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Über das Buch

Entdeckungsreise in ein faszinierendes Ökosystem

Kitzelnde Gräser, leuchtende Blumen, summende Insekten: So fühlt sich eine Sommerwiese an. Jan Haft nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise in ein wahres Naturparadies, in dem Hunderte bunter Pflanzen und bizarrer Tiere leben, deren Naturgeschichte oft noch gar nicht richtig erforscht ist. Nirgendwo sonst leben mehr Insektenarten, nirgendwo sonst herrscht eine solche Farbenpracht. Und gleichzeitig ist kein heimischer Lebensraum so sehr bedroht: Etwa ein Drittel unseres Landes war einst von blühenden Wiesen bedeckt. Heute sind es noch klägliche zwei Prozent. Das mit zahlreichen Fotos bebilderte Buch weckt Begeisterung für diesen artenreichen, lebendigen Lebensraum und ist zugleich ein Aufruf zur Rettung der letzten Blumenwiesen.

Über den Autor

Der Biologe Jan Haft, geboren 1967, ist ein vielfach ausgezeichneter Natur- und Tierfilmer (u. a. Mythos Wald, Magie der Moore). Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern auf einem Bauernhof im Isental bei München. Eine seiner Lieblingswiesen liegt gleich neben dem Hof. Sein neuer Film beschäftigt sich ebenfalls mit der Wiese als Lebensraum: Die Wiese – ein Paradies nebenan (2019).

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JAN HAFT

Die Wiese

Lockruf in eine geheimnisvolle Welt



Meinen Kindern Lili, Charlotte und Anselm und meiner Frau Melanie

sowie

jenen Landwirten, die trotz aller Sachzwänge und ohne viel darüber zu reden auf ihrem Grund ein paar wilde Ecken und blühende Flecken zulassen, obwohl sie es nicht müssten. Ihnen gilt mein größter Respekt.

Inhalt

PROLOG: Ein Morgen im Mai

KAPITEL 1: Meine »heilige Wiese«

KAPITEL 2: Das Verschwinden der Farben

KAPITEL 3: Die Entstehung der Blumenwiesen

KAPITEL 4: Bayerische Elefanten

KAPITEL 5: Schlangen und Orchideen

KAPITEL 6: Stumme Landschaften

KAPITEL 7: Das gelbe Wunder

KAPITEL 8: Rettet die Wiesen!

EPILOG: Herbstzeit

DANK

AUSGEWÄHLTE LITERATUR

PROLOG   
Ein Morgen im Mai

Mit zitternden Bewegungen ihrer winzigen Fußglieder schiebt sich die Wiesenhummel auf die andere Seite der Schaumkraut-Blüte, auf der sie, klamm und mit dicken Tautropfen im dichten Haarkleid, die Nacht verbracht hat. Die Sonne geht gerade auf, und das kleine Pelztier versucht, die ersten wärmenden Strahlen einzufangen, um schneller auf »Betriebstemperatur« zu kommen. Überall in der Wiese das gleiche Bild: Von der Kälte der Nacht gelähmte Hautflügler, Fliegen, Käfer und Schmetterlinge drehen sich wie in Zeitlupe der Sonne zu, um deren wohltuende Wärme aufzunehmen und ihren kleinen klammen Insektenleib schneller beweglich zu machen.

Ein ganz anderes Tier steht auf allen vieren mitten in der Wiese, in der die Sonne jetzt Myriaden von Tautropfen funkeln lässt, als hätte jemand ein Bergwerk voller Diamanten ausgeschüttet. Die Füchsin. Sie war den ganzen Morgen in der Wiese unterwegs, um zu jagen. Futter für ihre Welpen, die am Rand der Wiese warten. Meter für Meter pirscht sie durch das nasse Gras. Immer wieder legt sie dabei ihren bisherigen Fang ab. Vier Wühlmäuse sind ihrem Nachwuchs als Frühstück schon mal sicher. Aber sie hat noch nicht genug, schließlich warten im Bau gleich fünf hungrige Füchschen. Und eine Maus ist auch für einen Jungfuchs nicht mehr als ein kräftiger Happen. Sie schnuppert in die Morgenluft und blickt sich um. Dann nimmt sie das kleine Bündel Mäuse wieder auf und schleicht weiter, die Sinne weit geöffnet. Währenddessen hat die Wiesenhummel begonnen, ihr gelb-schwarz-rotes Haarkleid zu putzen. In ihrem Pelz könnten Reste von Nektar und Pollen als Keimbett für Pilze oder Bakterien zu gefährlichen Erkrankungen führen, deswegen sieht man jetzt überall in der Wiese Brummer, die sich so wie unsere dicke Honigsammlerin ausführlich der Körperpflege widmen.

