Cemile Sahin wurde 1990 in Wiesbaden geboren. Sie studierte Bildende Kunst am Central Saint Martins College of Art and Design in London und an der Universität der Künste in Berlin. Ihre Arbeiten bewegen sich zwischen Film, Fotografie, Skulptur, Sound und Text. Ausgangspunkte ihrer Arbeiten sind Bilder oder Geschichten, die sie in ihren multimedialen Installationen neu inszeniert. Dadurch hinterfragt sie die Funktionalisierung von Medien und die Bedeutung verschiedener Perspektiven für die Geschichtsschreibung und geht der Frage nach, wie sich Geschichte und ihre Erzählung verändert, wenn sie über die Narrative verschiedener Perspektiven konstruiert wird. Ihre Texte wurden bei Zeit Online, in Das Wetter – Magazin für Text und Musik und in der taz veröffentlicht. Cemile Sahin ist ars viva Preisträgerin 2020 für Bildende Kunst und Stipendiatin der Akademie der Künste in Berlin.
Eine Mutter verliert ihren Sohn im Krieg. Dann engagiert sie einen jungen Mann, der bereit ist, sich als ihr Sohn auszugeben.
Rosa Kaplan hat ihren Sohn Polat im Krieg verloren. Sie ist außer sich vor Trauer und beschließt, einen jungen Mann, der ihrem Sohn ähnelt, die Rolle ihres Sohnes spielen zu lassen. Ihr Plan: eine Erzählung im Stil US-amerikanischer Serien, Regie: sie, Rosa Kaplan. Der Plan scheint zu funktionieren, so gut sogar, dass dieser unbekannte Mann, der nun bei Rosa wohnt, wirklich zu ihrem Sohn wird und schließlich sogar dazu bereit ist, für seine neue Mutter zu töten. In ihrem Debütroman gelingt Cemile Sahin der Spagat zwischen einer neuen, eigenen Form und einer sehr klaren, zeitlosen Sprache. Ein Roman, bei dessen Lektüre man ähnlich tief in die Geschichte versinkt, die nicht die eigene ist, wie der Protagonist des Buches.
»Die Entschiedenheit, Klarheit, Härte und Sicherheit im Ton in ›Taxi‹, dem ersten Roman von Cemile Sahin, ist (…) eine Wucht.« Julia Encke, Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
»Es gibt Bücher, die aus der Menge an Neuerscheinungen herausragen, weil sie vieles andere plötzlich recht brav aussehen lassen. (…) Der erste Roman von Cemile Sahin ist so ein Buch. Die Autorin ist eine künstlerische Senkrechtstarterin. Ihr gelingt das Kunststück, eine hochpolitische Geschichte über die äußeren und seelischen Verwüstungen des Krieges so unterhaltsam zu erzählen, dass Pathos oder moralisierende Töne gar nicht erst aufkommen.« Deutschlandfunk
»›Taxi‹ ist anders. Irgendwas zwischen trashig, nachdenklich, absurd, politisch und ziemlich cool.« Süddeutsche Zeitung
»Ein starkes Debüt.« taz
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Dies ist der
Roman
Taxi
in dem Rosa Kaplan beschließt, ihr Schicksal nicht zu akzeptieren und den Sohn, der ihr durch einen Krieg genommen wurde, durch einen anderen zu ersetzen.
Inhaltsübersicht
Über Cemile Sahin
Informationen zum Buch
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Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Prolog
Taxi: Season 1 Episode 1
Taxi: Season 1 Episode 2
Taxi: Season 1 Episode 3
Taxi: Season 1 Episode 4
Taxi: Season 1 Episode 5
Taxi: Season 1 Episode 6
Taxi: Season 1 Episode 7
Taxi: Season 1 Episode 8
Taxi: Season 2 Episode 1
Taxi: Season 2 Episode 2
Taxi: Season 2 Episode 3
The End
Taxi: Season 2 Episode 4
Kapitel VI
Impressum
Ji bo dê û bavê min;
bi hezkirin û minetdariyek bêdawî
Setz dich. Ich setze mich. Handschellen um. Silberfarben. Ein leichter Klick. Erst die rechte Hand. Ein leichter Stoß. Silber im Genick. Dann die linke über die rechte Hand.
Hast uns vermisst? Ich vermisse es nicht. Enger schnüren. Hast uns geliebt? Ich habe den Gedanken geliebt.
Bist wieder zurück? Wer von ihnen konnte fliehen? Der Kopf auf der Tischplatte. Draußen Sommer. Klingel ringt. Hinter Türen verschlossen. Klingel ringt nicht. Dieser Ort ist eine Kulisse. Meine Pflicht. Hinter verschlossenen Türen. Auch ich bin diese Kulisse. Verraten. Auch ich und sie.
Steh auf. Ich stehe auf. Mit dem Geräusch seiner Heimat. Sind wir barmherzig? Barmherzig sind sie. Damit ich an sie glauben kann. Und an etwas anderes auch. Kann mich nicht bewegen. Welcher Fortschritt ist geboren. Ein Tier. Ich nicht. Das bist du? Das bin ich. Jedes Mal jammern. Ohne mich. Was man ohnehin schon weiß. Tag ein. Tag Schluss. Vollendet das Jahr.
Steh auf. Ich stehe auf. Und beneide den einen, der auf der anderen Seite steht. Teile mein Mitleid mit ihm. Er will nicht. Weil er nicht zu uns gehört. Nicht so wie ich. Schlucken. Beneide alle. Bloß nicht an meinem eigenen Speichel verrecken. Zwei Kilogramm Schmerz gegen den Kopf. Was ich ertrage. Waffe fester. Herz silber. Groß und klein. Wie man es macht. Spreche nicht mehr. Gott hat Zähne. Und ein Volk. Verfolgt mich.
