihre Prozesse, aber vor allem über uns als Individuen. Mit all den personenbezogenen Daten, so eine These, haben Plattformen die Möglichkeit, Menschen in großem Maßstab zu manipulieren, was am Ende ja auch das Geschäftsmodell zumindest jener Plattformunternehmen ist, die sich über Werbung finanzieren.6 Doch auch alle anderen Plattformen verfügen über viele Daten, und da sich das Narrativ durchgesetzt hat, dass Daten der wichtigste Rohstoff des 21. Jahrhunderts sind,7 wirkt diese Machtzuschreibung auch sonst plausibel.

Eine weitere Form der Macht kann man zumindest nicht wenigen Plattformen unterstellen: politische Macht. Sie kommt ihnen zu, weil sie in die Leben vieler Menschen hineinregulieren. Man kann von Mark Zuckerberg auch als einem der mächtigsten Politiker der Welt sprechen. Er hat nicht nur Macht über die 2,2 Milliarden Nutzer*innen seiner Dienste, sondern auch gegenüber nationalstaatlichen Politiker*innen, da seine Entscheidungen einen großen Einfluss auf die Geschicke von Nationalstaaten haben.

All diese Formen der Macht werden in diesem Buch Beachtung finden. Doch seine These geht darüber hinaus: Ich behaupte, dass jede von ihnen zu einem Großteil Effekt einer anderen, viel grundlegenderen Macht ist, die Plattformen von anderen Unternehmen oder sozialen Entitäten absetzt. Ich nenne diese spezifische Form der Macht Plattformmacht. Plattformmacht ist eine der Funktionsweise von Plattformen inhärente Dynamik, die Plattformen erst in die Lage versetzt, viel Geld zu verdienen, Marktanteile und Daten in einem bislang unbekannten Ausmaß zu akquirieren und gesellschaftlichen und politischen Einfluss zu erlangen. Sie ist außerdem ursächlich für alle ihre unterschiedlichen Geschäftsmodelle.

Kontrolle und Kontrollverlust

Als Shawn Fanning im Juni 1999 seinen noch experimentellen Dienst Napster online stellt, ist ihm nicht bewusst, wie groß das Rad ist, das er da in Bewegung setzt. Durch das Filesharing, auf dem Napster beruht, verliert zunächst die Musikindustrie die Kontrolle über ihr Produkt, weil alle ihre Songs einfach so frei verfügbar im Internet zu haben sind. Zugleich ist Napster aber auch Vorreiter einer neuen Form von Kontrolle. Es ist der Beginn dessen, was später als Web 2.0 und noch später als Social Media bezeichnet werden sollte: eine neue Art und Weise, wie sich viele Menschen zu ihrem eigenen Vorteil koordinieren können. Und das bringt alles durcheinander. Nie zuvor und nie danach hat sich die Dialektik des Plattformparadigmas plakativer gezeigt: die ungekannte Organisationsmacht auf der einen und der dadurch ausgelöste Kontrollverlust auf der anderen Seite. Der Napster-Schock ist die erste Kraftprobe der neuen, vernetzten Welt mit der alten, analogen.

Der Kontrollverlust durch Plattformisierung blieb nicht bei der Musikindustrie stehen. Bald erfasste er die Filmindustrie, die Presseverlage und die Buchbranche. Zwar wurde Napster schnell in Grund und Boden geklagt, aber das Filesharing wurde in immer neuen Formen und Farben ausprobiert. Nach Napster kamen Gnutella, Kazaa, eMule, eDonkey und schließlich BitTorrent, jenes Protokoll, das völlig ohne zentralen Server auskommt8 und die Downloads stattdessen aus dezentralen Datenströmen seiner Millionen Nutzer organisiert.

Allerdings umfasst der Kontrollverlust durch Plattformen weit mehr als Online-Piraterie. Wenn er sich im legalen Rahmen bewegt, nennt man ihn »Disruption«. So werden derzeit alle möglichen Geschäftsmodelle durch Plattformen bedroht, am prominentesten die Taxibranche durch Uber, Lyft und die vielen anderen Mobilitätsdienstleister. Eine Branche nach der anderen transformiert sich in ein Plattformmodell.