Die Füchsin ist nicht die einzige Tiermutter in der Wiese, die sich gerade um ihren Nachwuchs sorgt. Keine hundert Meter weit weg sitzt das Brachvogelweibchen auf seinem Gelege und macht einen langen Hals. So kann es nämlich das sanft wogende Meer aus Gräsern und Kräutern überblicken, ohne aufzustehen und den Küken, die gerade dabei sind zu schlüpfen, die Geborgenheit und Wärme zu nehmen. Der Puls der Vogelmutter schnellt hoch; ihre scharfen Augen haben die Füchsin entdeckt, und die schnürt geradewegs in Richtung Vogelfamilie! Die Vogelmutter hat jetzt mehrere Möglichkeiten. Sie könnte plötzlich aufstehen, weglaufen und dann auffliegen. Der Räuber im roten Rock würde sofort aufmerksam, aber da er noch relativ weit weg ist, hätte der Fuchs schlechte Karten beim Auffinden der Brachvogelküken und -eier. Allerdings würde er es ganz bestimmt versuchen! Oder die Vogelmutter bleibt sitzen und wartet und setzt darauf, nicht aufzufallen. Was allerdings den Nachteil hat, dass sie dann, wenn der Fuchs ganz nahe käme, auffliegen müsste, und dann wäre der Nachwuchs unweigerlich verloren. Ein Brachvogel hat kein Bewusstsein für Zwickmühlen, aber dieser steckt jetzt in einer solchen. Er bewegt sich nicht.

Die Sonnenstrahlen haben bereits so viel Kraft, dass sie Tautropfen um Tautropfen verdampfen lassen. Feuchtigkeit steigt aus der Blumenwiese auf. Es wird langsam warm, und ein Duft von Heu und Honig macht sich breit. Die Wiesenhummel hat ihre Körperpflege beendet und zittert. Nicht vor Kälte, sondern weil ein Muskelspiel in ihrem kleinen kompakten Körper dafür sorgt, dass die Temperatur weiter steigt und ihr der Senkrechtstart in den Tag gelingt. Unter 30 Grad Celsius Körpertemperatur hebt so ein Brummer nicht ab.

Die Sonnenwärme hat nicht nur die Insekten in Bewegung gebracht, sondern auch die Luftschicht über der Wiese, weshalb der Ozean der blühenden Gräser und Kräuter zunehmend in Bewegung gerät. Die Stille des Morgens, in der nur das Tirilieren der Feldlerchen, hoch am Himmel, zu hören war, ist dem sanften Rauschen der Wiesenpflanzen im Wind und geschäftigem Gesumm gewichen. Denn im Dschungel der Halme herrscht jetzt reger Verkehr. In allen Stockwerken kreuzen sich die Wege kleiner und großer, schneller und langsamer Flieger. Alle sind auf Nahrungssuche. Alle haben Hunger, auch unsere Wiesenhummel. Ihr recken sich Abertausende Blumen entgegen, bieten sich so auffällig wie möglich an, betteln förmlich darum, bestäubt zu werden und im Gegenzug ihre Lockspeise loszuwerden, den Blütennektar. Wiesenhummeln saugen und sammeln aber nicht nur Nektar, den sie als Essensvorrat in ihrem Bau in einem aufgelassenen Mäusenest in kleinen Fässchen aus Hummelwachs lagern. Sie sammeln auch Blütenpollen als Futter für ihre Larven.

Aufgewärmt und munter fliegt unsere Wiesenhummel-Arbeiterin durch den Halm-Wald und ortet eine besonders vielversprechende Pollenquelle: gelbe, maulförmige Blüten, die aus einem bleichen Blattschopf ragen – und die steuert sie zielstrebig an. Dabei beachtet das pummelige Insekt die Füchsin nicht, an der sie in wenigen Zentimetern Entfernung vorbeisteuert. Füchse fressen keine Hummeln und sind daher keine Gefahr. Nur Jungfüchse, die vor ihrem Bau spielen, schnappen manchmal nach Insekten, die an ihnen vorüberfliegen. Aber der Füchsin in der Wiese steht der Sinn nach etwas ganz anderem.

Die Wiesenhummel ist an einer gelben Klappertopf-Blüte gelandet und beginnt mit der Pollenernte. Dazu hängt sie sich unter das Blütenmaul, aus dem ein weißliches Röhrchen ragt; eine Art Stutzen, ideal, um etwas auszuschütten. Eine Hummel kann nicht nachdenken, aber sie »weiß« genau, was jetzt zu tun ist. Sie betätigt ihre Flugmuskulatur, sehr schnell, aber sie belässt die Flügel über dem Rücken zusammengelegt. Sie will auch nicht fliegen, sie will schütteln. Bestimmte Muskeln in der Hummelbrust halten die Flügelansätze fest. Die eigentlichen Flugmuskeln aber arbeiten wie wild und versetzen den ganzen Hummelkörper unter laut hörbarem Summen in Vibration. Dadurch beginnt auch die Klappertopfblüte zu zittern. In ihrem Inneren löst sich Blütenpollen von den Staubgefäßen und purzelt durch den »Ausfüllstutzen« in einem feinen Strahl aus der Blüte heraus und auf den Bauch der Hummel, die kopfüber darunterhängt. Bald ist die Blüte leer und die Hummel fliegt ab, den Klappertopfpollen in der Bauchbehaarung. Den kämmt sie jetzt im Flug mit Borsten an den Gliedmaßen aus dem Haar heraus und streift ihn an den »Höschen« ab, den Pollenpäckchen, die sie an den beiden Hinterbeinen trägt. Aber ein kleines bisschen Blütenstaub bleibt immer im Hummelpelz zurück, zumindest bis zur nächsten Morgentoilette; genug, um damit die nächste Blüte zu bestäuben.

