Über dieses Buch

Bekannt und geachtet ist Helmut Kohl als Kanzler der deutschen Einheit. Doch sie ist nicht Kohls einziges Verdienst. Henning Köhler zeigt, dass die Deutschen mit ihm gleich in mehrfacher Hinsicht eine Wende erlebten. Die erste, bereits 1982 von Medien und Opposition verspottet, half, die Wirtschaftskrise zu überwinden und die Nachrüstung durchzusetzen. Fest davon überzeugt, das historisch Richtige zu tun, hielt er an der Einheit der Nation auch dann fest, als dies nicht dem Zeitgeist entsprach. Seine Überzeugung und der von ihm souverän genutzte weltpolitische Umbruch ermöglichten »die Wende« – die deutsche Einheit, die über einen schwierigen, aber zäh durchgehaltenen Weg auch zur wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands führte.

Eine Wende brachte Kohl schließlich auch Europa – indem er maßgeblich an der Einführung von Binnenmarkt und Währungsunion mitwirkte.

Früh schlug Helmut Kohl aus Medien und Opposition Kritik entgegen. Sie und die Spendenaffäre am Ende seiner Amtszeit prägen noch heute das Bild des Altkanzlers in der Öffentlichkeit. Zeit für eine Gesamtbewertung dieses Lebenswerks. Detailliert und kenntnisreich zeichnet Henning Köhler Helmut Kohls Leben für die Politik nach – eine umfassende politische Biografie.

Über den Autor

Henning Köhler war bis 2003 Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und wurde u. a. durch seine Arbeiten ADENAUER. EINE POLITISCHE BIOGRAFIE (1994) und DEUTSCHLAND AUF DEM WEG ZU SICH SELBST. EINE JAHRHUNDERTGESCHICHTE (2002) einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Gastprofessuren führten ihn 1981/82 an die Stanford University und 1987/88 sowie 1996/97 an das Institute for Advanced Study in Princeton. Köhler ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er lebt in Berlin-Lichterfelde.

