KEVIN WOLTER

BEAST

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Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Friedrich Müller

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: @Dawal97

Fotos: S. 7, 124 @Dawal97; S. 8, 22, 38, 75, 82, 131, 145, 162 Andrey Gutthardt; S. 10, 27l, 42, 47, 56, 64, 70, 142, 143 Kevin Wolter; S. 72, 153, 175 Tim Ludwig; S. 118, 148, 151 Armin Alldag von Holdt

Satz: Ortrud Müller – Die Buchmacher, Köln

Druck: Florjančič Tisk d. o. o., Slowenien

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1206-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0870-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0871-6

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KEVIN WOLTER

BEAST

Wie Bodybuilding mein Leben rettete

Mit meinen besten Tipps für Training, Motivation und Erfolg

Inhalt

Vorwort

KAPITEL 1
Das fette Kind

Gut behütet

Neid

KAPITEL 2
Den Dingen auf den Grund gehen

Der erste Kontakt

Fehl am Platz

ADHS

KAPITEL 3
Ein Mann werden

Beim Bund

Krieg

Der Tod kennt keine Gnade

Brüder

KAPITEL 4
Wieder in der richtigen Welt

Adrenalinjunkie

Ein widerlicher Mensch

Die Diagnose

Zurück in Berlin

Plötzlich normal

Erste Schritte in ein halbwegs normales Leben

Anabolic Unicorn

KAPITEL 5
Plötzlich prominent

YouTube

Kevin Wolter

Musculus pectoralis major

Beschädigt

Wettkämpfe

Rückschläge

Geld

Neues Denken

Der neue Kevin Wolter

Richtiges Training für jeden

Nachwort

Vorwort

Herzlich willkommen, liebe Freunde.

Jetzt also auch noch ein Buch. Aber warum? Ich habe schon längere Zeit mit dem Gedanken gespielt, alles, was ich erlebt und zu erzählen habe, in schriftlicher Form festzuhalten. Nicht, dass ihr mich falsch versteht: Ich liebe meinen YouTube-Kanal und bin dankbar für jeden Einzelnen von euch, der mich auf meinem Weg begleitet und Teil dieser wundervollen Community ist. Aber in Clips, Videos oder Interviews geht immer auch etwas verloren. Man verheddert sich gedanklich oder vergisst etwas. Oder – das passiert leider auch – man muss das Video kürzen, weil sich niemand einen Clip ansieht, der drei oder vier Stunden dauert. Würde ich auch nicht machen.

Deswegen ein Buch. Hier kann ich meine Gedanken besser strukturieren. Und ich kann inhaltlich mehr in die Tiefe gehen, für alle da draußen, die sich dafür interessieren. Da du diese Zeilen gerade liest, zähle ich dich einfach mal dazu. Gerade mich zu fokussieren und Gedanken und Ideen zu kanalisieren, hat immer zu meinen Schwächen gehört. Genau deswegen ist es an der Zeit, einmal ganz in Ruhe von mir zu erzählen. Aber keine Angst, ich habe dieses Ding hier nicht geschrieben, um mich damit selbst zu therapieren. Klar, ihr werdet eine Menge von mir erfahren. Aber hauptsächlich will ich euch mit diesem Buch motivieren und euch zeigen, dass es völlig egal ist, woher ihr kommt oder welche Voraussetzungen ihr mitbringt. Ab einem gewissen Punkt im Leben habt ihr eure Geschichte selbst in der Hand. Also ist es auch allein euer Job, etwas daraus zu machen. Wenn ihr meine Geschichte kennt, könnt ihr euch vielleicht ein paar Probleme ersparen oder, was noch viel besser wäre, dieses Buch dazu nutzen, um euch selbst zu dem zu machen, was ihr schon immer sein wolltet. Ich würde es euch auf jeden Fall gönnen. Und damit ihr auch wirklich etwas mitnehmt, gebe ich hier immer mal wieder ein paar kleine Tipps dafür, wie ihr zum Beast werdet. Beherzigt ihr diese Tipps, dann werdet ihr sicher vorankommen mit allem, was ihr euch im Leben vorgenommen habt.

