Der Archäologe Rémy Fortin erforscht vor der glitzernden Küste der Calanques die Unterwasserhöhlen und ihre urzeitlichen Felszeichnungen, als er schwer verunglückt. Seine letzten Fotos zeigen eine rätselhafte Hirschkopfstatue. Hauptkommissar de Palma begibt sich auf prähistorische Spurensuche und stößt auf Morde, die einem uralten Ritual folgen.
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Xavier-Marie Bonnot (*1962) feierte mit La première empreinte sein Debüt. Seither erschienen weitere Fälle mit dem Marseiller Polizeikommandanten Michel de Palma.
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Gerhard Meier (*1957) studierte Romanistik und Germanistik. Nebenbei erlernte er die türkische Sprache. Seit 1986 lebt er bei Lyon, wo er literarische Werke aus dem Französischen und aus dem Türkischen (Hasan Ali Toptas, Orhan Pamuk, Murat Uyurkulak) überträgt.
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Der erste Mensch
Kriminalroman
Aus dem Französischen von Gerhard Meier
Ein Fall für Michel de Palma
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2013 bei Actes Sud, Arles.
Originaltitel: Premier Homme
© by Xavier-Marie Bonnot, 2013
Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Agence litteraire Astier-Pécher.
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: EyeEm (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-30994-4
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Für Frédéric, der die Geheimnisse
unserer alten Erde entschlüsselt hat.
Für Michel, den Gelehrten …
Charaktere und Handlung dieser Geschichte sind meiner Fantasie entsprungen.
Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden Personen sind rein zufällig.
»Aber in welchem Mythus lebt der Mensch heute?«
»Im christlichen Mythus, könnte man sagen.«
»Lebst du in ihm?«, fragte es in mir.
»Wenn ich ehrlich sein soll, nein! Es ist nicht der Mythus, in dem ich lebe.«
»Dann haben wir keinen Mythus mehr?«
»Nein, offenbar haben wir keinen Mythus mehr.«
»Aber was ist denn dein Mythus? Der Mythus, in dem du lebst?«
C. G. JUNG, Erinnerungen, Träume, Gedanken
Der erste Abdruck prangte auf einem steinernen Faltenwurf, wenige Meter vor einer großen, sich ins schwarze Wasser neigenden Platte. Eine Kinderhand. Das Zeichen von Urmann.
Der Taucher erschauerte. Ihm schnürte sich die Kehle zu. Eine weitere Hand wogte vor seinen Augen, und noch eine, alle im Negativ. An einigen fehlten Finger, andere waren rot durchgestrichen.
Weiter vorn war der Fels von kurvigen, verflochtenen Linien durchzogen. Felsbilder tauchten auf, dann fantastische Formen. Ein halb menschliches, halb tierisches Wesen war in den Stein geritzt. Tiefe Kratzer durchzogen den langen ziselierten Körper, nicht aber den Vogelschädel und die hirschartigen Läufe.
Das so lang Gesuchte endlich vor sich zu sehen, erschütterte den Taucher, stürzte ihn in den Abgrund der Zeit, den Urgrund aller Mythen, als Homo sapiens sich auf seinen langen, unaufhaltsamen Weg machte. Er spannte seinen Fotoapparat und drückte ab. Ein Mal, zwei Mal … Dann schritt er weiter, bis die niedrige Decke ihn zum Bücken zwang. Da sah er auf dem glänzenden Boden etwas liegen. Er schoss ein erstes Foto, trat näher heran, drückte noch mehrmals ab.
Da plötzlich hörte er es.
Ein trauriges Singen. Kaum vernehmbare Worte, wie ein dahingemurmeltes, heiseres Gebet, das immer rascher wurde, von Wand zu Wand flog. Dann Stille. Nur das schwere Tropfen auf dem rostigen Boden.
Plitsch, platsch, plitsch, platsch …
Der Taucher hielt den Atem an. Angstschauer durchfuhren ihn. Er riss den Taucheranzug auf, als müsste er sein heftig pochendes Herz befreien.
Zu seiner Linken drang ein nasser Felsenirrgarten in tiefste Dunkelheit vor. Die feuchte Luft schmeckte säuerlich nach Kamille.
Der Taucher machte seine Lampe aus und kauerte sich auf den Boden.