HENNING KÖHLER

Helmut Kohl

Ein Leben für die Politik

DIE BIOGRAFIE

BASTEI ENTERTAINMENT

INHALT

  1. Vorwort
  2. I. Die Anfänge 1945–1958
    1. »Ohne geistige Enge« – das Elternhaus
    2. Eine politische Schuljugend 1945–1950
      1. Eintritt in die Junge Union
    3. Der »junge Kohl« – die Fünfzigerjahre
      1. Aufstieg im Landesverband
      2. Geschichte statt Politik
      3. Abgeordneter im Mainzer Landtag
      4. Familiengründung
  3. II. Die Modernisierung von Rheinland-Pfalz 1959–1969
    1. Blitzstart in verkrustetem Gelände
      1. Networking nach allen Seiten
    2. Der Fraktionsvorsitz als Machtbasis
      1. Das Team entsteht
      2. Dauerbrenner Bekenntnisschule
    3. Die Wachablösung
      1. Ein Kraftakt – die Verwaltungsreform
    4. Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz
      1. Die Achtundsechziger und das Hochschulgesetz
      2. Regierungsalltag und Glanzlichter
      3. Lebensmittelpunkt Rheinland-Pfalz
  4. III. Politik auf Bundesebene 1962–1972
    1. Der Reformer im Bundesvorstand
    2. Gegen Große Koalition und Mehrheitswahlrecht
    3. Nach dem Machtverlust: Wer wird Parteivorsitzender?
    4. Kohl und die sozialliberale Ostpolitik
  5. IV. Zehn harte Jahre: Parteivorsitzender – Kanzlerkandidat – Oppositionsführer 1973–1982
    1. Der neue Parteivorsitzende und sein Generalsekretär
    2. Die Reaktion auf den Rücktritt Willy Brandts
    3. Das Ringen um die Kanzlerkandidatur
    4. Das Wahljahr 1976
      1. Der Warschauer Vertrag
      2. Der Wahlkampf kommt in die heiße Phase
      3. Getrennte Schwestern? – Der CSU-Beschluss in Wildbad Kreuth
    5. Die Kärrnerarbeit als Oppositionsführer 1976–1979
      1. Der Terror der RAF
      2. Geißler und der CDU-Bundesparteitag in Ludwigshafen
    6. Die bitterste Niederlage
      1. Das Memorandum des Kurt Biedenkopf
      2. Der Verzicht auf die Kanzlerkandidatur 1979
      3. Wahlkampf für Franz Josef Strauß
      4. Die sozialliberale Koalition wankt – Genschers »Wende-Brief« und die Folgen
      5. Auf ein Neues: Die Frage der Kanzlerkandidatur
    7. Die Wende – Kohl wird Kanzler
      1. Kabinett und Kanzleramt
      2. Die erste Regierungserklärung
      3. Bestätigung – die Bundestagswahl 1983
  6. V. Die Ära Kohl (I) 1982–1990
    1. Die großen Herausforderungen: Wirtschaftliche Konsolidierung und Nachrüstung
      1. Der Kampf gegen die Rezession
      2. Die Nachrüstung wird durchgesetzt
    2. Turbulenzen
      1. Der Milliardenkredit an die DDR
      2. Der Israel-Besuch im Januar 1984
      3. Die Wörner-Kießling-Affäre
    3. Ein Gegner im höchsten Staatsamt – Richard von Weizsäcker wird Bundespräsident
    4. Die Flick-Spendenaffäre
      1. Stühlerücken – die personalpolitischen Konsequenzen
    5. Das außenpolitische Szenario
      1. Die USA und Ronald Reagan
      2. Der französische Nachbar – François Mitterrand
    6. Versöhnung über Gräbern: Von der Normandie nach Bitburg
    7. Deutschland von innen
      1. 40 Jahre Kriegsende – der 8. Mai 1985
    8. Das erste Kanzlertief 1985
      1. Geschichtspolitik und Geschichtsmuseen – Politik für die deutsche Einheit
    9. Die Bundestagswahl 1987 – ein unerwartetes Ergebnis
      1. Der schwierige Neustart der Koalition
      2. Der Streit um die Abrüstung
    10. Deutschlandpolitik auf verschiedenen Bühnen
      1. Die 750-Jahr-Feier Berlins 1987
      2. Erich Honecker auf Deutschland-Besuch
    11. Die Spannungen nehmen zu – Ärger mit Reformen und andere Stolpersteine
      1. Die Steuerreform
      2. Der Kampf gegen Heiner Geißler
      3. Ein Kanzler im Sinkflug
    12. Die Wiedervereinigung
      1. Die Mauer fällt
    13. Das Zehn-Punkte-Programm
      1. Weichenstellungen im Januar 1990
    14. Der Kanzler im Kreml
    15. Von der »Allianz für Deutschland« zum Sieg bei der Volkskammerwahl
    16. Kohl in Camp David und die polnische Westgrenze
    17. Finale im Kaukasus
    18. Der Einheit entgegen
  7. VI. Die Ära Kohl (II) 1990–1998
    1. Die Mühen der Ebene
      1. Zum Auftakt noch einmal Erfolg: die Bundestagswahl 1990
    2. Die Hauptstadtfrage
    3. Absturz – mit einem Hoffnungszeichen
      1. Erfolgreiche Integration der Nationalen Volksarmee
      2. Personalpolitische Probleme
    4. Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik
    5. Stühlerücken – Veränderungen in Kabinett und Kanzleramt
      1. Deutsche Befindlichkeiten
    6. Im Vorfeld der Bundestagswahl 1994
      1. Gestärkt in den Wahlkampf – der Hamburger Parteitag
      2. Stimmungsbarometer Landes- und Europawahlen
    7. Der Vertrag von Maastricht
    8. Erfüllung in der Außenpolitik: Der ehrliche Makler
      1. »Hilfreich, aber nicht federführend«
    9. Ein knapper Sieg
    10. Der Weg in die Niederlage
    11. Die Ächtung durch die Spendenaffäre
    12. Die persönliche Katastrophe
  8. Ein Leben für die Politik
  9. Anhang

VORWORT

Helmut Kohls Lebensweg ist von Gradlinigkeit bestimmt. An einmal für richtig erkannten Zielen hielt er unerschütterlich fest, auch wenn der Zeitgeist inzwischen neue Prioritäten gesetzt hatte. Die Einheit der Nation stellte er nie infrage, mochten die Medien auch immer nachdrücklicher ihre Aufgabe empfehlen. Aber er hatte nicht nur dieses eine, im Grunde nationale Ziel. Für ihn stellte Europa zugleich die zweite große Herausforderung dar, die für ihn untrennbar mit der Wiedervereinigung verbunden war. Das waren, wie er immer wieder betonte, die zweiten Seiten einer Medaille. Nur diese doppelte Zielsetzung machte es möglich, mit dem Fall der Mauer die einmalige Chance in Deutschland und Europa erfolgreich zu nutzen.