Wichtig ist mir noch zu sagen, dass ich hier natürlich immer nur aus eigener Erfahrung spreche. Ich verlange von niemandem, dass er alles genau so macht, wie ich es getan habe. Ich bin weder der Messias noch irgendein durchgeknallter Lifestyle-Coach, der behauptet, er hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ich bin ich. Und ihr seid ihr.

Also, legen wir los.

Morgendliche Meditation in den Hollywood Hills

KAPITEL 1

DAS FETTE KIND

Gut behütet

Vielleicht ist es für den Anfang am besten, wenn ich direkt ein Geständnis mache: Ich habe immer mal wieder das Gefühl, es wäre ein kleines Wunder, dass ich überhaupt noch hier stehe. Und dass ich sogar in der Lage bin, euch als einem Teil meiner Community von mir und meinem bisherigen Leben zu erzählen. Selbstverständlich ist die ganze Sache nämlich ganz und gar nicht und in meinem ganz speziellen Fall wirklich doppelt und dreifach nicht. Denn wäre in meinem Leben alles so gelaufen, wie es im Leben nun einmal läuft und es am wahrscheinlichsten ist, dann wäre ich schon lange tot oder säße im Knast. Doch ich lebe noch und im Gefängnis war ich bisher auch noch nicht. Na ja, zumindest nicht so richtig, aber dazu komme ich später. Jedenfalls bin ich noch da und kann euch ein wenig aus meinem bisherigen Leben erzählen. Dass das so ist, verdanke ich einer Menge harter Arbeit, Disziplin, Fleiß, vor allem aber Glück und der Hilfe, die ich auf meinem Weg von anderen bekommen habe.

Wenn ich heute an meine Kindheit denke, dann verbindet mich emotional kaum etwas mehr mit dieser Zeit. Ich habe weder besonders glückliche Erinnerungen noch fallen mir Dinge ein, die ich als besonders belastend bezeichnen würde.

Ich wurde 1987 in einen völlig normalen Berliner Haushalt hineingeboren. Mein Vater arbeitete im Außendienst und schaffte das Geld heran. Währenddessen sorgte meine Mutter als Hausfrau für mich und meine Halbschwester, die sie aus ihrer ersten Ehe mitgebracht hatte. Wir lebten in einer schönen Vierzimmerwohnung mitten in der Stadt und uns fehlte es zumindest finanziell gesehen an nichts.

Mit einem Jahr im Garten meiner Großeltern

Mein Vater war ein richtiges Arbeitstier. Er liebte seinen Job und machte ihn, so gut er konnte. Nicht selten verließ er frühmorgens das Haus und war erst am späten Abend wieder zurück. Feste Arbeitszeiten bedeuteten ihm überhaupt nichts. Feierabend war erst, wenn die Arbeit getan war, nicht vorher. Über irgendetwas zu jammern, kam bei ihm überhaupt nicht infrage. Der Mann war und ist bis heute sehr straight und diszipliniert.

Das Verhältnis zwischen meiner Schwester und mir war gut, jedoch hatten wir im alltäglichen Leben nicht ganz so viel miteinander zu tun, was zu einem großen Teil sicher daran gelegen hatte, dass sie knapp zehn Jahre älter war als ich und in einer völlig anderen Welt lebte. Zu Hause erlebte ich sie kaum, da sie die meiste Zeit des Tages – und später auch der Nächte – irgendwo anders verbrachte. Sie gab sich allergrößte Mühe, möglichst nicht zu Hause zu sein, stromerte irgendwo draußen herum und lief regelmäßig auch für längere Zeit ganz weg. Wieso sie das tat, wusste ich damals nicht. Meine Schwester war das Sorgenkind meiner Eltern, weswegen ich relativ entspannt unter dem Radar aufwuchs. Jetzt, wo wir beide erwachsene Menschen sind, haben meine Schwester und ich ein sehr gutes Verhältnis zueinander.