Das Singen hob wieder an. Klang näher diesmal. Furchteinflößender.
Der Taucher bemühte sich um eine rationale Erklärung. Ihm zitterten die Hände. Er war ja nicht zum ersten Mal in einer Unterwasserhöhle. Durch eine Steinorgel konnte der Wind bis ins Innerste der Erde hinunterpfeifen.
Doch wehte an dem Tag nicht die leiseste Brise.
Als er die Lampe wieder anknipste, brach die Melodie augenblicklich ab. Wieder nur der kalte, unerschütterliche Rhythmus der vom Gewölbe herabfallenden Tropfen. Plitsch, platsch, plitsch, platsch … Wie eine ewig tickende Uhr.
Nun wurde es dem Taucher zu unheimlich. Er hastete zu seiner Ausrüstung am großen Brunnen, lud sich die Pressluftflaschen auf, wobei er sich in seiner Panik beim Anlegen von Schwimmflossen und Maske ungeschickter anstellte als sonst.
Und bemerkte nicht, gleich hinter ihm, die platschenden Schritte und den riesigen Schatten.
Das Irrenhaus
Die Menschen der Vorzeit haben uns nur verstümmelte Nachrichten hinterlassen. Am Ende eines langen Rituals, bei dem sie eine gebratene Bisonleber auf einer mit Ocker bemalten Rindenschale darboten, mögen sie irgendeinen Stein auf dem Boden niedergelegt haben. Die Gesten, die Worte, die Leber und die Schale sind verschwunden; und kommt uns kein Wunder zu Hilfe, so können wir den Stein nicht von den übrigen Steinen in seiner Umgebung unterscheiden.
ANDRÉ LEROI-GOURHAN,
Die Religionen der Vorgeschichte
Der 23. Juli 1970 war ein brennend heißer Tag. Quer durch die Haute-Provence waren Hunderte von Hektar Wald in Flammen aufgegangen. Der Regen ließ auf sich warten, und Tag um Tag verbrannte und verdurstete die Natur.
An der Ausgrabungsstätte von Quinson sah man die Luft über den Gräben flimmern. Als am späten Nachmittag die Sonne hinter den schwarzen Bergen verschwand, die das Tal der Durance säumten, wehte von den Anhöhen der Verdonschlucht ein milder, fast frischer Wind herab.
Da stellte sich der Tod ein.
Der Tod in einer grünen Limousine, die auf der kurvenreichen Straße zur Verdonschlucht ockerroten Staub aufwirbelte.
Pierre Autran konnte das nicht wissen, und es fiel ihm auch nichts auf. Er sah auf die Uhr und rief zu Professor Palestro: »Feierabend!«
Sorgsam lehnte er Kelle, Schaber und Pinsel an ein großes Sieb. Pierre Autran war in jeder Hinsicht ein Mann von Maß und Ordnung. Bei Sonnenuntergang war es unweigerlich Zeit für ein Bier. Die eiskalten Bierdosen warteten im Kühlschrank am anderen Ende der Fundstätte. Autran ließ sich nicht lange bitten. Staub und Sonne waren seiner legendären Nüchternheit Herr geworden.
Die Ausgrabung fand auf einem mit Zistrosen durchsetzten Garrigue-Plateau statt. In einiger Entfernung stieg das Terrain zu grauen Felsen hin an. Zwischen grünen Mulden und roten Erdstreifen zog sich ein Pfad hindurch und verschwand schließlich hinter kaum mannsgroßen Kermes-Eichen, die zur Baume-Bonne-Höhle führten.
Pierre Autran setzte sich auf den Rand einer Schubkarre voller Schutt und hielt Palestro ein Kronenbourg hin.
»Prost!«
Palestro war um die dreißig, ein hoch aufgeschossener Kerl mit hängenden Schultern, stets in Kakihose und mit einem alterslosen Stoffhut auf dem Kopf. Er gehörte dem Institut für Urgeschichte der Universität Aix-en-Provence an. Autran war in etwa gleich alt, aber kräftiger. Er war einer jener schnürstiefelbewehrten freiwilligen Helfer, die gern an Steinen herumschrubben, weil sie damit heiligen Dienst an der Forschung tun. Das Team hatte verdammt gute Arbeit geleistet! Die schnurgerade angelegten Gräben wirkten wie eine Riesentreppe und drangen bis zum Gravettien-Zeitalter in die Erde vor.