Steh auf. Ich stehe auf. Mit Handschellen und der Waffe im Genick. Sie amüsieren sich über meinen Angstschweiß. Vom Zaun in die Zelle. Das ist mein Brot. Publikum lacht. Bitter. Zähle das Wort Gewohnheit. Achtundvierzig Mal. Ich gewöhne mich nicht daran. Wie lange schon. Hier ist Nacht. Oder dort. Aber ich. Trage den Dreck ab. Vielleicht im Dunklen. Der bleibt übrig. Stopfe ihn in mich. Wo ist der Ekel. Passt nicht rein. Bin zu fett. Aus meinen Nähten. Brauche nicht weiter. Bin jetzt zahm und taub.
Es ist kalt. Mittellos die Fahne. Rot und weiß. Das Ende der Fahne wird das Ende sein. Das ist billig. Scheitel fettig. Fresse meine Moral satt. Dreißig Minuten sparen. HAHAHA. Ihre Fragen. BLABLABLA. Stöpsel zu. Danke. Miststück. Bein tut weh. Mürbe. Keuchen hinter dem Fenster. Pause. Habe Scheiße am Stuhl. Alles Vergangene kommt an. Und es mieft. Denn es bleibt in der Erde. Wie du? Wie ich. Ich habe verstanden, wie man Türen schließt.
Guten Abend.
Guten Tag.
Bin blau vom Schlagen. Nicht erschrocken. Schlage Wurzeln. Bin jetzt wach. Wer lacht? Ich nicht. Prügelt mich ins Leben zurück. Das muss ich erklären. Bis ich alles aufgebe. Der Spalt wird größer zwischen Wand und Boden. Muss ich auch das erklären. Muss ich schießen. Zwischen Welt und Wand und Breaking News.
Bist du satt? Herbst. Hier gibt es kein Brot. Stiefel raus. Bin der Dieb. Soll ich reden. Dieses Jahr nicht. Soll ich zucken. Aber wo. Ich will noch nicht. Sie klatschen. Vor Freude. Und ich falle um vor Schreck. Bisschen Gelächter. Bisschen flennen. Ich bin ein Egoist. Das ist unverhofft gekommen. Ich sterbe. Wir sterben, wenn wir nicht geliebt werden. Sie lachen mich aus. Stimmt das? Ja, das stimmt.
Ich weiß. Winter. Ohne flennen. Böse. Weil ich an nichts glaube. Wieder Prügel. Jeder lacht. Ich auch.
Name, schreit er, und tritt näher an mich heran, so nah, dass ich seinen Atem im Nacken spüre. Das ist mir unangenehm. Er riecht nach Eiern und Zwiebeln. Die Haare im Nacken richten sich zu Berge. Meine, nicht seine. Sein Waschmittel riecht wie meine Kindheit oder ist es einfach nur die Seife, mit der er morgens nach dem Aufwachen sein Gesicht wäscht? Der Geruch kommt mir bekannt vor. Ich komme leider nicht dahinter. Name, brüllt er, diesmal in mein rechtes Ohr. Seine Stimme dämmert in meinem Kopf und ich versuche in die andere Richtung auszuweichen, um seinem Stimmorgan zu entgehen. Seine Stimme verhakt sich, im Dreivierteltakt, erst im Ohr und dann im Mund.
Beim Brüllen verschluckt er nicht nur den letzten Buchstaben, also das »E«, sondern er spuckt mir dabei auch Schweiß und Speichel entgegen. Von »Name« bleibt »Nam« übrig, aber ich höre nur: nahm (wie der Geruch). Das klaut er mir auch. Du hast doch einen Mund. Mach das Maul auf. Der Duft ist weg. Er wird zorniger. Das höre ich an seinem Stimmton und das ist auch durch eine Geste bemerkbar: Mit seinen Stiefeln verstärkt er seine Sätze. Ein Satz folgt auf einen Fußtritt, folgt auf einen Satz, folgt auf einen Fußtritt, und so weiter.
Als sie mir die Handschellen anlegten, wurden mir beide Arme grob nach hinten gerissen, damit kein unvorhergesehener Widerstand zum Vorschein komme. Plötzlich war ich ein Mann mit den Händen hinterm Rücken. Ich habe nichts dagegen gesagt. Was hätte ich auch sagen sollen? In solchen Situationen gibt es nichts mehr zu reden. Das würde sie noch mehr in Unkosten stürzen, denn sie müssten noch mehr arbeiten und Arbeit, die man auszuführen hat, strengt schon genug an und wenn einem noch mehr Arbeit aufgehalst wird als die Arbeit, die sowieso schon zu erledigen ist, dann ist das ermüdend und keiner möchte ermüdet nach Hause gehen. Ich habe Verständnis dafür. Ich bin von Natur aus ein verständnisvoller Mensch. Aus diesem Grund sind meine Hände in Handschellen und über Kreuz hinter meinem Rücken festgeschnallt. Sehr eng, aber so ist das nun mal. Ich habe nichts gesagt, trotzdem wusste ich, was mir blüht.