Die Füchsin beachtet das Brummen und Summen um sie herum nicht und mustert die Wiese. Sie hat eine Bewegung ausgemacht, die nicht so aussah, als wäre der Wind dafür verantwortlich. Das Brachvogelweibchen verliert die Nerven, stürzt aus dem Nest und wirft dabei zwei seiner Jungen um, die verdattert am Rand der Nestmulde sitzen bleiben. Es macht geduckt ein paar hektische Schritte, um den genauen Neststandort nicht allzu leicht preiszugeben, und fliegt unter Getriller laut schimpfend auf. Und auch wenn Brachvögel nicht rechnen können, geht die »Rechnung« doch auf. Die Füchsin schaut dem lärmenden und flatternden Etwas hinterher und verliert die Stelle aus dem Blick, wo der Langschnabel aufgeflogen war. Sie trollt sich in Richtung Bau am anderen Ende der Wiese, wo ihre hungrigen Welpen auf Futter warten. Besser wenig als gar nichts! Die Brachvogelmutter ist wieder gelandet und nähert sich, langsam und aufmerksam die Umgebung musternd, ihrem Nest. Dabei stolziert sie durch einen fahlgelb blühenden Klappertopfbestand, wo Hummeln wild summend unter Blüten hängen. Es wird immer wärmer. Ein Maientag in der Blumenwiese ist angebrochen, so wie unzählige Male in vielen Jahrhunderten zuvor …

KAPITEL 1   
Meine »heilige Wiese«

Als ich neun Jahre alt war, erzählte mir meine Mutter eine Geschichte aus ihrer Kindheit, die mir besonders im Gedächtnis geblieben ist. Sie schilderte, wie sie sich immer wieder in eine Blumenwiese in der Nachbarschaft ihres Elternhauses in München-Schwabing zurückzog, sich ins Gras legte und Marienkäfern und anderen Wieseninsekten beim Auf und Ab im Dschungel der Halme zusah. In ihrer Vorstellung wurde sie zu einer Zwergin unter Zwergen, verlieh den Wieseninsekten Namen und dachte sich Gespräche aus zwischen den Käfern, Raupen und Zikaden. Möglicherweise flüchtete sie sich in diese scheinbar friedliche, kleine Welt, um der Bedrückung zu entfliehen, die Kriegszeiten und Evakuierung mit sich brachten. Vielleicht war sie auch einfach von der Farben- und Formenvielfalt der Wiese fasziniert. Jedenfalls berührte mich diese Geschichte mehr als andere, als wenn ich geahnt hätte, dass die Wiese in den kommenden Jahrzehnten zu einer Art Lebensthema für mich werden würde; dass ich selbst immer wieder in einer Wiese stehen, sitzen und liegen würde, manchmal mit einer Kamera in der Hand. Und das auch noch in der allerschönsten Wiese der Welt, nämlich in meiner »heiligen Wiese«.

Unsere Familie wohnte in Weißenfeld, einem Örtchen in der Nähe von München, das heute wie eine Insel aus großen industriell bestellten Feldern ragt. Damals war es noch von einer bunten Mischung aus Getreideäckern und Wiesen umgeben. Unser Haus stand auf dem Grund eines Landwirts, bei dem mein Bruder und ich frische Milch holen mussten und wo es viel für uns zu erleben gab, etwa wenn der Bauer uns Kinder bei der Kartoffelernte mithelfen ließ und wir sogar den Traktor lenken durften. In diesem Elternhaus erwachte in mir mit acht oder neun Jahren eine schier grenzenlose Begeisterung für Tiere, und bald teilte ich mein Kinderzimmer mit einem frei fliegenden Nymphensittich, Rennmäusen, Fröschen und allerhand Krabbeltieren, die ich auf Familienausflügen sammelte oder für mein Taschengeld in der Zoohandlung erwarb.

Ich war ein schwieriges Kind. Viele Vorschläge meiner Eltern zur gemeinsamen Freizeitgestaltung lehnte ich ab. Oft störte ich mit meiner Sturheit den Familienfrieden. Die Eltern wollten ihren beiden Söhnen ein humanistisches Fundament und eine möglichst breite Allgemeinbildung mit auf den Weg geben, uns vor allem die europäischen Kulturschätze nahebringen. Deswegen waren für mich viele Sonntage von Museumsaufenthalten in der Stadt überschattet und die Urlaube verbinden sich in meiner Erinnerung mit quälenden Besuchen von muffig riechenden Kirchen und staubigen Ausgrabungsstätten. Als die weltberühmte Büste der Nofretete nach München kam, brachte ich meinen Protest gegen den von meinen Eltern verordneten Ausstellungsbesuch zum Ausdruck, indem ich die gesamte Tour durch das Haus der Kunst mit gesenktem Kopf absolvierte. Eine Anekdote, die später unzählige Male vor Verwandten und Freunden zum Besten gegeben wurde.