Innerhalb eines Monats hatte sich die Stätte erheblich vergrößert. Palestro hatte beantragt, weiter oben graben zu lassen, an einer teilweise zugeschütteten Öffnung am Fuß eines Felsens, die ein Jagdunterschlupf aus der Altsteinzeit sein konnte. Assistenten zogen Schnüre, und regelmäßig kam zur Überprüfung ein Vermessungsingenieur vorbei. Schicht um Schicht rückte der raue Boden Fitzelchen Geschichte heraus. Seit vierhunderttausend Jahren lebten hier Menschen!
Der Doktorand Jérémie Payet konnte sich von seiner Arbeit an den tieferen Schichten noch nicht losreißen. Er kniete vor einer Böschung und fuhr mit dem Pinsel über eine dunklere Linie knapp über dem Boden. Er war wohl der eifrigste von allen, ein richtiger Entdecker! Und hatte schon eine Menge gefunden.
Autran nahm einen Schluck Bier und fuhr sich mit der Zunge über die vom Staub aufgerissenen Lippen.
»Dann verlässt du uns also morgen«, sagte Palestro.
»Tja. Bisschen traurig bin ich schon.«
»Ach was, komm einfach nächstes Jahr wieder. Erfahrene Leute wie dich brauchen wir immer. Und du kannst auch mal so vorbeischauen.«
»In einem Jahr, wer weiß, wo ich da bin.«
Palestro warf seine Bierdose in das Blechfass, das ihnen als Mülleimer diente. »Wegen deiner Kinder, meinst du?«
»Ja. Die fehlen mir.«
»Du musst sie mir mal vorstellen!«
Autran holte seine Brieftasche heraus. In einem Ausweisfach steckte ein etwas blasses Foto seiner Zwillinge Thomas und Christine. »Das da ist Christine«, sagte er und hielt Palestro das Foto hin.
»Ein hübsches Mädchen!«
»Und noch dazu talentiert und wissbegierig.«
»Und der Junge heißt Thomas, ja?«
»Ja. Acht Minuten nach seiner Schwester geboren.«
Aus dem Teenagergesicht stach ein dunkler, gequälter Blick heraus. Das entsetzliche Leuchten in den Augen zeugte von einer Krankheit, die sein Vater nie erwähnte. Thomas fürchtete sich noch immer vor der Nacht, vor Dunkelheit und Schatten. Manchmal schrie er und schlug derart um sich, dass er fixiert und mit Medikamenten ruhiggestellt werden musste. Er begeisterte sich für die Urgeschichte und für Autoren wie Leroi-Gourhan, Breuil oder de Lumley.
»Warum nimmst du sie nicht mal mit zu einer Ausgrabung?«
Autrans Gesicht verfinsterte sich. Er sprach fast nie über seine Familie, zum einen aus Zurückhaltung, aber wohl auch, weil es da dunkle Geheimnisse gab, die ihn verstummen ließen.
Von Quinson her erklang das Angelusläuten. Die dumpfen Glockentöne hallten von den Kalkfelsen wider und verloren sich über den hellen Wassern des Verdon. Da stand Jérémie Payet auf einmal ruckartig auf. »Kommt mal her!«
Palestro und Autran gingen in großen Schritten zu ihm hin. Payet deutete auf einen braunen Streifen zwei Meter unter dem Erdboden. »Da, im Gravettien!«
In der Lehmkruste steckte ein langer schwarzer Gegenstand. Jérémie Payet bückte sich und pinselte ihn ab. »Eine Figur, gar kein Zweifel!«
»Ein schöner Fund«, sagte Autran. »Bravo, Jérémie!«
»Ganz außerordentlich!«, lobte auch Palestro und starrte die Figur an.
Dann schob er den Studenten umstandslos beiseite und pinselte den Gegenstand gute zehn Minuten lang Millimeter für Millimeter weiter heraus. Manchmal hielt er kurz inne, legte an die etwa zwanzig Zentimeter lange Figur ein schwarzgelbes Lineal an und schoss ein Foto. Die Füße waren grob geformt, der Körper wohlproportioniert, und in Brusthöhe sah man durch ein Loch ins Innere.