Besonders gut kann ich mich nicht bewegen: Der linke Arm ist seit Stunden eingeschlafen und zuckt bis in den Unterarm, aber ich nehme das hin. Es tut ein bisschen weh, aber ich sage nichts, so wie ich dem Mann, der ununterbrochen nach meinem Namen fragt, seit Stunden schon, immer noch nicht geantwortet habe. Er packt meinen Kopf hinter meinen Rücken und haut ihn auf den Tisch. Dann legt er mir ein Stück Draht wie einen Strick um meinen Hals, zum Spaß, sagt er und zieht fest zu. Dabei denke ich an meine Mutter. Dann haut er wieder meinen Kopf auf den Tisch. Er definiert alles, was kommt. Er ist stärker als ich. Kopf und Drahtseil knallen auf den Tisch aus Metall. Das kann ich nicht vergessen. Ich weiß nicht, ob das Geräusch des Aufpralls laut genug ist, um seine Stimme zu übertönen. Drahtseil spannt, Kopf dröhnt, aber ich höre seine Stimme immer noch. Und ich kann den Lärm, der sich im Raum ausbreitet, nicht von seiner Stimme unterscheiden. Er hört nicht auf, nach meinem Namen zu rufen.
Einige Sekunden bleibe ich mit dem Kopf auf dem Tisch liegen, versuche panisch die Augen zu öffnen, warum ich sie geschlossen habe, weiß ich nicht, nicht mehr wichtig. Ich bilde mir ein, dass mir Blut über das Gesicht läuft. Wie sieht es aus. Es tut weh, aber nicht so weh, dass ich leide. An den Haaren werde ich aufgerichtet, (teilweise nur an den Haarspitzen) weil er es vor Erregung und Ärger (wohlmöglich), da ich immer noch nicht geantwortet habe (so ist das!), nicht schafft, mit seinen Fingern meinen ganzen Kopf zu umfassen, stattdessen nur einzelne Haarbüschel zu fassen kriegt und die Haare, die nicht reißen, helfen ihm, mich hochzuziehen. Er zieht mich hoch, als ob ich ein Huhn wäre, das aus seinem Käfig kommt, senkrecht nach oben.
Zuallererst drückt er mich an seine Brust. Mir ist warm. Schwitze wie ein Walross, fettes Schwein. Über seine Brust wandere ich in Richtung Gesicht, beinahe liegt es in meinem. Wie stark er ist, Augen braun, Haare blond. Die Nase ruht im perfekten Abstand zwischen Stirn und Oberlippe, eine wohlgeformte Muse, gemalt aus einzelnen Bildern, für die alle tagelang Schlange stehen. Wie riecht er von links nach rechts und umgekehrt, kann er mit seiner Zunge die Nasenspitze berühren, kann er nur eine Augenbraue heben, ohne dass sich die andere bewegt. So viele Fragen, die ich brauche, damit ich nicht leide und die ich ihm aber nicht stellen kann. Und er stellt mir immer wieder die eine. Das ist fad.
Die Lippen spitze ich zu einem Kuss, summe, innerlich einsilbig, wie eine Hummel, die zu einer Blume finden will und versuche durch die dünne Luft, die zwischen uns liegt, mir einen Weg zu bahnen, um den Namen, den ich nicht los werde, ihm als Kuss (aus Liebe) und als Botschaft (aus Rache) in die Fresse zu bohren. Wenn wir nicht in diesem Raum sitzen würden, ich als Krüppel, mit Hand und Haaren, Drahtseil um den Hals, unbeweglich, er, mit seiner Waffe, die mich hier lose von seiner Hüfte aus anschielt, die ich mir aber woanders wegdenken könnte (so wäre das erträglicher und humorvoller) und dem groben Gerüst, den er vor sich trägt, das Gesicht also, wie ein Versteck, das mich wie ein Hinterhalt verfolgt und mir die Luft zerschneidet, sich auf mich legt, mir nicht erlaubt, mir förmlich verbietet, ausdrücklich verbietet, mit jeder neuen aufkommenden Kraft (noch mehr Bosheit) diesen Ort der Enge, der sich auf vier mal vier Meter erstreckt, unausgesprochen zu machen. Sie machen mich zu einem Gefangenen auf zwei Beinen. Das nennt man Folter oder Gerechtigkeit.
Ich schließe meine Augen und ich öffne sie wieder, aber ich bin ich nicht woanders. Schade. Er zieht diesmal etwas kräftiger am Drahtstrick um meinem Hals, dann an meinen Haaren, die reißen, das Drahtseil nicht, dabei wimmere ich etwas mehr, aber ich schreie wirklich nicht, denn ich habe mich an dieses Leben gewöhnt. Bevor ich mich bewege, schlägt er mich mit der anderen Hand, mit einer flachen Hand, die mich nicht an den Haaren oder am Hals hochzieht, zwischen Stirnfalte und Mund, ich falle vom Stuhl, auf den Boden, auf den Bauch.
Wirklich: BREAKING NEWS.
Wie schön ist das Leben. Wie neu. Es gibt tatsächlich nichts dramatischeres. Wie unberechenbar, schreit einer hinten aus einer Ecke. Ich nicke, aber niemand sieht mich, weil meine Fresse am Boden hängt. Ja, das habe ich begriffen. Das nennt man Folter- oder Gerechtigkeit.