Im Grunde hätte bei uns zu Hause eine friedliche und normale Stimmung herrschen können, wenn da nicht meine Mutter gewesen wäre. Ihr ging jeder in der Familie möglichst aus dem Weg ging. Meine Mutter kämpfte jahrelang gegen eine Alkoholsucht und litt zudem an Psychosen. Das war eine Kombination, die ein geregeltes und vor allem friedliches Familienleben einfach unmöglich machte.

Die meiste Zeit des Tages bekam ich von ihr nicht wirklich viel mit. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass wir viele Gespräche geführt oder eine wirklich tiefe emotionale Verbindung zueinander aufgebaut hätten. Meine Mutter war einfach da, im Sinne von anwesend. Sie machte uns Essen und kaufte uns Sachen zum Anziehen, nicht mehr, nicht weniger. Ich fand das alles normal und in Ordnung, zumindest tagsüber. Nachts gab es leider immer wieder Zwischenfälle.

Einmal lag ich im Bett und schlief, als ich von meiner Mutter wach gerüttelt wurde. Sie packte mich an den Schultern, schüttelte mich und schrie: »Du bist an allem schuld! Allem!« Dabei schlug sie mich und wiederholte es immer wieder: »Du bist an allem schuld!« Mir blieb nichts weiter übrig, als den Kopf zwischen die Hände zu nehmen und abzuwarten. Denn im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, dass diese Anfälle, um es mal so zu nennen, auch wieder aufhörten. Irgendwann kam immer der Moment, in dem meine Mutter von mir abließ. Dann sackte sie auf der Bettkante zusammen und begann zu weinen.

»Es tut mir leid, es tut mir leid«, sagte sie immer wieder unter Tränen, bis sie schließlich irgendwann mein Zimmer verließ und ich versuchte, wieder einzuschlafen, was nach einigen Minuten der Verwirrung auch klappte.

Ich weiß, was ihr jetzt denkt.

»Hat der Typ nicht gerade was von normalem Berliner Haushalt erzählt? Das ist überhaupt nicht normal, das ist Horror!«

Und ihr habt ja auch recht damit. Aber: Ich war ein Kind und kannte es nicht anders. Deshalb war die ganze Situation für mich absolut normal. Genauso normal wie der Streit und der familiäre Stress, die je nach Zustand meiner Mutter mal mehr, mal weniger heftig ausfielen. Meistens war es meine Schwester, die sich in den Augen meiner Mutter falsch verhalten hatte und nun ihren ganzen Zorn zu spüren bekam. Auch ich handelte mir in diesen Situationen ordentlich Ärger ein. Entweder entschied ich mich für eine Seite und wurde dafür von der anderen gehasst. Oder ich versuchte, mich aus allem herauszuhalten, bekam dann aber den Ärger beider Frauen zu spüren. Das war wirklich sehr unangenehm. Es kam aber so häufig vor, dass ich mich daran gewöhnte und es schon bald nicht mehr als allzu belastend empfand. Dazu kam, dass meine Schwester immer öfter und immer länger von zu Hause wegblieb, sodass sich solche Situationen nur noch selten ergaben.

Ob mein Vater von der Situation zu Hause wusste, kann ich bis heute nicht sagen. Er war beruflich den ganzen Tag unterwegs und konnte praktisch nicht am Familienleben teilnehmen. Ob meine Eltern irgendwann darüber sprachen, weiß ich nicht. Überhaupt kann ich mich nicht daran erinnern, dass Probleme, ganz gleich welcher Art, in unserer Familie offen angesprochen und diskutiert wurden. Man nahm alles mehr oder weniger hin und meldete sich nur, wenn irgendetwas völlig aus dem Ruder lief – was dann sofort in einem handfesten Krach mündete. Mein Vater und ich haben bis heute nicht über diese Zeit gesprochen, auch wenn wir ein absolut wunderbares Verhältnis zueinander haben.

Als meine Schwester volljährig wurde, war das der Startschuss für sie, ihre Sachen zu packen und von zu Hause auszuziehen. Für sie waren die Probleme damit auf einen Schlag gelöst. Meine Situation vereinfachte das nicht, denn ich blieb natürlich, und nun gab es für meine Mutter nur noch eine Zielscheibe, wenn sie wieder einmal wütend oder unzufrieden war: mich.