Die vielleicht größte Leistung Helmut Kohls ist im Grunde gar nicht darstellbar. Sie besteht in dem unablässigen Bemühen um den deutschen Einigungsprozess. Der Kanzler wusste, dass das Zeitfenster knapp bemessen war und schnelle Lösungen notwendig machte. Als Regierungschef musste er dabei die internationale wie die nationale Seite stets im Auge haben und dafür Sorge tragen, dass die komplizierten innerdeutschen Entscheidungen rechtzeitig erfolgten. Das ist ihm in einzigartiger Weise gelungen.

Helmut Kohls Ringen um Lösungen auf der europäischen Ebene waren wichtige Schritte auf dem Weg zur politischen Union Europas, die alle Mühen und Zugeständnisse aufwogen. Er wollte unbedingt diese Union erreichen, ja, er musste sie aus seiner Sicht erreichen, sollte in Europa der Frieden erhalten bleiben.

Helmut Kohl ist lange unterschätzt worden. Schon am 16. Mai 1967 schrieb die »Frankfurter Rundschau«: »Helmut Kohls Stern beginnt zu verblassen.« Und richtig – ist man versucht zu sagen –, kaum waren drei Jahrzehnte vergangen, sollte er seine erste Wahl verlieren und wegen einer Spendenaffäre der Verdammung anheimfallen. An Fehlurteilen über diesen Kanzler ist kein Mangel. Was die Medien in mehr als dreißig Jahren an Bildern und Zerrbildern vermittelt haben, ist kaum zu überblicken. Dennoch wird hier der Versuch unternommen, das Leben des Staatsmannes Helmut Kohl aus historischer Sicht und nicht aus der Zeitgenossenperspektive darzustellen.

Die Aktenpublikation des Kanzleramts zur deutschen Einheit gibt wertvolle Einblicke in die Politik des Kanzlers während des »deutschen Jahres«, auch wenn manche Stücke vermisst werden. Mitunter ist auch die bewährte, mittlerweile etwas vernachlässigte Methode der Quellenkritik heranzuziehen, um die Überlieferungen richtig einordnen zu können, da die Bekundungen der Akteure mit anderen Zeugnissen nicht immer übereinstimmen. Das zeigt zum Beispiel die Entstehungsgeschichte des Zehn-Punkte-Programms. Der Historiker pflegt gemeinhin auf schriftliche Quellen zu vertrauen. Im Zeitalter von Telefon und Computer werden Entscheidungen aber oft nicht mehr auf eine Weise dokumentiert, dass sie schließlich im Archiv landen können. Zudem gibt es dort feste Sperrfristen. Deshalb gestaltete sich die Quellensuche für dieses Buch nicht ganz einfach. Die Auswertung der Presse und das Befragen von Zeitzeugen waren wichtige Bestandteile der Arbeit.

Auf zentrale Aktenbestände oder wichtige Nachlässe in staatlichen Archiven konnte nicht zurückgegriffen werden. Die Protokolle der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die erstmals systematisch ausgewertet wurden, bilden eine rühmliche, außerordentlich wichtige Ausnahme. So ist umfangreiches Material erschlossen worden, das vermuten lässt, dass neue, später zugängliche Quellen kaum wesentliche Veränderungen des hier gezeichneten Bildes herbeiführen werden.

Helmut Kohls Leben für die Politik fand – mit der Spendenaffäre als in Erinnerung bleibendem Schlusspunkt – ein Ende, das er nicht verdient hat. Eine kritische, aber um Objektivität bemühte Geschichtsschreibung sollte bestrebt sein, die Politik dieses Kanzlers zu erforschen und das allgegenwärtige, von den zeitgenössischen Medien gezeichnete Bild zu hinterfragen. Um nichts anderes habe ich mich in den vergangenen Jahren beim Schreiben dieses Buches bemüht.