Jetzt bekomme ich Prügel, zur Abwechslung diesmal nicht mit Händen, sondern mit seinen Stiefeln. Als ich dachte, ich ersticke von den Prügeln, bin ich nicht erstickt. Ich dachte an Kriegsfilme, die in meiner Erinnerung zu meinem Leben wurden. Ich dachte an die anderen Filme, die ich als Kind gesehen hatte. Ich habe meine Kindheit vergessen. Ich dachte an den Krieg, der aus dem Fernseher zurück in mein Leben kroch. Ich habe die Namen meiner Geschwister vergessen. Ich dachte an die Bilder aus den Nachrichten, die das Leben und seine Folgen bestätigten. Aber ich vergaß, was als nächstes kam. Der Krieg hat mich entstellt. Das ist die Folter. In jeder Geschichte gibt es ein kaltes Herz. In jeder Geschichte gibt es ein warmes Herz. Ich kann mich nicht mehr an die Zeit zurückerinnern. Es tut sehr weh, seinen Platz zu verlieren, ich spüre es zum dritten Mal in meinem Leben. Das kann ich mir eingestehen.
Ich bin ein ehrlicher Mensch.
Meine Beine zittern, das Blut rinnt mir diesmal aus der Nase. Ich will ein Wimmern ausstoßen, aber ich kann nur husten. Blut und Speichel mischen sich zu einem Brei, der mir das Atmen erschwert. Ich huste. Ich spucke noch einmal. Deinen Namen. Maul auf. Er wiederholt sich, zieht noch einmal am dem Drahtseil, ich huste wieder, das langweilt mich.
Name.
Jeden Montag bringe ich den Müll raus.
Name.
Jeden Dienstag gehe ich ins Kino.
Name.
Jeden Mittwoch trinke ich eine Cola.
Name.
Jeden Donnerstag gieße ich die Blumen.
Name.
Jeden Freitag gehe ich mit meiner Mutter spazieren.
Name.
Jeden Samstag bleibe ich zuhause.
Name.
Jeden Sonntag spiele ich für meine Mutter Flöte.
Die Zeit erweckt den Anschein, als vergehe sie in der Zelle langsamer, doch ich weiß: Sie vergeht gar nicht. Alles ist ein lähmendes Spiel, eine Episode, die ich so oft durchlebt habe, dass jeder Vorgang, jeder Tritt, aber auch jede Geschichte an mir vorbeifährt. Ich werde nicht weinen, denn alle werden mich bedauern. Ich bedauere nur, dass ich mit Handschellen und Drahtseil am Boden liege. Wenn man seine Situation akzeptiert, vergibt man dem Leben. Aber ich vergebe nur dem Leben, nicht den Menschen. Ich vergebe dem Krieg. Ich vergebe den Waffen. Nicht den Menschen. Wegen den Menschen ist mir die Fähigkeit abhanden gekommen, Geschichten zu erzählen.
Mit dem linken Bein stemme ich mich gegen den Boden und versuche mich langsam aufzurichten, der Schmerz trifft mich, er zieht am Drahtseil und ich kann nichts anderes tun als zu fallen. Mit Gewalt wird mir hoch geholfen und ich werde wieder grob auf den Stuhl gedrückt. Bitte, Wasser, sage ich. Als Kind saß ich nicht gerne auf Stühlen, sie sind starr und ich musste meinen Körper jedes Mal aufs Neue in sie pressen und fand nie eine Position, die so komfortabel war, dass ich mehrere Minuten am Stück in ihnen ruhen konnte. Stühle bedrängen mich schon mein ganzes Leben und in diesem speziellen Stuhl zu sitzen, ist schwieriger für mich als den Schmerz der Handschellen zu ertragen, die sich nun langsam, da ich sie seit Stunden tragen muss, tief in meine Handgelenke bohren, und die schmerzen, vielleicht bluten sie bereits, sicherlich, aber ich sehe nicht, was hinter meinem Rücken passiert.
Als Kind habe ich mich oft mit den Nachbarskindern geprügelt, das war unsere Antwort auf die Bomben, die von oben auf uns runterfielen. Meistens trafen wir uns nach der Schule gegen vier oder fünf, in einem heruntergekommen Stall, der uns Schutz vor den Erwachsenen, aber auch Schutz vor jenen Kindern bot, die Angst vor uns hatten. Wir schlugen uns mit Steinen und mit Stöcken, selten mit Fäusten. Der Stärkste der Gruppe (ich), markierte mit einem Stück Kreide (weiß, manchmal blau, weil blau die Farbe der Unschuld ist, sagten die Erwachsenen zu uns Kindern) den Ring.
Um den gezogenen Kreis stapelten wir allerlei Gegenstände herum, um unseren Ring (im Geheimen auch Prügelring genannt) exakt von der Landschaft zu trennen, was eigentlich bedeutete, dieses Fleckchen Erde von der Landschaft so abzugrenzen, dass ihre bloße Existenz zwar mit den Augen sichtbar war, aber trotzdem ein Nicht-Ort blieb, der nur stattfand, um unsere Langeweile in ihm aufgehen zu lassen. Ein geheimer Raum, Prügelring, unser Schlächter der Welt, der alles andere verschluckt. Der Prügelring war da, und er war nicht da, aber die, die wussten, wie viel seine Notwendigkeit kostete, die spürten das Ausmaß der Dinge und dies galt es zu beschützen. Drumherum war nicht viel zu sehen, ein Blick nach rechts, ein Blick nach links (für manche: noch einen Blick für den lieben Gott): Flachland. Einöde. Plattgetretenes Gestrüpp. Hier fand uns kein Gott.
Es gab nur noch einen einzigen riesigen Baum in der Gegend. Einmal stemmten wir uns zu neunt gegen ihn, und versuchten ihn aus der Erde zu reißen, weil er uns im Weg stand. Wir, zu neunt, wir waren das Ungeziefer, das gegen das Leben schlug, weil wir jung waren und das Leben und seine Geschichten für uns schon verbraucht. Es dauerte lange, bis unsere Ungeduld (besonders meine) in Wut umschlug.