Wahrscheinlich litt sie unter der ganzen Situation mehr als ich. Das tröstete mich aber damals überhaupt nicht. Denn als kleiner Steppke wusste ich natürlich nicht, wie schlimm es um meine Mutter stand. Später habe ich erfahren, dass sie wohl insgesamt sechsmal versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Eine arme Frau, an die ich heute ohne Wut denken kann, auch wenn das seine Zeit gedauert hat.

Als Kind, und das war ich zu dieser Zeit ja, war das alles für mich normal. Es wurde mir schließlich als normal verkauft: Wir hatten ein Dach über dem Kopf, Klamotten und jeden Tag Essen auf dem Teller, also war alles gut und somit normal. Ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen und der mir sagen konnte, dass mein Familienleben absolut nicht durchschnittlich, sondern das totale Gegenteil der Fall war. Deshalb empfand ich meine Kindheit als hie und da ätzend, im Großen und Ganzen aber völlig okay.

Das änderte sich erst, als meine Eltern beschlossen, sich scheiden zu lassen. Ich besuchte die vierte Klasse der Grundschule, als sie mir ihre Entscheidung mitteilten. Für viele Kinder bricht mit so einer Nachricht die Welt zusammen. Ich dagegen stand der ganzen Sache eher neutral gegenüber und nahm die Scheidung meiner Eltern sehr gelassen zur Kenntnis. Das Verhältnis zu meiner Mutter war schon länger sehr kühl, wohingegen ich meinen Vater vergötterte. Die Frage, bei wem ich von nun an leben würde, stellte sich für mich nicht eine Sekunde. Für meine Eltern ebenso wenig. Sie beschlossen, dass meine Mutter aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen sollte und sich mein Vater von nun an allein um mich kümmern würde. Verabredet wurde, dass meine Mutter keinen Unterhalt für mich zahlen musste, wenn sie im Gegenzug ebenfalls auf Unterhalt meines Vaters verzichtete.

Ich saß in meinem Zimmer, während meine Mutter ihre Sachen zusammenpackte und sich schließlich abholen ließ. Ich verabschiedete mich höflich von ihr, wie von einem Gast, der einige Wochen zu Besuch gewesen war. Als sich die Wohnungstür ein letztes Mal hinter ihr geschlossen hatte, atmete ich durch. Ich spürte tatsächlich so etwas wie Erleichterung. Mir ging es gut, richtig gut. Niemand verbreitete mehr schlechte Stimmung, gab mir völlig sinnlose Anweisungen, wollte in Ruhe gelassen werden oder prügelte mich nachts aus dem Schlaf. Es fühlte sich für mich so an, als würde mit diesem Tag der glückliche Teil meiner Kindheit beginnen. Das war auch beinahe der Fall. Ich ging tagsüber zur Schule und konnte ansonsten tun und lassen, was ich wollte. Mein Vater arbeitete weiterhin sehr viel, aber wenn er zu Hause war, hatten wir eine richtig gute Zeit miteinander. Ich war wirklich ein glückliches Kind. Aber dieser Zustand hielt nicht sehr lange an.

Woher der Sinneswandel meiner Mutter kam, wussten weder mein Vater noch ich. Aber eines Tages schien sie das Gefühl beschlichen zu haben, bei der Scheidung finanziell benachteiligt worden zu sein. Also nahm sie sich einen Anwalt und wollte Geld, viel Geld. Und das bekam sie auch. Der Anwalt meiner Mutter machte anscheinend einen sehr guten Job: Meinem Vater blieb von heute auf morgen nichts mehr. Alles, was er an Geld besaß, und das war wirklich kein Vermögen, musste er meiner Mutter überweisen. Als das nicht reichte, wurde so ziemlich alles gepfändet, was er hatte, sogar sein Girokonto. Als auch das nicht reichte, wurde sein Gehalt gepfändet. Nicht nur einmal, sondern ab diesem Moment Monat für Monat. Seinen Arbeitgeber erfreute das natürlich nicht besonders. Irgendwann reichte es ihm und mein Vater wurde entlassen.