Was mich als kleinen Naturfreak regelrecht kränkte, war, dass niemand zu sehen schien, dass ich mich nicht grundlos verweigerte, sondern dass in mir eine Sehnsucht brannte nach all dem, was da draußen kreucht und fleucht. Ausflüge in Schlösser oder Museen hielten mich einfach nur von der Natur fern, das war es. Auf Familienausflügen zu Landgasthäusern motivierte mich die Aussicht, nebenbei Federn, leere Schneckenhäuser, Frösche und Ähnliches zu finden, viel stärker als Kaiserschmarrn oder drei Kugeln Eis.

Auslandsreisen versprachen exotische Tiererlebnisse, für die ich aber allerhand unangenehme Begleiterscheinungen in Kauf nehmen musste. Der jährliche Sommerurlaub am Mittelmeer war stets eine Mischung aus Schnorcheln, Lernen für die Schule und Besuchen von allerlei Ruinen. Knossos und Delphi, das Kolosseum, Florenz, Aix-en-Provence … all diese Namen hatten damals für mich einen unangenehmen Beigeschmack. Legendär und später am Familientisch ebenfalls immer wieder aufs Neue erzählt, waren meine Versuche, unter Bruchstücken von Säulen oder Statuen Tiere zu entdecken. Ob vor Jahrtausenden kunstvoll behauen oder nicht, mit etwas Glück ließen sich unter solchen Steinbrocken Skinke oder Geckos erbeuten oder zumindest Skorpione, Schwarzkäfer und andere Kostbarkeiten. Ich merkte früh, dass ich der Einzige weit und breit war, der diesen Funden so viel abgewinnen konnte. Mehr als ihren jahrtausendealten, steinernen Unterschlupfen jedenfalls. Aber ich war mir schon als Kind ganz sicher, dass ich es war, der all dem kriechenden und krabbelnden Viechzeug den richtigen Wert beimaß, und nicht die anderen, die sich vor dem Getier ekelten oder zumindest kein Interesse dafür aufbringen konnten. Solche Tierfunde jagten mir jedes Mal einen wohligen Schauer über den Rücken, und bald war meine Lieblingsbeschäftigung das Steinewenden. Tiere aufzustöbern schien so etwas wie meine Bestimmung zu sein; das Einzige, dem ich schier beliebig lange meine ganze Aufmerksamkeit widmen konnte. Mit der Zeit wurde ich immer besser darin, Tiere trotz Tarnung und Versteck ausfindig zu machen. Diese Fähigkeit sollte mir später zu den ersten Hilfsjobs beim Tierfilm verhelfen.

Ähnlich wie bei den Mittelmeerreisen im Sommer erging es mir – und meinen Eltern – im Winterurlaub. Jedes Jahr nach Weihnachten fuhren wir nach Tirol. Wann immer es mir gelang, entwischte ich der Gesellschaft der Skifahrer und zog mich in einen alten Wald oberhalb der Piste zurück, wo Rindenfetzen von mächtigen Bäumen hingen und wo auf den Ästen uralter Fichten und Bergahorne dicke Moospolster und lange Bärte aus Flechten wuchsen. Ich baute Verstecke aus Zweigen und suchte Tiere. Laufkäfer zum Beispiel, die sich unter loser Baumrinde in Winterstarre befanden. Vom Hang her drang der Lärm der anderen zu mir hinauf, die mit dem in meinen Augen immer gleichen Auf und Ab glücklich waren. Während ich, im Wald, immer neue, aufregende Entdeckungen machte. Neben kältestarren Insekten fand ich geheimnisvolle Tierspuren oder alte Vogelnester. Manchmal erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf einen Tannenhäher oder einen Kolkraben. Meist währte mein Glück im Wald jedoch nicht lange. Ich wurde zurückgerufen, gerügt und anschließend überredet, den Skizirkus mitzumachen.

Woher mein ausgeprägtes Naturinteresse stammt, ist unklar. Meine Vorfahren hatten alle möglichen Berufe, aber Biologen und Tierkundler waren nicht darunter. Mein Vater war Physiker und Patentanwalt und meine Mutter Grundschullehrerin. Die Eltern akzeptierten meine Leidenschaft irgendwann und begannen sie schließlich zu fördern – und zu instrumentalisieren, wenn es um die Schule ging. So mancher Appell an mich wegen meiner chronisch schlechten schulischen Leistungen endete mit dem Halbsatz: »… dann bekommst du ein neues Terrarium.« Entsprechend begannen meine Widerreden häufig mit: »Wenn ich ein neues Terrarium bekomme, dann …« Bald war ich Mitglied in mehreren naturkundlichen Vereinen, und mein Kinderzimmer füllte sich mit Tieren. Beim Schein der Neonbeleuchtungen aus meinen mit Wurzeln und Pflanzen eingerichteten Terrarien und beim Zirpen der Futterheimchen fühlte ich mich wohl. Heimchen, die entkommen waren und sich hinter die Randleisten des Parkettbodens zurückgezogen hatten, fütterte ich mit Salat, den ich in kleine Fetzen rupfte und auf den Boden legte.