Deswegen blieb uns nur noch das Feuer. Feuer ist wie Aufbau und Arbeit, es führt die Tatsachen zu Ende. Feuer fängt an. Feuer brennt am längsten. Aus der Garage eines Nachbars klaute der Jüngste von uns einen Kanister Benzin. Großzügig begossen wir den Baum, gingen einmal um den Baum herum, und zweimal, ich glaube sogar dreimal und einer von uns kletterte hoch auf den Baum, um von oben einen anderen Kanister (ebenfalls voll mit Benzin) auszugießen. Wer es war, weiß ich nicht mehr. Dann warf ein anderer Streichhölzer, mit der warmen Glut nach unten, die das Benzin nährte. Ewig brannte es nicht, deswegen gossen wir noch mehr Öl ins Feuer, das nicht richtig brannte. Nur ein brennendes Haus war einmal ein Haus und ein brennender Baum war einmal ein richtiger, echter Baum. Selbst ein brennender Mensch war einmal ein Mensch. Soviel war uns klar. So nah waren wir am Leben. Als die Flamme endlich aus dem Baby-Tropfen wuchs, klatschten wir (ich weiß nicht, warum). Von der Erde, durch die Wurzeln wuchs das Feuer am Stamm entlang, das Gras roch wie Pisse. Wir klatschten weiter.
Es brennt, es brennt, es brennt, sagten die anderen.
Ich sehe, dass es brennt, ihr Dummköpfe.
Ich wollte das Feuer beschützen. Ich wollte, dass es Jahre lang brennt. Für sie war es einfach nur Feuer, sichtbar und aufregend, aber für mich war es ein bisschen mehr: Es war ein Kompromiss gegen die Bomben und das Leben. Wer stand Millimeter entfernt vor dem Feuer? Ja, genau, das war ich. Es war ein Fest.
Da die Erwachsenen das Feuer natürlich irgendwann bemerkten, wurde es gelöscht. Da klatschten wir nicht mehr. Innerlich war es fast wie ein kleiner Tod: Das Feuer, das sie löschten, war das Feuer, das so aussah wie wir. Trotzdem brannte es lang genug. Der Baum war nicht mehr zu erkennen. Er wurde zu unserem Krüppel und wir hatten ihn seit diesem Tag an lieb. So lieb, dass wir ihn, entstellt wie er war, akzeptierten.
Jedenfalls stand der Baum als halbkahle Stelle neben unserem Prügelring. Aus herumliegenden Tonnen und Müll bauten wir eine Art Schutzwand um den gezogenen Kreidekreis herum. (In der Schule haben wir nicht den kaukasischen Kreidekreis von Brecht gelesen, wir haben den kaukasischen Kreidekreis von Brecht gehasst)
Es war zur Sicherheit und zur Abschreckung: Sicherheit, weil dieser Ring unsere Wut entgegennahm, aber Abschreckung für all diejenigen, die begriffen, wie stark und wie gleichgültig wir ihnen gegenüber waren. Wer nicht zu uns gehörte, der wurde gehasst und wer nicht in unseren Prügelring stieg, wurde verachtet. Es war wie ein Zuhause.
Einmal, an einem sonnigen Tag, stach ich einem Jungen mit einem Stock das Auge aus. Es war halb beabsichtigt, halb aus Versehen. Ich wollte ihm eigentlich einen schweren Schlag mit meinem Stock verpassen, aber als er auf mich zu kam, fiel er vor mir auf die Knie und ich konnte meinen Schlag nicht mehr abwenden, weil ich ihn mit meinem Arm wirklich schnell treffen wollte. Er war älter als ich. Mein Stock glitt wie ein Buttermesser über das Brot, das sein Auge war, er quietschte wie ein Tier vor Schmerz, sein Schrei war so laut, dass ich dachte, er quetscht die Ratten aus ihren Löchern. Mit seiner Hand versuchte er nach der Wunde zu greifen, wahrscheinlich aus Reflex. Er fing an zu weinen und krümmte seinen Rücken zu einem Buckel, so, als ob er seine Wunde beschützen wollte. Aber die konnte er nicht beschützen, denn die hatte ihn schon entstellt. Und wie wir alle wissen: Was einen entstellt, das bleibt. Das nennt man Folter oder Gerechtigkeit.
Noch heute frage ich mich, ob aus dem Auge, in dem der Stock steckte, Tränen flossen oder ob der Stock in seinem Auge wie ein Staudamm war und nichts mehr hinausfließen konnte. Barfuss kletterte er über die Fässer, stolpernd, weinte dabei umso mehr, der Stock ragte tief unterm Hirn, er rannte mit tapsigen Schritten weg von uns, um weiter zu stolpern, aber diesmal klagend, sehr eindringlich und klagend, fast schon wie eine Anklage, so als ob wir über ihn richteten. Ihr mögt mich nicht, ihr mögt mich nicht.
Ich wusste nicht, was das damit zu tun haben sollte. Schweigend sahen wir ihm nach, wie er als Krüppel am Krüppelbaum vorbei tastete, bemüht und auch vorsichtig, einen Schritt vor den anderen zu setzen, um ja nicht hinzufallen, um ja nicht weiter Beute sein zu müssen. Ich wurde zum Sieger gekürt, weil ich gewonnen hatte. Wer den Ring als Erstes verlässt, das denke ich jetzt, der verliert und wer sich nicht auf all das einlässt und dagegen hält, der gewinnt. So ist das immer im Leben. Und das ist keine Folter, sondern Gerechtigkeit.