Das war der Punkt, an dem für meinen Vater die Welt zusammenbrach. Er war plötzlich arbeitslos. Jahrelang hatte er alles für seinen Job getan und geopfert, sich nie über zu lange Arbeitszeiten beschwert oder mehr Geld gefordert. Und jetzt warf man ihn raus, weil er sein Privatleben nicht im Griff hatte. Dieser Mann, der sein gesamtes Leben immer nur gearbeitet hatte, war nun auf Sozialhilfe angewiesen. Er war jetzt – man kann es nicht anders sagen – bettelarm. Und ich natürlich mit ihm.

Glücklicherweise wurden wir nicht aus der Wohnung geworfen, sodass wir zumindest noch ein Dach über dem Kopf hatten. Aber ansonsten fehlte es uns plötzlich an allem. All der Kram, der für mich zu dieser Zeit absoluter Standard gewesen war, fiel plötzlich weg: Es gab keine Markenklamotten mehr, sondern nur noch Billigsachen, wir kauften nicht mehr in normalen Supermärkten ein, sondern in Discountern, und selbst da in sehr überschaubaren Mengen. Wir sparten wirklich, wo es ging. Mein Vater versuchte alles ihm Mögliche, um schnell wieder auf die Beine zu kommen. Aber sobald ein potenzieller Arbeitgeber hörte, dass er alleinerziehend und dazu hoch verschuldet war, gingen bei ihnen alle Türen sofort wieder zu.

Ich habe meinen Vater schon damals dafür bewundert, wie er es in dieser Situation schaffte, nicht durchzudrehen und alles hinzuschmeißen. Natürlich gab es Phasen, in denen er still und weniger fröhlich auf mich wirkte als sonst. Aber ich habe ihn nie fluchen gehört. Nie hat er sich gehen lassen, sich beschwert oder rumgeschrien. Und nie hat er irgendjemand anderem die Schuld für seine Situation gegeben, obwohl das in seinem Fall durchaus angebracht gewesen wäre. Für ihn gab es so etwas nicht. Durchhalten, weitermachen, morgen ist ein neuer Tag. So dachte und handelte er. Seine Kraft und sein Durchhaltevermögen inspirieren mich heute immer wieder. Ich hätte ihn mir schon viel früher zum Vorbild nehmen sollen.

Gegenüber meiner Mutter entwickelte ich zu jener Zeit erstmals wirkliche Hassgefühle. Die Scheidung war mir völlig egal gewesen. Ich hatte sie auch nicht vermisst. Aber jetzt, wo sie meinem Vater finanziell die Daumenschrauben anlegte, fiel mir auf, wie unfassbar wütend ich auf sie war. Sie war nicht mehr anwesend und schaffte es dennoch, unsere Familie zu terrorisieren, zu quälen und auseinanderzureißen. Es hat Jahre gedauert, bis sich die Wut auf sie wieder gelegt hat.

Neid

Wir waren nie reich gewesen. Auch vor der Scheidung meiner Eltern hatten wir nicht in Saus und Braus gelebt. Aber wir hatten eine Wohnung, Kleidung, Essen und etwas Geld auf dem Konto. Man würde das wahrscheinlich als normalen Mittelstand bezeichnen. Meine Schwester und ich hatten nie Probleme damit, wenn es darum ging, uns unsere Wünsche zu erfüllen. Wir hatten Handys, Markenklamotten, Geld fürs Kino oder um Eis zu essen. Und wenn mal etwas Außergewöhnliches anstand, wie etwa eine Klassenfahrt, dann stellte sich nie die Frage, ob wir uns das leisten konnten. Üppig kam es für uns natürlich an den Geburtstagen oder an Weihnachten. So weit, so normal.