Berlin, im Sommer 2014

Henning Köhler

I.
DIE ANFÄNGE 1945–1958

Als die Besatzungsmächte 1945 durch eine Neugliederung die Grenzen des Landes Rheinland-Pfalz festlegten, wurden Gebiete zusammengebracht, die nie zueinander gehört hatten. Das Ergebnis wurde denn auch abschätzig als »Kunstgebilde«, als »Land aus der Retorte« bezeichnet. Das neue Land Rheinland-Pfalz brauchte Jahrzehnte, bis seine Bürger sich endgültig mit ihm identifiziert hatten. Den Westmächten war es bei der Aufteilung in erster Linie darum gegangen, dem französischen Partner eine Besatzungszone abzutreten, die möglichst nur Gebiete umfassen sollte, die wie Eifel, Hunsrück und Westerwald wirtschaftlich nicht besonders ertragreich waren. Das neue Rheinland-Pfalz war ein armes Land mit wenig Industrie, zudem schlecht erschlossen.

Nach der Festlegung der Besatzungszonen hatte der Norden des heutigen Rheinland-Pfalz – die Regierungsbezirke Koblenz und Trier –, der zu der ehemaligen preußischen Rheinprovinz gehört hatte, mit dem wirtschaftlich starken Nordrhein-Westfalen geliebäugelt. In Rheinhessen hätte man sich eine Vereinigung mit dem von den Amerikanern geschaffenen Land Hessen gut vorstellen können, und in der ehemals bayerischen Pfalz, vor allem in deren Süden, gab es Tendenzen, sich über den Rhein nach Baden zu orientieren – schließlich waren Heidelberg und später Mannheim für Jahrhunderte die Residenz der Kurfürsten von der Pfalz gewesen.

Bereits im Jahre 1815 war auf dem Wiener Kongress eine Neugliederung im Westen beschlossen worden, die auf historisch gewachsene Strukturen keine Rücksicht genommen hatte. Unter dem frischen Eindruck der napoleonischen Kriege galt es, eine Abwehr gegen künftige französische Angriffe zu organisieren. Preußen musste widerwillig – es hätte lieber Sachsen annektiert – weite Teile des Rheinlandes als Eckpfeiler der Verteidigung übernehmen. Mainz, das älteste deutsche Erzbistum, verlor den Rang als Erzdiözese und wurde zur Festung des Deutschen Bundes degradiert. Der größte Teil der Pfalz wurde Bayern zugeschlagen, um auch diesen Staat am Rhein zu engagieren. Die hier geschaffene Ordnung hatte weit über hundert Jahre Bestand gehabt. Die Bewohner hatten sich an die bestehende Verwaltungsgliederung gewöhnt. Zudem hatte die Industrialisierung Veränderungen bewirkt, auf die man nicht leichtfertig verzichten wollte. Kein Wunder, dass viele Bewohner im Jahr 1945 im neuen Land Rheinland-Pfalz mehr Nachteile als Vorteile erkennen konnten. Damals war nicht abzusehen, dass die Pfalz einmal zum Kraftzentrum des Landes würde und seine Bürger sich gar nicht mehr vorstellen könnten, dass ihr Land einmal als »Kunstgebilde« gering geschätzt worden war.

Helmut Kohl ist in die Geschichte dieses Landes seit seiner Gründung, seit dem politischen Neuanfang nach 1945 einbezogen. Die Schwäche des Landes, das so viele Gegner in den eigenen Reihen hatte, kam ihm zugute. Für ihn war Rheinland-Pfalz der gegebene Rahmen für den ersten Abschnitt seines politischen Wirkens, nie aber Selbstzweck. Als Pfälzer besaß er ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein, das bestimmt war von der Erinnerung an die Pfalz als dem Kernland des Reiches, das durch die Kaiserdome und den Trifels machtvoll in die Gegenwart hineinragte, aber auch an die Gefährdung als Grenzland, an die Burg- und Schlossruinen überall erinnern.