»Sieht aus wie ein Mammut-Stoßzahn«, sagte Payet.
»Ich denke, da hast du recht«, erwiderte Palestro. »Hier sieht man gut, dass es Elfenbein ist.«
Der Kopf wirkte rätselhaft. Das Kinn wies die Form einer Hirschschnauze auf. Über der Stirn ragte ein hoher, tief eingeschnittener Kopfputz empor, wie ein Geweih.
»Ich glaube, wir haben es hier mit einem Hirschkopfmenschen zu tun«, sagte Palestro. »Ein gehörnter Hexer. Halb Mensch, halb Tier.«
Jérémie Payet ging zur Hütte und kam mit einer rechteckigen Box zurück. Palestro bettete den Hirschkopfmenschen auf ein Wattekissen und schloss den Deckel.
Da hörten sie ein Hupen und blickten alle drei auf.
Pierre Autran schirmte mit der Hand die Augen ab, um besser zu sehen. »Das ist für mich«, sagte er.
Der Tod blieb vor dem Gitter des Ausgrabungsorts stehen, in einem metallicgrünen Mercedes 300, den Pierre Autran ein halbes Jahr zuvor gekauft hatte. Seine Frau fuhr ihn. Er klopfte sich den Lehm von der Hose, setzte seine Sonnenbrille auf und ging zu der Limousine hinunter.
Eigentlich hätte weder sein Auto dort sein sollen noch seine Frau.
Marseille, vierzig Jahre später
Seit drei Tagen fegte der Mistral wie ein Irrer durch die Straßen der Stadt. Der Himmel war von kalter Reinheit. Blau und hart stand er über den sich zum Meer hin verneigenden Felskämmen. Nach dem Windgetobe waren Schneefälle nie da gewesenen Ausmaßes vorhergesagt. Der Dezember verhieß eiskalt zu werden, doch solcherlei Prophezeiungen ignorierte man in Marseille schon lange.
Im zweiten Stock des Polizeipräsidiums schrillte seit einer guten Weile das Telefon.
»Ich geh ran!«, rief Michel de Palma und blies auf den Kaffee, den er dem Automaten abgetrotzt hatte.
Er hetzte durch den Gang und hob ab.
»Ich möchte bitte Inspektor de Palma sprechen.«
»Hauptkommissar heißt das jetzt, und zwar schon ziemlich lange. Am Apparat.«
»Schön, Sie endlich zu hören! Ich war schon am Verzweifeln.«
Eine zittrige Frauenstimme. De Palma setzte sich hin und streckte die langen Beine aus. Er war müde und allein. Jetzt bloß keine Neurotikerin, die auf Nervenkitzel aus ist. »Was wollen Sie von mir?«
»Haben Sie heute Morgen Zeitung gelesen?«
»Nein. Tu ich nie.«
Die Frau hielt kurz inne. Durch den Hörer war ein Motor zu vernehmen. Ein Bootsdiesel, vermutete de Palma.
»Ich leite die Ausgrabungen in der Le-Guen-Höhle, und da … Also vor zwei Tagen hat ein Mitarbeiter von mir, Rémy Fortin, einen Unfall gehabt, und zwar einen schweren.«
De Palma zuckte zusammen. »In der Höhle, sagen Sie?«
»Ja. Das heißt, eher am Ausgang.«
»In was für einer Tiefe?«
»Etwa achtunddreißig Meter.«
»Ein Dekompressionsunfall?«
»Ja, angeblich.«
»In der Le-Guen-Höhle zu tauchen ist gefährlich, das müssen Sie doch wissen! Wie heißen Sie?«
»Pauline Barton.«
Er kritzelte den Namen auf seine Zigarettenschachtel. »Und Sie meinen, ein reines Unglück war das nicht?«
»Genau. Erklären kann ich es auch nicht, aber seit dem Unfall lese ich noch mal alles, was damals geschrieben worden ist, nach den furchtbaren Sachen, die da um die Höhle passiert sind, und ich sage mir, dass das nicht alles Zufall sein kann. Erinnern Sie sich an die Geschichte?«
»Und ob. Der Fall Autran. Thomas und Christine. Vor zehn Jahren war das.«
Thomas Autran, der Sohn von Pierre Autran, war vom Team de Palmas verhaftet worden. Er hatte drei Frauen niedergemetzelt, vielleicht sogar mehr. Ganz war der Fall nie aufgeklärt worden. Neben jedem seiner Opfer hatte Thomas Autran einen Negativabdruck seiner Hand hinterlassen, nach Art der Magdalénien-Menschen, die so ihre Höhlen schmückten.