Nachdem meine Mutter aber beschlossen hatte, ihrem Ex-Mann sogar das letzte Hemd zu nehmen, änderte sich die Situation dramatisch. Als mein Handy kaputtging, hatte ich ab sofort eben keins mehr. Auf meinen Schuhen stand nun nicht mehr »Adidas«, sondern »Victory«. Und sie hatten auch keine drei Streifen mehr, sondern zwei oder fünf. Oder gar keinen. Verschlissene Klamotten konnten wir nicht mehr ersetzen, und wenn doch, dann durch Billigkram, der auch genauso billig aussah. Meine Hosen und Pullover: alles absoluter Krempel aus den Klamottendiscountern, in denen sich arme Leute eben einkleideten. Arme Leute wie wir.

Ich würde jetzt gerne sagen, dass ich total verständnisvoll auf diese neue Situation reagiert hätte. Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Ich war total angepisst. Von heute auf morgen waren wir bettelarm und jeder konnte mir das ansehen. Ich fühlte mich wie der letzte Penner auf Erden. Es interessierte mich auch nicht, dass mein Vater sich für uns sicher eine andere Situation gewünscht hätte, es sich aber einfach nicht leisten konnte. Es gab Wichtigeres zu bezahlen als den Quatsch für einen kleinen Bengel. Aber das sah ich natürlich nicht ein. Mich kotzte es an, arm zu sein. Ich wollte, was alle wollten. Und ich wollte es sofort. Vielleicht wäre die Situation eine andere gewesen, wenn ich von klein an in diesen Verhältnissen aufgewachsen wäre, aber genau das war nicht der Fall. Ich hatte bis zur endgültigen Trennung meiner Eltern keine Ahnung davon gehabt, was es bedeutet, arm zu sein. Ich wusste nur, dass ich es jetzt ganz plötzlich sein sollte. Diese Entscheidung hatte meine Mutter für mich getroffen.

Meine Klassenkameraden in der Schule und die Kinder, die ich in unserer Nachbarschaft sah, führten im Gegensatz zu mir ein paradiesisches Leben. Ihre Eltern hatten genug Geld, um ihnen alle Wünsche zu erfüllen. Sie hatten die neuesten Handys, teure Jacken und Schuhe, MP3-Player und überhaupt alles, was ich nicht hatte. Ich kam mir vor wie ein Leprakranker unter all diesen glücklichen und zufriedenen Kindern. Also verließ ich das Haus nur noch, wenn es absolut notwendig war. Ich hatte einfach keinen Bock mehr, mir jeden Tag reinzuziehen, wie gut es den anderen Kids ging – und wie beschissen im Vergleich dazu mir.

Wenn ich überhaupt in die Schule ging, dann kam ich danach direkt wieder nach Hause und verkroch mich in meinem Zimmer. Ich hockte stundenlang vor der Playstation und stopfte Chips, Cola und anderen Müll in mich hinein. Das Gute an diesem ungesunden Kram war, dass er fast nichts kostete. Ich fraß also eine ganze Menge davon, während ich mich praktisch überhaupt nicht mehr bewegte. Mein Leben bestand nur noch aus Fressen und Zocken. Das hatte bald Folgen: Mit nur 13 Jahren brachte ich beinahe 100 Kilogramm auf die Waage. Ich sah nun tatsächlich so aus, wie ich mich innerlich schon seit langer Zeit fühlte: träge, frustriert, gelangweilt und vom Leben benachteiligt.

Jetzt kotzte mich nicht nur die Welt an, nein, jetzt war ich auch noch von mir selbst angewidert. Und genau das wollte ich dann doch nicht mehr hinnehmen und beschloss, etwas dagegen zu tun. An Sport war natürlich nicht zu denken, aber immerhin fand ich, dass es keine Option sei, immer nur in meinem Zimmer zu hocken. Also verließ ich die Bude und ging wieder zurück auf die Straße. Geld hatte ich zwar noch immer nicht, aber ich fand Anschluss an Leute, denen es nicht besser ging als mir. Auch sie gammelten den ganzen Tag gelangweilt und frustriert irgendwo herum. Um sich die Zeit zu vertreiben, rauchten sie Gras. Ich hatte bereits vorher hin und wieder mal Gras geraucht, und da ich diesbezüglich also überhaupt keine Berührungsängste hatte und mir genauso langweilig war wie den anderen Jungs, fing auch ich an zu kiffen.