Es gibt nach wie vor Terrarien in unserem Haus. Nicht mehr so viele wie in meiner Kindheit, und sie bedeuten mir nicht mehr so viel. Aber aus einem der Kinderzimmer leuchtet eine moderne, energiesparende UV-Lampe, und wenn ich in meinem Büro am Schnittcomputer sitze und an der Montage eines Tierfilms arbeite, schaut mir von der Seite ein untertellergroßer afrikanischer Grabfrosch zu. Und wenn sich heutzutage ein Futterheimchen hinter den Kühlschrank unserer Küche zurückgezogen hat, weil es dort warm und dunkel ist, freue ich mich nach wie vor über sein Gezirpe. Und ich habe mich schon dabei ertappt, wie ich auch heute noch die kleinen Sänger in ihrem Versteck mit Salatfetzen füttere.

Über das Für und Wider der Tierhaltung in Kinder- oder Wohnzimmer lässt sich vieles sagen, und für beides gibt es gute Argumente. Mir erscheint es jedoch unbestreitbar, dass die Tierhaltung den Pfleger Verantwortung lehrt und Interesse weckt für das Lebendige an sich. Ein Kind, das liebevoll und interessiert mit Tieren umgeht, entdeckt jede Menge Zusammenhänge und lernt dadurch fürs Leben. Als mein Sohn unlängst einen Freund als Übernachtungsgast in unserem Haus hatte, streiften die beiden abends durch die Wiesen und fingen Heuschrecken. Beide hörten aufmerksam zu, als ich ihnen den Unterschied zwischen Männchen und Weibchen bei den Zwitscherschrecken erklärte. Sie entschieden sofort, dass das Männchen, das sie jetzt daran erkennen konnten, dass ihm die lange Legeröhre fehlt, die dem Weibchen bei der Eiablage dient, nachts zwischen ihren Betten stehen sollte. Das namengebende, zwitschernde Gezirpe war für uns Eltern, ein Stockwerk darüber, nur mit Wohlwollen als angenehm zu empfinden. Aber die beiden Jungs lauschten gebannt dem grünen Musikanten, leuchteten mit der Taschenlampe immer wieder in die Plastikschachtel und schliefen in dieser Nacht sicher unruhiger als sonst. Aber: Sie machten eine intensive Heuschreckenerfahrung. Wenn sie als Erwachsene von bedrohten Heuschreckenarten lesen oder hören, wird sie das sicher anders berühren als Menschen, die noch nie einen Grashüpfer oder ein Heupferd auf der Hand hatten.

Für mich als Kind waren Eidechsen und Geckos das Nonplusultra. Mehrmals in der Woche ging ich auf Fangexkursion, um Lebendfutter für meine insektenfressenden Lieblinge zu besorgen: Prachtkieleidechsen, die ich aus dem Kroatienurlaub mitgebracht hatte, und Geckos und Leguane aus dem Zoohandel. Meine Familie war mittlerweile in den Nachbarort gezogen, und ich hatte jetzt verschiedene Wiesen in der näheren Umgebung, die ich gut mit dem Fahrrad erreichen konnte. Dort fing ich vor allem Grashüpfer. Die schönste und ergiebigste »Heuschreckenwiese« lag mitten im Wald, in einem Ausläufer des Ebersberger Forstes, östlich von München. Es war eine große, rechteckige Waldlichtung, in deren Mitte vier alte Eichen standen. Die vielbefahrene Bundesstraße 304 trennte den Waldabschnitt, in dem diese Waldwiese lag, von unserer Ortschaft, sodass auf jener Seite der Straße kaum jemand spazieren ging.

Hier war ich allein, hier füllte ich meine Lebendfutterdosen, hier spielte ich Tierforscher, und es gab niemanden, der mich zurückpfeifen würde. Auf dieser Wiese entdeckte ich zum ersten Mal die Vielfalt der Wieseninsekten, sah Spinnen zu, wie sie ihre Radnetze bauten, und beobachtete Waldschmetterlinge wie den Kaisermantel, die es in der Gartenlandschaft, in der wir wohnten, nicht gab. Auf alten Baumstümpfen am Rande der Wiese sonnten sich Bergeidechsen, und von oben drang der Gesang der Goldammer zu mir herab. Auf einem alten Stapel liegen gebliebener Fichtenstämme erbeutete ich unter heftigem Herzklopfen die erste Schlingnatter meines Lebens, eine harmlose kleine Schlange, die sich vor allem von Eidechsen ernährt. Am nördlichen Ende der Wiese wuchsen Heidekraut und Silbergras. Hier fing sich die meiste Sonnenwärme, sodass die Nadeln und Zweige der Fichten in der Sommerhitze nur so knackten und der Geruch der dabei austretenden ätherischen Öle die Luft erfüllte. Hier huschten, wenn es nicht zu heiß war, Zauneidechsen durchs Gras. Und hier ragten die meisten Waldameisenhaufen aus dem Boden, halb im Wald, halb auf der Wiese gelegen.