Doch selbst über Geschäftsmodelle geht der Kontrollverlust noch hinaus. Auch die Privatsphäre ist bedroht. Ein Gefühl macht sich breit, die Kontrolle über die eigenen Daten längst verloren zu haben. Gestützt wird dieses Gefühl durch die ständigen Datenskandale. Jede Woche wird eine neue Website oder Datenbank gehackt, und die Daten tauchen auf illegalen Plattformen im Darknet auf. Durch Edward Snowden haben wir außerdem erfahren, dass die NSA die Plattformen anzapft, um an unsere Daten zu kommen, und seit dem NSA-Untersuchungsausschuss im Bundestag wissen wir, dass der deutsche BND fröhlich dabei mithilft.

Von 2010 an trifft der Kontrollverlust vermehrt Regierungen und große Organisationen. Hauptauslöser ist dabei eine Plattform. Doch Wikileaks hat den Trend nur begonnen. Über die Rolle der Plattformen im Arabischen Frühling und bei Occupy Wall Street ist viel geschrieben worden. Ohne Facebook und Twitter hätte es mit Sicherheit auch Proteste gegeben, doch durch die digitale Organisationsmacht konnten in Windeseile enorme Menschenmengen koordiniert werden. Darauf waren die Regime etwa in Tunesien und Ägypten nicht vorbereitet. Noch viel gezielter setzen die Aktivist*innen in Hongkong, Santiago de Chile und Beirut oder die Gelbwesten in Frankreich Plattformen wie Telegram, WhatsApp, Facebook und Google Maps ein, um sich lokal zu organisieren, ihre Aktionen in Echtzeit zu koordinieren oder die Bewegungen der Polizei zu tracken. Neue politische Gruppen wie Extinction Rebellion arbeiten sogar mit eigens aufgesetzten Plattformen zur intelligenten Koordination.9 Da werden Nachfragen und Angebote für Schlafplätze gematcht und Aufgaben je nach Kompetenz verteilt.

Viele Protestbewegungen fanden auf Plattformen überhaupt erst ihren Anfang: #MeToo, #BlackLivesMatter, #schauhin, #aufschrei haben unsere Gesellschaften erschüttert, indem sie individuelle Geschichten des Leids und der Diskriminierung zu gigantischen Strömen ineinandermünden ließen und so gesellschaftliche Problemlagen sichtbar machten, wie es bisher kaum ein Medium vermochte.

Die Organisation im Netz ist natürlich nicht auf progressive Bewegungen beschränkt – auch der Hass findet sich auf Plattformen zusammen. Pegida hat als Facebook-Gruppe angefangen; in Telegram-Chats finden sich rechtsradikale Mitglieder der Sicherheitsbehörden zusammen, die den Tag X herbeisehnen und Listen mit Politiker*innen anfertigen, die sie dann aus dem Weg schaffen wollen.10 Und allein der Plattform 8Chan entsprangen drei Terroranschläge mit etlichen Toten.11

Zwanzig Jahre nach dem Napster-Schock steht die Musikindustrie wieder gut da, mit Umsätzen, die fast an die Vor-Napster-Zeiten heranreichen. Den Hauptanteil davon erzielt sie mit Streaming über Anbieter wie Spotify und Apple Music. Und wir selbst besitzen keine Musik mehr. Nachdem Napster der Musikindustrie das Eigentum genommen hatte, nahm uns Spotify unseres und ersetzte es durch Zugang. Plattformen bringen nicht nur Ordnungen ins Wanken, sie sind selbst die neue Ordnung. Die Musikindustrie war das erste Opfer des Kontrollverlusts, und es ist die erste Branche, die einen radikalen Strukturwandel durchgemacht hat. Sie steht exemplarisch für die viel größere Verschiebung in allen unseren Lebensbereichen.

Nun sollen Plattformen die Probleme lösen, die sie selbst verursacht haben: Google bringt Ordnung ins Chaos des Webs, Facebook und Twitter sollen über die Rede wachen und einschreiten, wenn falsche Tatsachen oder Hass verbreitet werden, Apple verspricht, unsere Privatsphäre mittels ausgefeilter Verschlüsselungsverfahren zu schützen, selbst gegen Geheimdienste. Bei Amazon Marketplace bestellen deswegen so viele, weil Amazon seine Händler zu bestimmten Kulanzmindeststandards verpflichtet. Plattformen machen das Leben berechenbarer, Transaktionen verlässlicher, Kommunikation stetiger, Information agiler.