Weder bei der Polizei noch vor dem Richter hatte Autran gestanden. Das Schwurgericht Aix-en-Provence ließ ihn in lebenslänglicher Nacht verkümmern und hatte eine Sicherheitsverwahrung von dreiundzwanzig Jahren draufgepackt. Seine Zwillingsschwester war zum Zeitpunkt der Taten Professorin für Urgeschichte an der Universität der Provence. Wegen Mittäterschaft wurde sie zu zwölf Jahren verurteilt. Das Schwurgericht zeigte sich gnädig.
De Palma informierte sich nebenbei rasch über Neues aus der Welt der großen Serienmörder. Kein Ausbruch zu verzeichnen, auch keine Fahndung. Nichts über die Autran-Zwillinge. Überhaupt hatte er seit Jahren nichts mehr von der Le-Guen-Höhle und den Autran gehört. Das verhieß nichts Gutes.
»Wir müssen uns treffen, so gegen siebzehn Uhr«, sagte er in unmissverständlichem Ton.
»Äh, gut. Ich bin in den Calanques, in Sugiton.«
»Ich komme da hin. Sie bringen mich dann übers Meer wieder nach Marseille.«
Ohne sich zu verabschieden, legte de Palma auf und warf seinen Kaffeebecher in den Papierkorb. Der Tag fing ja gut an. Von der Kathedrale ertönten drei volle, klingende Schläge, und der Mistral wirbelte Papierfetzen und Plastiktüten bis zu den Fenstern des Präsidiums hinauf.
Ein Anblick, bei dem man übers Schicksal ins Grübeln kommen konnte. Warum ausgerechnet die Le-Guen-Höhle? Und ausgerechnet ein mysteriöser Unfall?
Eine Stunde lang telefonierte de Palma herum. Vom Kulturdezernat wurde ihm bestätigt, dass in der Höhle derzeit Grabungen stattfanden. Küstenwache und Seenotrettungsdienst berichteten übereinstimmend von einem Tauchunfall am Eingang zur Le-Guen-Höhle, in achtunddreißig Metern Tiefe. Rémy Fortin sei in besorgniserregendem Zustand aufgefunden und nach Marseille in eine Dekompressionskammer des Krankenhauses Timone verbracht worden.
Fortin war innerhalb weniger Sekunden aus beinahe vierzig Metern Tiefe an die Wasseroberfläche emporgetaucht. Durch den zu schnellen Aufstieg war es in Blut und Muskelgewebe zu einer Gasübersättigung gekommen, und es hatten sich gefährliche Blasen gebildet.
»Dass der überhaupt noch lebt, ist ein Wunder!«, hatte der Rettungsarzt gesagt.
De Palma war grundsätzlich misstrauisch, und gegenüber Wundern erst recht. Taucher vom Kaliber eines Rémy Fortin verloren nicht so ohne Weiteres die Beherrschung. Aber da unten konnte eben alles Mögliche passieren. Den seltsamsten Wesen begegnete man da, vom verirrten Menschenfresser-Hai über liebesbedürftige Delfine bis hin zu Wahnsinnigen wie Thomas Autran. De Palma verspürte auf einmal ein dringendes Bedürfnis nach einer Zigarette, hatte aber keine Lust, bis in den Hof hinunterzugehen, um bei dem Sturm mit den letzten Nikotinsüchtigen des Präsidiums seine Gitane zu rauchen.
Als er im Büro auf und ab ging, fiel sein Blick auf das Rundschreiben des neuen Kripochefs. Der Mann machte den Kampf gegen das Bandenwesen zu seiner obersten Priorität, die Rückkehr des Rechtsstaats in die nördlichen Viertel der Stadt zum Kreuzzug. Allein vier Luden waren innerhalb eines Jahres über den Jordan gegangen. Schlimmer noch war der Bandenkrieg, den sich einzelne Viertel lieferten, etwa La Rose und La Castellane. Sechs junge Kerle niedergemetzelt, einfach so, mit einer Kalaschnikow. De Palma zerriss das Schreiben und warf es in den Papierkorb.