Wenn ich im Vorfrühling auf die Heuschreckenwiese ging, obwohl es um diese Jahreszeit natürlich noch keine Heuschrecken zu fangen gab, beobachtete ich manchmal ein ganz besonderes Schauspiel. An der zur Wiese zeigenden Seite der Ameisenhügel saßen ihre Bewohner dicht an dicht gedrängt, wie ein schwarzer Teppich, in der Sonne. Bei genauem Hinschauen erkannte ich, dass der Ameisenteppich in Bewegung war. Eine schwarze, unruhige Schicht aus Insektenleibern waberte hin und her. Alles passierte in Zeitlupe, und ich konnte mir keinen rechten Reim darauf machen. Was da genau vor sich ging, erfuhr ich erst mehr als drei Jahrzehnte später, durch die Recherchen für unseren Film Mythos Wald. Dass sich nämlich die Waldameisen in der Frühlingssonne aufwärmen, ins Bauinnere flitzen, um dort die Wärme abzugeben, bevor sie wieder an der Oberfläche erscheinen, um sich erneut aufzuheizen. Winzige Solarkraftwerke auf sechs Beinen sozusagen.

Auch wenn ich als Knabe vieles in der Natur nicht so richtig deuten konnte, machte ich doch eine Menge Entdeckungen, die sich später als präzise Beobachtung herausstellten. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass es viel weniger reine Waldtiere gab und umgekehrt auch viel weniger ausgemachte Wiesentiere, als es in meiner Sammlung naturkundlicher Kinderbücher zu lesen war. Die Heuschreckenwiese war ganz offensichtlich so reich gesegnet mit den verschiedensten Tierarten, weil sie an einen Wald grenzte, weil in ihrer Mitte die vier alten Eichen standen und weil hier und da Wildrosen und andere Sträucher auf ihr wuchsen. Ohne Stapel von Baumstämmen, die am Rande der Wiese lagen, ohne alte Baumstümpfe und anderes Totholz gäbe es auf dieser Wiese keine Reptilien, weniger Käfer und andere Insekten und deswegen auch weniger Vögel. Sicher kämen ohne die Nähe des Waldes auch weniger große Tiere wie Dachs, Fuchs, Wildschwein und Reh zu Besuch auf die Wiese. Tiere, die ich damals noch für groß hielt. Ich ahnte im Alter von elf Jahren nicht, wie riesig manche Tiere waren, die einst hierzulande lebten und die noch immer existieren würden, wären sie nicht vor Jahrhunderten aus Gründen, die wir später noch betrachten werden, vom Erdboden verschwunden; kurz: was für ein Kosmos sich beim Thema »Großtiere und Wiese« einmal für mich eröffnen würde.

Dreißig Jahre später, kurz vor dem Jahrtausendwechsel, lief der erste Tierfilm im Fernsehen, der meinen Namen als Regisseur und Kameramann trug. Die Geburtsstunde von Nautilusfilm. Kurz darauf spülte der Zufall die werdende Naturfilmfirma nach Dorfen, an das Ufer des Flüsschens Isen, 50 Kilometer östlich von München. Auf einem Vortragsabend hatte ich den Fisch- und Tierfotografen Andreas Hartl kennengelernt, der bald zu einem wichtigen Wegbegleiter werden sollte. Andreas kennt sich in der heimischen Natur unheimlich gut aus, und er dürfte bis heute der einzige Mensch sein, der den größten Teil der heimischen Fischarten in allen Entwicklungsstadien beobachtet und fotografiert hat, vom Ei bis zum erwachsenen Tier. Der Fischfotograf vermittelte uns das seinerzeit leerstehende Bauernhaus, in dem wir heute leben und arbeiten.

Eine mindestens ebenso glückliche Fügung sorgte kurz darauf dafür, dass meine Frau Melanie in die Dienste der noch jungen Tierfilmschmiede und damit in mein Leben trat. Der kleine Hof beherbergt seither unsere Familie, die Filmfirma und zahlreiche Tiere; große Tiere im Vergleich zu früher. Darunter mehrere Hunde, Esel und Ponys. In der Vergangenheit gab es immer wieder auch ausgefallene Pfleglinge: So lernten hier mehrere Kolkraben das Fliegen, und in der Scheune tummelten sich per Hand aufgezogene Steinmarder. Ein Wildschwein namens »Schweini« gehörte zur Familie und war sogar, zumindest anfangs, im Wohnzimmer anzutreffen. Schweini hatte zwar ein 150 Quadratmeter großes Gehege mit einer Suhle und einer mit Stroh ausgepolsterten Hütte. Da das ehemalige Flaschenkind zahm wie ein Hund war, durfte es nach dem täglichen Spaziergang immer noch alleine herumstromern, bis der Hunger den 120-Kilo-Koloss nach Hause und in sein Gatter trieb. Aus Schweinis Sicht war ich die »Leitbache«, und so konnte ich ohne Leine mit dem Borstenvieh das Grundstück verlassen. In der Luft über mir ein Kolkrabe, der auf Zuruf herabtrudelte, um sich auf meinem Arm sitzend einen Futterbrocken abzuholen, irgendwo neben mir im hohen Gras das Wildschwein, das auf Pfiff mit einem tiefen Grunzer antwortete; so erkundete ich meine neue Umgebung.

Auf den Exkursionen durch das Isental konnte ich die Landschaft um meinen Wohnort im Verlauf der Jahreszeiten gut beobachten, da ich die gleichen Flächen immer wieder zu Gesicht bekam. Ich interessierte mich besonders für die Wiesen, schon weil ich als Kind so viel Zeit in diesem Lebensraum zugebracht hatte – nicht nur auf der großen Heuschreckenwiese im Wald.