Seit meiner Geburt wohnte ich in dieser Stadt, eigentlich war es ein Dorf. Es lag zwischen zwei Hügeln und war durch eine schlecht betonierte Landstraße miteinander verbunden. Im Sommer war es warm und im Winter kalt. Aber oben auf den Bergen lag noch im Sommer Schnee. Wir waren von der Welt um uns herum abgetrennt, weil niemand hier her kam. Wer sich hier nicht auskannte, der ging verloren. Es war eine Stadt, die aus mehreren Dörfern bestand. Jeder kannte sich. Deshalb war es auch langweilig.
Und die meiste Zeit passierte nichts. Manchmal verlor ein Schaf seine Herde. Das Militär kontrollierte unser Dorf schon, bevor ich geboren war. Ich hatte mich an diese Umstände gewöhnt, deshalb war es nicht der Rede wert. Was bedeutete, dass nichts passierte. Aber wenn etwas passierte, dann passierte es schnell, weil sonst nichts passierte, es passierte so schnell, dass es die ganze Zeit und immer wieder passierte. So auch an diesem Tag. Es war Dienstag. Die Sonne schien ein wenig hinter bedeckten Wolken und wenn ein Ereignis an einem schönen Tag passiert, dann erinnert man sich gerne zurück und vergisst es nicht. Das war immer eine schöne Sache und weil der Mensch sehr einfach gestrickt ist, wird es auch immer diese schöne Sache bleiben.
Mit einem Taxi wurde der Junge ins Krankenhaus gebracht. Das Krankenhaus lag hinter dem Hügel zwischen den zwei Hügeln unserer Stadt. Später erfuhren wir, dass der Stock ihm so tief im Auge steckte, dass er ihm seine komplette Bindehaut zerstörte und deswegen alles in sich einsackte und schrumpfte. Von diesem Tag an war er auf einem Auge blind. Das war doch eine schöne Erinnerung: Er würde diesen Tag nie vergessen.
Ich habe keinen Ärger bekommen, weil ich jedem, der mich danach fragte, was passiert sei, ob Erwachsene oder anderen Kinder, die nicht dabei waren, erzählte, dass auch ich, überrumpelt und schockiert (das ist immer ein gutes Wort, um Mitgefühl auszudrücken) von diesem Ereignis war. Jedes Ereignis ist trügerisch für all diejenigen, die nicht dabei waren. Allen, die mich danach fragten, versicherte ich meine Unschuld. Ich sagte: Ich bin unschuldig. Ich bin betroffen. Und je mehr Menschen eine Geschichte glauben, desto realistischer wird sie. Da muss man beinahe nicht mehr lügen, denn sie erzählt sich von selbst. Wer diesen Trick nie kannte, den kann ich nur bedauern.
Zwischen drei Vorlagen jonglierte ich umher:
Erstens: Im Spiel hat sich die Menge zu einer Masse vermischt!
(traurig)
Zweitens: Alles war durcheinander, es passierte so schnell!
(entsetzt)
Drittens: Wo warst du? Keiner kam, um uns zu helfen!
(vorwurfsvoll, bestimmend, fünf Sekunden später: links und rechts zwei, drei Tränen, manchmal mit Spucke oder Rotze, manchmal Wasser, manchmal echt)
Von der eigenen Schuld abzulenken, indem man Mitgefühl und Trauer kombiniert, war ein gutes Vorspiel, um die Aufmerksamkeit und den Vorwurf auf all die zu richten, die nicht da waren, um zu helfen. An Tagen, an denen ich besonders gut drauf war, schaffte ich es sogar mehr als zwei, drei Tränen aus meinen Augen zu quetschen. Meistens war ich dann derjenige, der in den Arm genommen wurde, zärtlich konnte ich mich ihnen an den Hals werfen. Manchmal war ich so gut, dass ich während dieser Streicheleinheiten noch mehr Tränen hervorbrachte, was wiederum dazu führte, dass ich noch mehr geliebt wurde. Gott kannte die Wahrheit, aber dieser Gott konnte mich nicht bestrafen. Ich wusste, dass es sehr viele Menschen gab, die Gott mochten und einige von ihnen versicherten immer, dass Gott sie auch liebt, so wie sie ihn lieben. Gott liebte einen und keinen und alle. Ich hingegen hatte eine Wut, die bekam ich nicht los, wie ihren Gott.
Während die Erwachsenen beteten, schlugen wir uns. Während des Freitagsgebetes schlug ich besonders fest zu. In die Fresse und in den Bauch. Ich betete nicht und ich hatte keine Angst vor ihrem Gott. Gott bringt mir noch immer nichts bei. Ich habe andere Sachen gelernt, und dadurch war ich sehr stark für mein Alter. Wenn du einmal stark bist, bleibst du immer stark. Und wenn du stark bleibst, erkennen dich alle wieder. Und Kinder, die Schläge nicht beantworten, werden totgeschlagen. Und wenn man dumm ist, dann lässt man sich totschlagen, offenkundig und hartnäckig. Dann weiß man endlich, dass alles zu spät ist und alles vorbei. Man verreckt einfach.
Seit diesem Vorfall nannten wir ihn nur noch den Einäugigen. Wenn er mich sah, wechselte er die Straßenseite und versuchte unerkannt an mir vorbeizuhuschen. Um ihm Angst einzuflößen, täuschte ich manchmal vor, ihm hinterherzurennen. Ich wusste, dass der Mensch von Natur aus sehr stark ist, dadurch begriff ich auch, dass er deshalb um sein Leben rennen würde. Aber weil ich manchmal lieb war, kam ich ihm nur so nahe, dass er in letzter Sekunde das Gefühl verspürte, entkommen zu können. Ich wollte nicht bösartig sein, aber ich konnte Langeweile auch nicht ertragen. Das ist keine böse Absicht. Und jeder, der mich kennt, würde mir da zustimmen.