Plattformen haben die Macht, Ordnungen zu zerstören, Plattformen haben die Macht, Ordnungen zu erschaffen, und meistens tun sie beides. Diese Macht ist uns unheimlich, auch wenn wir nicht umhinkommen, sie immer wieder anzurufen und auf sie zu bauen. Dieses Dilemma können wir nicht auflösen, aber versuchen, es zu beschreiben.

Auf dem Weg zu einer Theorie der Plattformmacht

Benjamin Bratton hat in seinem Buch The Stack – On Software and Sovereignty beklagt, dass es bis heute an einer Plattformtheorie fehle.12 An Literatur zum Thema Plattformen besteht grundsätzlich kein Mangel; sie stammt vor allem aus den Wirtschaftswissenschaften, aber auch aus den Kommunikations-, Kultur- und Medienwissenschaften.13 Viele Arbeiten feiern die Plattformen als die neuen Wunderkinder der Geschäftswelt, andere problematisieren sie als Ausgeburt eines eskalierten Kapitalismus.

Was jedoch fehlt, ist eine Plattformtheorie, die über die spezifischen Einzelbetrachtungen der jeweiligen Fächer hinausgeht und sie gleichzeitig integriert – oder zumindest nicht im Widerspruch zu ihnen steht. Es fehlt darüber hinaus eine systematische Auseinandersetzung mit der Macht der Plattformen: wie sie entsteht, wie sie agiert, wie ihre Mechanismen und Strategien funktionieren, wie sie Kontrolle ausübt und wie sie das politische und ökonomische Vorgehen der Plattform determiniert.

Solch eine Theorie muss transdisziplinär sein, beschreibend, nicht wertend, und darf von keinem Interesse geleitet sein außer dem nach Erkenntnis. Sie muss sich mit informatischen Konzepten, wirtschaftswissenschaftlichen Beobachtungen, soziologischen und medienwissenschaftlichen Theorien auseinandersetzen und auch in der Politikwissenschaft nach Deutungsrahmen suchen. Sie muss diese Sichtweisen aufgreifen und übersetzen, Denkansätze anschlussfähig machen und ihre Widersprüche in Metaebenen aufheben. Dazu muss ein eigener Begriffsapparat geschaffen werden, der es vermag, die herausgearbeiteten Phänomene zu benennen. Eine allgemeine Plattformtheorie müsste in der Lage sein, als Grundlage für alle Beobachtungen zu Plattformen nützlich zu sein. Egal, ob jemand wirtschaftliche, politische, kulturelle oder soziologische Fragen an Plattformen hat, sollte es sich lohnen, die Theorie zumindest einmal in die Hand zu nehmen.

Doch eine Theorie reicht nicht. Plattformen widersetzen sich reiner Theoretisierung, weil sie historisch gewachsene Strukturen sind, wie wir noch zeigen werden. Uber, Facebook, iOS oder Windows sind in ihrer Gestalt weder notwendig noch beliebig. Warum verwenden wir bis heute QWERTZ-Tastaturen, den ASCII-Standard, den TCP/IP-Protokollstapel? Warum sind alle bei Facebook oder WhatsApp, warum nutzen wir immer noch E-Mail, wo kommen die 30 Prozent Abgabe her, die Apple und Google in ihren App-/Play-Stores einnehmen? All das vermag keine Theorie allein zu beantworten. Wenn man die heutige Plattformlandschaft verstehen will, muss man sich also genauso sehr mit der Geschichte der Plattformen beschäftigen. In diesem Buch werde ich deswegen ausgiebig Gebrauch von Plattformereignissen der Vergangenheit machen, einerseits zur Veranschaulichung, andererseits aber auch aus dem Bewusstsein heraus, dass das Thema ohne ein Verständnis der Gewachsenheit der Plattformlandschaft unvollständig bliebe.