Anfangs waren wir nur drei oder vier Herumtreiber, aber wo die sind, sind andere meist nicht weit. Und so war ich dann sehr schnell zum ersten Mal in meinem Leben Teil einer Gruppe. Einer Gruppe dauerbekiffter Straßenkids, aber immerhin. Hie und da feierten wir kleinere Partys. Aber die meiste Zeit des Tages waren wir damit beschäftigt, irgendwo zu hocken und einen durchzuziehen. Das Geld für Gras hatte immer irgendwer. Ich hatte also mein stumpfsinniges Leben allein in meinem Zimmer gegen ein stumpfsinniges Leben in einer Gruppe auf der Straße getauscht.

In den ersten Wochen fühlte sich mein neues Leben tatsächlich besser an als das Leben vorher. Mit der Zeit aber kam ich zu der Erkenntnis, dass sich die Dinge an einer entscheidenden Stelle nicht verbessert hatten, denn arm war ich nach wie vor. Aber immerhin war ich nun nicht mehr der kleine Bengel, der frustriert und traurig vor seiner Playstation hockte. Nein, ich war jetzt jemand, der eine Gruppe hinter sich hatte und daraus sein Selbstbewusstsein bezog. Und mir wurde klar, dass die anderen Kids zwar Dinge besaßen, die ich nicht hatte. Aber genauso wusste ich, dass das so nicht bleiben musste.

Meine Frustration, die mich jahrelang zu Hause gefesselt hatte, wandelte sich immer mehr in Wut. Ich war zwar noch immer pummelig, aber ich konnte ziemlich gut mit meinen Fäusten umgehen. Das hatte mir die Argumentation innerhalb der Gruppe schon mehrmals sehr erleichtert. Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, dass ich ihr Anführer gewesen wäre, aber nichts passierte gegen meinen Willen. Und wer sich mir gegenüber im Ton vergriff, der bekam schnell eine aufs Maul.

Vielleicht war ich nicht der Boss, aber zumindest wurde ich am meisten gefürchtet. Denn zu meiner ohnehin schon launischen und jähzornigen Art kam immer mehr körperliche Kraft hinzu. Dieser körperlichen Überlegenheit wurde ich mir mit jedem Tag bewusster. Und irgendwann sah ich nicht mehr ein, dass jemand, der mir körperlich absolut nichts entgegenzusetzen hatte, bessere Klamotten als ich haben sollte. Das war doch unfair, oder? Ich begann also damit, den Leuten all das wegzunehmen, was sie hatten und ich wollte.

Wenn ich also jemanden sah, der eine Jacke trug, die mir gefiel und meine Größe hatte, ging ich einfach auf ihn zu.

»Gib mir deine Jacke!«

»Nein.«

Ein Klassiker unter den falschen Antworten in so einer Situation. Der Junge fing sich augenblicklich zwei, drei wirklich harte Schläge von mir ein und brach für gewöhnlich sofort in Tränen aus. Das Missverständnis war nun aus der Welt geräumt und dem Typen war klar, dass ich es ernst meinte.

»Deine Jacke! Jetzt!«

Heulend und jammernd pellte sich der Junge aus meiner neuen Kleidung und reichte sie mir. Damit war das Thema erledigt.

Wenn man meine Geschichte liest, dann klingt es vielleicht, als hätte ich den Beschluss, andere Kinder auszuplündern, ziemlich schnell und ohne große Überlegungen gefasst. Das liegt daran, dass es genau so war. Ich habe nicht lange darüber nachgedacht, das Für und Wider abgewogen oder moralische Bedenken gehabt. Zu dieser Zeit war ich wahnsinnig frustriert und fühlte mich permanent benachteiligt. Als mir nach und nach klar wurde, dass ich viel stärker war als die meisten anderen Kinder, fing ich einfach damit an, meine Kraft auszunutzen. Bedenken hatte ich überhaupt keine. Hatte der andere Junge jetzt Angst vor dem Nachhauseweg? Hatte er starke Schmerzen, wenn ich ihn schlug? Das waren Fragen, die ich mir nie gestellt habe. Und selbst wenn ich es getan hätte, wären mir die Antworten völlig egal gewesen.