Da ging die Tür auf und Karim Bessour steckte den Kopf herein. De Palma zuckte zusammen.
»Ach, du bist ja da, Baron!«, rief Bessour verwundert aus.
»Wo soll ich sonst sein?«
Bessour runzelte die Stirn. Mit seiner schlaksigen Gestalt und dem hageren Gesicht wirkte er immer, als zöge er gleich in den Krieg.
»Du weißt doch, der Umtrunk, wegen meiner Beförderung.«
Zu dem Anlass hatte Bessour ein weißes Hemd angezogen, mit zu kurzen Ärmeln für seine endlos langen Arme, und die blaue Krawatte hing ihm schief herunter.
»Stimmt, du wirst ja Kommissar. In deinem Alter! Du wirst uns noch mal Kripochef …«
»Lass die Scherze!«
»Nein, bestimmt. Du hast was drauf. Solche wie du sind hier dünn gesät.«
»Hast mir alles du beigebracht, Baron!«
»Tja, leider!« De Palma wurde ernst. »In drei Wochen ist hier Schluss für mich. Dann ist es aus mit dem Baron.«
Von Wehmut wollte sich Bessour nicht übermannen lassen. Um abzulenken, schielte er auf die Uhr.
»Ich komme mir hier manchmal vor wie in einem Beichtstuhl«, fuhr de Palma dennoch fort. »Ein Beichtstuhl ohne Pfarrer. Lauter arme Sünder habe ich vor mir. Das Handgelenk, immer das linke, an den Ring da gefesselt. Und dann wird gejammert, wie unschuldig sie doch alle sind. Hin und wieder auch eine Frau. Und am Anfang ein paar zum Tode verurteilte. Einen hat es tatsächlich auch erwischt. Den werde ich nie vergessen, mit seinen Glubschaugen hinter der eckigen Brille. Wie der geheult hat und gefleht und geschrien …«
»Immerhin hast du ein paar große Fälle gehabt. Du bist nicht umsonst der Baron!«
Um dem bedrückenden Gespräch zu entkommen, schnappte de Palma sich den Karton, den er vom Gemüsehändler um die Ecke geholt hatte. »Ich räume jetzt meine Sachen auf.« Er entriegelte die Schubladen und schüttete den Inhalt direkt in den Karton. Ein Haufen Kram regnete herab: Visitenkarten, alte Radiergummis, zerdrückte Patronen, angenagte Stifte, Durchschlagpapier voll nutzlos gewordenem Text. Mit dreißig Jahren Kripo war letztendlich nicht viel Staat zu machen.
»Du hast immerhin noch drei Wochen runterzureißen«, scherzte Bessour.
De Palma schlüpfte in seine Jacke und steckte die Dienstwaffe in das Holster. »So, ich muss. Ich treffe mich mit einer Prähistorikerin, und zwar nicht gerade um die Ecke.«
»Ach ja?«
»In Sugiton wäre ein Taucher beinahe abgesoffen, da muss ich jetzt hin.«
»Soll ich mit?«
»Von wegen, du lässt hier die Korken knallen!«
De Palma legte drei Finger auf die Schulter, um die Tressen anzudeuten, auf die Bessour nun Anspruch hatte. Der ging auf die Spitzen seines Vorgesetzten grundsätzlich nicht ein. Im Übrigen wusste er, dass de Palma vor Hierarchie, Autorität und Uniformstreifen nicht den geringsten Respekt hatte.
»Ein Unfall in Sugiton? Davon habe ich, glaube ich, in der Zeitung gelesen. In der Le-Guen-Höhle, oder?«
»Am Eingang. In achtunddreißig Metern Tiefe.«
»Und das war also kein Unfall?«
»Keine Ahnung, Junge. Bei der Le-Guen-Höhle bin ich aufs Schlimmste gefasst, verstehst du?«
»Ja.«
»Wieso? Steht in der Zeitung so was?«
»Äh, ich glaube schon.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt!«
Bessour machte sich davon. De Palma hatte was gegen Umtrunke, ob sie nun zum Einstand, zum Ausstand, zur Beförderung oder zu sonst was gegeben wurden.