Die Wechselwirkung von Technologie und Gesellschaft wurde in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Herangehensweisen beschrieben. Zwischen Technikdeterminismus – also der Vorstellung, die Welt sei vornehmlich durch die Vorgaben der Technik strukturiert – und der Vorstellung einer rein durch die Willenskraft des Menschen strukturierten Gesellschaft gibt es das Konzept der Affordanz.14 Als Affordanzen verstehen wir die Möglichkeitsbedingungen von bestimmten Praktiken und Strukturen, die in einer Technologie angelegt sind. Technologie hat immer einen Angebotscharakter und legt bestimmte Handhabung oder bestimmte Einsatzzwecke nahe, die aber nicht zwingend angenommen werden. Eine Pistole legt nahe, sie zum Schießen zu verwenden, doch man kann auch einen Nagel damit in die Wand schlagen. Die Idee der Affordanz ist eine Art abgeschwächter Technikdeterminismus, der davon ausgeht, dass Technologie zwar keine Struktur vorgibt, sie aber unter Umständen ermöglicht und/oder wahrscheinlich macht. Die Reformation ist nicht die Folge der Druckerpresse, aber die Druckerpresse hat die Reformation mit ermöglicht, oder zumindest ihren Erfolg wahrscheinlicher gemacht. Diese Plattformtheorie ist eine Theorie der Affordanzen. Sie erklärt, wie Technologie Anschlussfähigkeiten herstellt, die bestimmte Verhaltensweisen, Strukturen, Konflikte, Politiken, politische Ökonomien und wiederum andere Technologien wahrscheinlich macht.

Nachdem wir geklärt haben, was eine Plattform ist (1 Was ist eine Plattform?) und wie sie funktioniert (2 Koordination und Infrastruktur), entfalten wir die Theorie der Plattformmacht. Plattformmacht besteht aus zwei Bestandteilen: die Netzwerkmacht zum einen (3 Netzwerkmacht) und die Möglichkeiten der Kontrolle zum anderen (4 Kontrollregimes). Mit diesen theoretischen Grundlagen lassen sich allerhand Beobachtungen neu sortieren. Zunächst analysieren wir die Konkurrenz der Plattformen untereinander, die sich als Kampf um die Kontrolle von Netzwerkgraphen entpuppt (5 Strategien der Graphnahme). Diese Graphkontrolle setzt unwillkürlich unterschiedlichste Politiken ins Werk, deren Panorama wir inspizieren (6 Plattformpolitik). Schließlich muss auch die Ökonomie der Plattform mittels der Theorie der Plattformmacht neu gedacht werden (7 Die politische Ökonomie der Plattform). Es bleibt zu zeigen, wie sich die Theorie der Plattformmacht analytisch anwenden lässt, zu fragen, wie es mit den Plattformen weitergeht, und ein paar Hinweise zur Frage zu liefern, welche Handlungsempfehlungen sich aus der Analyse der Plattformmacht ableiten lassen. (Epilog).15

Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2020/21 von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne den Einsatz und die großzügige Unterstützung von bestimmten Menschen und Institutionen. Ich möchte Professor Dr. Bernhard Pörksen danken, der sich nicht nur bereiterklärt hat, die Arbeit zu begutachten, sondern mich überhaupt erst motivierte, sie zu beginnen. Auch Professor Dr. Klaus Sachs-Hombach gebührt mein Dank für die Offenheit, sich diesem besonderen, interdisziplinären Projekt anzuschließen. Darüber hinaus möchte ich vor allem Professor Dr. Leonhard Dobusch sowie Christof Blome vom Ch. Links Verlag danken. Sie haben begleitend zu meinem Schreiben die gesamte Arbeit gegengelesen, mitgedacht, korrigiert und mir immer wieder entscheidende Hinweise und wichtige Kritik zukommen lassen. Zu einzelnen Kapiteln haben außerdem Dr. Anna-Katharina Meßmer, Dr. Christoph Engemann und Katharina Nocun wichtiges Feedback gegeben. Für das wunderbare Buchcover habe ich Mate Steinforth zu danken, der sich die Zeit genommen hat, das Plattformthema grafisch umzusetzen. Ich möchte mich außerdem für die Gastfreundschaft und die geistigen, materiellen und finanziellen Ressourcen bedanken, die mir das Hamburger Forschungskolleg »Zukünfte der Nachhaltigkeit« als dessen Fellow angedeihen ließ. Für moralischen und ideellen Beistand möchte ich mich besonders bei Kelda Niemeyer und meinen Eltern – Isolde und Wolf-Dieter Seemann – bedanken.

Über das gesamte Buch verwende ich gendergerechte Sprache, indem ich bei den mehrzahligen menschlichen Akteuren den Genderstern * und bei einzelnen Akteuren die weibliche und männliche Form im Wechsel verwende.