Alle Menschen sind gleich und alle empfinden dasselbe, nur anders. Ich habe nie den Verstand verloren, weil mir alle immer geglaubt und mich deswegen nie in Frage gestellt haben. Ich tat Dinge, die ich für richtig hielt, zumindest solange, bis mich jemand versuchte vom Gegenteil zu überzeugen, aber auch dann rückte ich nicht von meiner Position ab. Ich tat nur so, als wolle ich Einsicht zeigen, denn so lernte ich besser zu lügen und konnte ich mich von den anderen abgrenzen. Und es trug auch dazu bei, dass ich stärker wurde. Und wenn ich stark war, waren die anderen schwach und wenn die anderen schwach waren, war ich umso stärker.
So ist die Natur und so wollte es Gott oder zumindest stelle ich mir vor, dass Gott denen, die beten, zu ihm aufschauen und an ihn glauben, das sagt.
Wozu dann die Zeit mit Beten verschwenden? Er schien ja sowieso nie jemandem zu antworten. Er will doch, dass die Schwachen totgeschlagen werden, damit es nicht so viele Menschen auf der Welt gibt. Und wer die Schwachen nicht schlägt, der verhungert. Und wer sich von der Welt betrügen lässt, der stirbt. Und damit die Welt nicht mich betrügt, betrüge ich sie. Das habe ich als Sechsjähriger in meinem Bett mit mir ausgemacht, als es dunkel war und die Bomben gegen die Wände schlugen, bis alles wackelte. Einmal schlug eine Bombe vor unserer Tür ein. Die Haustür krachte gegen die Wand und fiel auf das Bett, in dem mein kleiner Bruder lag. Er starb vermutlich sofort, denn er war ganz klein. Nicht mal so groß wie mein Unterarm. Ich kannte die Einzelheiten dieser Geschichte nicht. Er war zwei Wochen alt, noch kein Mensch. Ich kannte ihn nicht. So war das Leben. Meine Mutter ist in Tränen ausgebrochen und ohnmächtig geworden. Sie ist wie die Tür umgefallen. Ihr Geschrei höre ich noch heute in meinem Kopf. Sie kam nie darüber hinweg. Wir mussten dann zu unseren Nachbarn ziehen.
In meiner Stadt gab es keine Schicksalsgemeinschaft. Man lebte nebeneinander, traf sich beim Kiosk zum Tee, redete über das Wetter, die Bomben, das Militär, Geld und wenn wir lieb daneben standen, still wie Mäuse, uns ihr Gerede wie Geplätscher anhörten, wurden wir ab und zu mit einem Stück Schokolade dafür belohnt. Schokolade war wertvoll und teuer, die gab es nicht oft. Dabei wurde uns über den Kopf gestrichen, bis die Haare verwuschelt waren. Das habe ich gehasst. Das habe ich immer ausgehalten. Es ist ein Krampf, ohne Bestimmung geboren zu sein und wenn ich von Bestimmung rede, dann rede ich nicht von Schicksal, sondern darüber, dass man vergessen wird und nichts daran ändern kann.
Wir mussten uns ein neues Haus bauen. Das hatte ich lieber als das alte. Ich wohnte in einem Haus mit vier Zimmern, es hatte exakt siebzehn Fenster, die nicht gleich groß waren, auf zwei Stockwerke verteilt. Ganz oben hatten wir eine kleine Terrasse. Dort saß ich oft mit Mutter und Vater und mit meinem anderen Bruder. Stand man dort, war der Blick über die Stadt ein weitläufiger. Meistens zählte ich die Häuser, beobachtete die Menschen, die von dort oben wie Straßenhunde in Straßen verschwanden, wieder auftauchten, und sich danach in Rudeln formatierten und trafen. Ich beobachtete die Soldaten, die den Hunden etwas zu fressen gaben. Ich mag keine Straßenhunde, denn sie sind unterwürfig. Und wenn man ihnen etwas Gutes tut, wie ihnen etwas zu Essen zu geben, dann lassen sie einen nicht mehr los. Und erwarten, dass diese eine gute Tat ununterbrochen wiederholt wird, weil sie denken, einmal ist keinmal, weil das erste Mal nicht zu ertragen ist.
Auch das war einmal. Früher. Nicht mehr jetzt. Als ich da war.
Aus dieser Stadt, die ich kenne wie eine Ecke in einer Welt, die man nicht los wird, weil man vielleicht festgeklebt ist, aber diese Stadt, die ich genauso kenne, mein Leben lang kannte und immer noch kenne, diese Stadt zwischen den zwei Hügeln, in der ich geboren bin, der besetzte Fleck, aus ihr verschwinde ich, aus Gründen, die mir bekannt sind, die ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht näher erörtern kann.
Jetzt ist nur noch der Boden da, auf dem ich liege und mich krümme. Das ist meine Strafe. Das nennt man Folter oder Gerechtigkeit. Es ist böse von den Leuten, wenn sie wollen, dass ich sterbe. Ich möchte nicht sterben, aber ich bin hier, weil ich mittlerweile alles akzeptiere. Ich habe alles aufgegeben. Ich finde weder an der Welt etwas, noch die Welt an mir. Ich kann mich nicht mehr beschweren, dass es niemanden gibt, existenziell.