Damit man mich nicht falsch versteht: Ich war überhaupt kein Schläger oder permanent auf Stress aus. Im Gegenteil, ich ging Ärger so gut es ging aus dem Weg und war nie darauf aus, mich zu prügeln. Aber wenn mir jemand blöd kam oder etwas hatte, das ich wollte, dann wusste ich, was ich unternehmen konnte. Ich hatte lange genug zugeguckt, wie andere Leute ihren »Reichtum« genossen. Jetzt war ich an der Reihe.

In unserer Gegend erarbeitete ich mir relativ schnell den Ruf eines guten und gemeinen Boxers. Das gefiel mir tatsächlich sehr gut. Ich war nun nicht mehr der kleine Fettsack, den man mit einer Tüte Chips ruhigstellen konnte. Ich war jetzt brandgefährlich und jemand, um den man besser einen großen Bogen machte, wenn man nicht grün und blau geprügelt und ohne Klamotten zu Hause auftauchen wollte. Ich gefiel mir sehr in der Rolle des Straßenkindes, das sich nahm, was es wollte. Und je öfter ich Leute abzog, desto skrupelloser ging ich vor.

Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich einen Jungen mit einem coolen MP3-Player sah. Normalerweise hätte das Ding in diesem Moment schon mir gehört. Aber der Typ sah aus, als wäre er in der Lage, mir körperlich etwas entgegenzusetzen. Und auf eine minutenlange Schlägerei wollte ich es nicht ankommen lasen. Ich ging also in unsere Wohnung, nahm mir aus der Küchenschublade ein Messer und steckte es mir in die Jackentasche. Draußen auf der Straße hielt ich Ausschau nach dem Jungen. Als ich ihn entdeckt hatte, ging ich geradewegs auf ihn zu. Ohne Vorwarnung packte ich ihn am Kragen und hielt ihm das Messer an den Bauch. Der Typ war sofort mit den Nerven runter und gab mir unter Tränen seinen MP3-Player. Dabei bat er mich immer wieder, ihn nicht umzubringen. Das Versprechen machte ich gern, denn ich hatte natürlich nie vor, ihn oder sonst irgendjemanden umzubringen. Aber so ein Messer machte eben deutlich mehr Eindruck als meine bloße Faust, sodass ich sehr schnell alles bekam, was ich wollte.

KAPITEL 2

DEN DINGEN AUF DEN GRUND GEHEN

Der erste Kontakt

Mein neues Leben gefiel mir gut. Ich hing den ganzen Tag mit meinen Jungs rum und kiffte. Wenn ich jemanden sah, der etwas hatte, das mir gefiel, dann nahm ich es ihm einfach weg. Ich ging davon aus, dass mein Leben ab jetzt so oder so ähnlich weiterginge. Das machte mich nicht glücklich, hätte mich aber auch nicht gestört.

Aber wie ihr euch denken könnt, kann man so ein Leben nicht ewig durchziehen, ohne das Interesse der Ordnungshüter auf sich zu ziehen. Natürlich hatten mir die meisten Jungs auf ihr Leben geschworen, niemandem zu erzählen, wer ihnen ihre neue Jacke, ihr Handy oder ihre Schuhe abgezogen hatte. Aber klar berichteten sie, kaum dass sie zu Hause waren, ihren Eltern, dass sie soeben Opfer eines Raubüberfalls geworden waren. Die Eltern ließen sich das selbstverständlich nicht bieten und riefen die Polizei. Die stand dann regelmäßig bei uns vor der Tür. Manchmal kam es vor, dass die Bullen mich nur wenige Minuten nach der Tat auf der Straße aufgriffen. Mein Vater wurde dann zum Polizeirevier zitiert, um mich dort abzuholen.