Die Wiesen hier waren anders als die Wiesen meiner Kindheit. Zwar blühte es auf ihnen im Frühling üppig, und es roch herrlich nach Gras und Honig. Aber es gab kaum Heuschrecken und andere Insekten zwischen den Halmen, und es gaukelten nur wenige Schmetterlinge darüber. Irgendwie wirkten die meisten Wiesen in meiner Nachbarschaft wie ausgestorben. Warum, das würde ich in den folgenden Jahren ergründen.

Da unser Bauernhof einige Jahre leer gestanden hatte, wurden auch die dazugehörigen Flächen nicht bewirtschaftet. Das Haus ist zu allen Seiten von Grünland umgeben, und weil hier mehrere Jahre hindurch nicht gemäht worden war, lag eine verfilzte Schicht aus abgestorbenen Gräsern und anderen Pflanzen auf den Wiesen. An manchen Stellen wuchsen bereits kleine Bäumchen. So baten wir einen Landwirt aus der Nachbarschaft um Hilfe und begannen diese Flächen zu mähen. Ich stieß auf Unterlagen aus den 1980er Jahren, in denen die Pflanzenarten aufgelistet waren, die auf einer unserer Wiesen einstmals wuchsen. Sie waren vor vielen Jahren bei Untersuchungen für den Ausbau der Autobahn A94 durch das Isental angelegt worden. Und da staunte ich nicht schlecht: Lauter Gewächse waren da genannt, die ich als Raritäten kannte, wie das Scheidige Wollgras, und andere, von denen ich noch nie gehört hatte, etwa der höchst seltene Kriechende Scheiberich.

Ich nahm die Wiesen, die zu unserem Haus gehörten, daraufhin genauer unter die Lupe und stellte schnell fest, welche die – ökologisch betrachtet – wertvollste war. Es war eine Kohldistel-Fuchsschwanz-Wiese, benannt nach zwei charakteristischen Pflanzenarten feuchter, nährstoffreicher Böden: der bei Insekten überaus beliebten Kohldistel mit ihren bleichgelben Blütenständen und dem Wiesen-Fuchsschwanz, ein Gras, das leicht zu erkennen ist an seinen kompakten zylindrischen Ähren, die es in mehr als einem Meter Höhe über den anderen Gräsern und Blumen trägt und die eher zu dünn geratenen Zigarren ähneln als Fuchsschwänzen. In dieser Wiese gab es auch eine Menge bunte Farbtupfer wie den violett blühenden Wiesen-Storchschnabel, den Scharfen Hahnenfuß, den ich aus meiner Kindheit unter dem Namen Butterblume kannte, und die Kuckuckslichtnelke mit ihren fransigen, pinkfarbenen Blüten.

Die schönste Entdeckung aber war ein kleiner Bestand des Großen Wiesenknopfs. Eine hochwüchsige, aber unscheinbare Pflanze mit kugeligen, weinroten Blütenköpfchen, in denen dicht gedrängt viele kleine Einzelblüten sitzen. Einst dürften die Wiesen, die sich bei uns im Tal bis zum Horizont erstreckten, voller Wiesenknopf gewesen sein. Historische Fotografien und Erzählungen von Alteingesessenen berichten von diesen Wiesenlandschaften im Isental, in denen viele Paare des Großen Brachvogels brüteten, überall Kiebitze ihre Gelege hatten und unzählige Feldlerchen über ihren grasigen Revieren tirilierten. Auch das Braunkehlchen gehörte einst zu den häufigen Brutvögeln in den Wiesen jener Zeit. Mir war also bewusst, dass meine Wiesenknopfwiese etwas Besonderes war.

Die Bauern, die diese Wiese über so lange Zeit gepflegt hatten, als unser Hof noch bewirtschaftet wurde, waren sicher nicht darauf aus, Lebensräume für Schmetterlinge und Heuschrecken zu schaffen. Sie wollten Grünfutter und Heu für ihr Vieh ernten. Aber zu Zeiten, in denen es noch keinen Kunstdünger gab und nur gelegentlich der Mist aus dem Stall aufs Grünland gefahren wurde, ließen sich die Wiesen nur zweimal im Jahr abernten, also mähen. Mehr Pflanzenwachstum gaben die verfügbaren Nährstoffe im Boden nicht her. Außerdem war es nicht so leicht wie heute, eine Wiese zu drainieren, sodass wohl auch bei meiner Wiese oft erst gewartet werden musste, bis der Boden im Frühjahr trocken genug war. Dies alles führte dazu, dass die unterschiedlichen Gräser und Kräuter bis zum Schnittzeitpunkt nicht nur Blüten entwickeln konnten. Es gab genügend Insekten, um die Blüten zu bestäuben, aus denen sich vor dem Mahdtermin reife Samen entwickeln konnten. Beim Mähen und dem anschließenden Heuwenden fielen dann die Samen aus der trocknenden Pflanzenmasse heraus und blieben auf dem Wiesenboden liegen, wenn das trockene Heu abtransportiert wurde. Die nächste Generation von Gräsern und Kräutern war gesichert.