Es gibt sie ja, aber für mich gibt es niemanden mehr.
Ich versuche es noch einmal: Es beginnt an einem Morgen, der wie alle Tage beginnt: Um 6:00 Uhr früh klingelt mein Wecker mit einem Piepen, das mich jedes Mal aus dem Schlaf reißt, so dass ich schlechte Laune beim Aufwachen habe. Ich bin jetzt ein erwachsener Mensch. Zweimal drücke ich den Snooze-Knopf meines Weckers (kupfer), der auf dem Nachttisch neben meinem Bett steht und alle fünf Minuten sein Snooze-Geräusch von sich gibt. Dann quäle ich mich aus dem Bett, weil ich keinen Bock habe aufzustehen, reibe ich mir die Augen wach, drehe mich auf den Rücken, weil ich die meiste Zeit auf dem Bauch schlafe und auch morgens beim Aufwachen eben in dieser Position zu mir komme.
Neben meinem Bett steht ein Stuhl, auf dem meine Klamotten für den Tag liegen, die ich mir am Abend zurechtlege. Meistens trage ich ein dunkles Hemd, es variiert zwischen den Farben (dunkel)blau bis (dunkel)grau, sehr selten weiß, obwohl die meisten Hemden, die ich besitze und die in meinem Kleiderschrank auf Kleiderbügeln hängen, weiß sind. Die Knöpfe werden bis zum Kragen zugeknöpft und in eine ebenfalls dunkle Hose (grau) gesteckt. Dann gehe ich in das Badezimmer und wasche mir das Gesicht, doch putze mir nicht die Zähne. Ich bin faul und will nur das Nötigste.
Barfuß laufe ich in die Küche, Socken ziehe ich mir als letztes an, kurz bevor ich mir die Schuhe anziehe. Meistens trinke ich einen schwarzen Tee und esse eine Schüssel Cornflakes. Wenn keine Cornflakes da sind, esse ich etwas anderes. Morgens esse ich aber kein Brot. Eigentlich trinke ich morgens eine Tasse Kaffee mit Milch, aber oft vergesse ich Kaffee zu kaufen. Wenn ich feststelle, dass ich keinen Kaffee mehr habe, kümmert mich das nicht weiter und ich kümmere mich nicht darum. Das führt dazu, dass ich mehrere Monate über keinen Kaffee im Haus habe, bis ich zufällig im Supermarkt stehe und mir einfällt, dass ich keinen Kaffee mehr habe. Das geschieht vielleicht dreimal im Jahr.
Meine Wohnung ist sporadisch eingerichtet. Ich wohne in einer Wohnung mit hundertzwanzig Quadratmetern, sie besteht aus drei Zimmern (vierzig Quadratmeter, fünfunddreißig Quadratmeter, zwölf Quadratmeter), einer Küche (zwanzig Quadratmeter) und einem Bad (dreizehn Quadratmeter). Das einzige Zimmer, das ich wirklich nutze, ist das Schlafzimmer und ich verbringe die längste Zeit des Tages in diesem Zimmer, weil ich da schlafe. Im Schlafzimmer stehen ein Bett und ein Kleiderschrank. An der Wand gegenüber meines Bettes hängt ein Fernseher, den ich mir vor drei Jahren gekauft und nicht ein Mal eingeschaltet habe. Der Fernseher ist quasi Dekoration. Warum ich mir damals einen Fernseher für mein Schlafzimmer gekauft habe, obwohl schon einer im Wohnzimmer steht, weiß ich nicht mehr, ich glaube der Fernseher war im Angebot. Ich erinnere mich, dass es kein Schnäppchen war, aber mir war langweilig und eigentlich wollte ich eine Kaffeemaschine kaufen. Aber als ich dann im Laden war, vergaß ich die Kaffeemaschine und kam mit einem Fernseher zurück.
Links vom Schlafzimmer geht das Wohnzimmer ab. Es ist ein großes Zimmer mit zwei riesigen Fenstern, die an der Decke beginnen, aber kurz vor der Heizung aufhören. Den Boden schmückt ein alter Teppich (den ich von Kurden gekauft habe und nicht von Persern) in den Maßen zwei mal zwei Meter. Auf dem Teppich steht ein ovaler Glastisch vor einem grauen Sofa, auf dem ich nie sitze. Was ist das wieder? Ich weiß, was das ist. Das ist pure, reine Dekoration. Wen kümmert’s.
Durch das Wohnzimmer gelangt man durch eine doppelte Flügeltür in das nächst anliegende Zimmer. Das Zimmer ist im Sommer meistens sehr schön, sehr hell, weil es mehr Fenster hat als das Wohnzimmer. Der Raum ist leer. In der Mitte des Raumes steht ein Sessel, auf dem ich manchmal sitze, nachdem ich die Flügeltür hinter mir zugezogen und verschlossen habe. Dann sitze ich da, auf dem Sessel, die Arme links und rechts auf den Lehnen, die Beine überkreuzt und starre aus dem Erker des Raumes hinaus auf die Straße, sitze aber in einer Haltung auf dem Sessel, in der mich niemand, der von draußen versucht durch das Fenster reinzugucken, sehen könnte.
Ich wohne im dritten Stock. Eigentlich weiß ich, dass mich niemand von der Straße aus sehen kann, aber ich ekele mich vor den Nachbarn und ihren Blicken, die einen immer belästigen, wenn man nicht freundlich zu ihnen ist oder sich nicht über das Wetter unterhalten möchte.