Obwohl es auf unserem Grund auch einen Weiher und ein paar Amphibientümpel gibt, am Rande ein galeriewaldbestandenes Bächlein plätschert und wir schon bald nach dem Einzug blühende Feldgehölze und einen Trockenhang für Eidechsen angelegt haben, ist die Feuchtwiese doch von Anfang an mein persönliches »Heiligtum« gewesen, die Fläche auf unserem Grund, der ich die meiste Aufmerksamkeit schenke, die ich hege und pflege. Sie liegt etwas tiefer als der umliegende Grund und saugt sich nach Regenfällen förmlich mit Wasser voll. Nach ergiebigen Niederschlägen bilden sich Pfützen, die manchmal wochenlang bestehen. Darin tummeln sich dann Ruderfußkrebschen, Wasserflöhe und sogar Köcherfliegenlarven. Das wiederum zieht Bekassinen und andere Schnepfenvögel an, die bei uns Rast machen und dann über Tage oder Wochen gerne in diesen Pfützen herumstochern, um sich den Bauch vollzuschlagen.

Sicher war diese Wiese für das kinderlose Landwirtsehepaar, das bis in die 1980er Jahre unseren kleinen Hof bewohnte, ein Ärgernis, weil zu nass und zu schwer zu bewirtschaften. Aus meiner Sicht allerdings sieht die Sache ganz anders aus: Wenn ich durch die knapp einen Hektar große Fläche streife, springen Heuschrecken in alle Richtungen davon. Überall sitzen kleine Zikaden, fliegen Wildbienen und Fliegen herum, es gibt Wanzen in den unterschiedlichsten Farben und viele bunte Tagfalter.

Unter ihnen fiel mir anfangs gleich ein Vertreter der Bläulinge auf, wenn auch kein ausgesprochen prächtiger. Die Flügelfarbe oberseits braunblau, unterseits eher grau, mit einer Reihe unscheinbarer Punkte. Es handelt sich um den »Dunklen Wiesenknopf-Ameisenbläuling«. Nicht gerade eine geschmeidige Wortkonstruktion, verglichen mit Namen wie »Admiral«, »Kaisermantel« oder »Segelfalter«. Aber hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich eine Schmetterlingsrarität, eine sogenannte Rote-Liste-Art. Obwohl der Bläuling einst zu den häufigsten Faltern überhaupt gehörte, zumindest hier im Isental.

Bereits im ersten Sommer, nachdem wir ins Isental gezogen waren, beobachtete ich mehrere Wiesenknopf-Ameisenbläulinge. Mir wurde klar, dass es sich um eine kleine Population handelte, die bei uns wie auf einer Insel überdauert hat. Ich erkundigte mich nach den Ansprüchen des Ameisenbläulings an seinen Lebensraum und machte mich mit seiner Biologie vertraut. Ich lernte, dass er zwingend an das Vorkommen des Großen Wiesenknopfs gebunden ist, also an die besagte hochwüchsige Pflanze mit den weinroten Blüten. Außerdem, so las ich, ist der Falter genauso zwingend auf einen Mitbewohner in der Feuchtwiese angewiesen: die Rote Knotenameise. Nur auf dem Wiesenknopf legt der Falter seine Eier ab, und für seine Raupen ist in den ersten Lebenstagen das Innere der Wiesenknopfblüten die alleinige Diät. Dann werden die winzigen, ebenfalls weinrot gefärbten Räupchen zu Killern. Sie seilen sich aus ihren Kinderstuben in schwindelnder Höhe ab und lassen sich auf den Wiesenboden fallen. Dort warten sie, bis sie von den Arbeiterinnen der Knotenameisen entdeckt werden. Sie leiten die Ameisen mit einer chemischen Tarnkappe in die Irre, gaukeln den Arbeiterinnen vor, sie seien ihr Nachwuchs.

Die Ameisen, für die so eine kleine Raupe normalerweise nicht mehr ist als ein Häppchen, tragen die wohlriechende Bläulingslarve in ihren Bau und deponieren sie in der Larvenkammer. Hier hat die Schmetterlingsraupe nun viel Zeit, um die Ameisenbrut aufzufressen und sich bis zum nächsten Frühjahr zu einem erwachsenen Ameisenbläuling zu entwickeln. Und das alles in meiner »heiligen Wiese«! Ich war von dem betrügerischen Verhalten und der komplizierten Biologie des Falters fasziniert und spürte auch die Verantwortung für dieses offensichtliche Relikt-Vorkommen auf unserem Grund. Ein Überbleibsel aus einer Zeit, als das Isental von Feuchtwiesen bedeckt war und Millionen von Dunklen Wiesenknopf-Ameisenbläulingen nebst vielen anderen, heute zu Raritäten gewordenen Schmetterlingsarten die Luft bevölkerten.

Der Wiesenknopf-Ameisenbläuling sollte für mich in den kommenden Jahren eine ganz besondere Rolle spielen, und meine Frau und ich würden Dinge für ihn tun, die man normalerweise nicht für einen kleinen Schmetterling und eine unrentable, feuchte Wiese tut.