»Ohne geistige Enge« – das Elternhaus

Als drittes Kind des Ludwigshafener Finanzbeamten Hans Kohl wurde Helmut Kohl am 3. April 1930 in Friesenheim geboren,1 einem einstigen Dorf auf dem westlichen Rheinufer, das schon vor der Jahrhundertwende von der rasant wachsenden Chemiemetropole Ludwigshafen eingemeindet worden war. Hans Kohl war kein Pfälzer; er stammte aus Franken, aus einer kinderreichen Bauernfamilie in Greußenheim in der Nähe von Würzburg. In seiner Jugend hatte der für Bauern schlimmste Schicksalsschlag seine Familie getroffen: Der Bauernhof brannte ab, und sie stürzte ins Elend. Der Junge wurde bei einem Müller untergebracht und entschloss sich später, zum Militär zu gehen. Das bedeutete damals den Eintritt in die bayerische Armee, denn nach der Verfassung von 1871 gehörte das Heerwesen in Friedenszeiten zu den Belangen der Einzelstaaten. Hans Kohls Regiment lag in Landau in der bayerischen Pfalz.

Der Militärdienst stellte im Kaiserreich eine oft genutzte Chance zum sozialen Aufstieg dar und half zugleich, die trostlose Existenz des Fabrikarbeiters zu vermeiden. Nicht die Liebe zum Kriegshandwerk war für Leute wie Hans Kohl ausschlaggebend, wenn sie Soldat wurden. Der Dienst im bunten Rock eröffnete einem armen Bauernsohn wie ihm eine durchaus attraktive Möglichkeit. Nach Beendigung der aktiven Dienstzeit und bei entsprechender Eignung war nämlich die Übernahme als Beamter möglich. Angesichts des hohen Sozialprestiges als Staatsdiener war dies eine interessante Perspektive. Für Hans Kohl sollte sie sich auch bewahrheiten: Er bewährte sich im Ersten Weltkrieg, wurde zum Leutnant befördert und am Ende als Oberleutnant verabschiedet.

Hier zeigt sich eine überraschende Parallele zu Konrad Adenauer. Auch dessen Vater war Berufssoldat und wurde nach dem Krieg gegen Österreich 1867 zum Leutnant befördert. Nach seiner Entlassung wurde er in die mittlere Beamtenlaufbahn übernommen. Es gibt nur einen kleinen, aber bezeichnenden Unterschied: Adenauers Vater konnte damals noch zum Offizier ernannt werden, nachdem er sich bis zum Feldwebel hochgedient hatte. Im Ersten Weltkrieg, zu Hans Kohls Zeiten, wäre eine solche Beförderung in Preußen nicht mehr möglich gewesen – es kam nur noch die Ernennung zum Feldwebelleutnant infrage. Und dies war eine Zwitterstelle, denn ein solcher übte zwar die Funktion eines Leutnants aus, blieb aber im Unteroffiziersstand mit der entsprechenden Uniform, war also kein »richtiger« Offizier. Dagegen betrieb die bayerische Armee keine solch verkrustete konservative Personalpolitik wie die preußische, mit der man vermeiden wollte, dass es nach dem Krieg zu viele Offiziere gab, die nicht als »standesgemäß« galten. In Bayern wurde militärische Führungsqualität mit der Beförderung zum Offizier belohnt.

Nach dem Krieg trat Hans Kohl seinen Dienst in der Finanzverwaltung an, er wurde Sekretär und schließlich Steuerobersekretär. Mehr Beförderungsmöglichkeiten gab es damals nicht, eine Übernahme in die höhere Laufbahn war im Bereich der Finanzverwaltung nicht möglich. Diese Undurchlässigkeit muss die Kritik Hans Kohls hervorgerufen haben. Nicht nur mit Kollegen, sondern auch zu Hause wird er darüber diskutiert haben. Und sein Sohn Helmut lernte viel aus diesen Gesprächen. Schon als Fraktionsvorsitzender, ohne jemals im Öffentlichen Dienst tätig gewesen zu sein, erwies sich dieser als gewiefter Beamtenpolitiker, der sich wiederholt für die pflegliche Behandlung der Beamtenschaft einsetzte und darüber hinaus stets die Bedeutung des »Stellenkegels« hervorhob. Das hieß nichts anderes als eine Auflockerung des Stellenplans. Nach Helmut Kohls Ansicht sollte es in einer Behörde nicht länger nur wenige höhere Beamte und eine große Zahl von mittleren Beamten mit geringen Beförderungschancen geben. Stattdessen sollten bei entsprechender Leistung mehr Beförderungen möglich sein, die Aussichten eröffneten, eine Stufenleiter erklimmen zu können. Die Vorstellungen sind seit den Siebzigerjahren verwirklicht – zwanzig Jahre zuvor waren sie noch heftig umstritten gewesen.

Eine andere Möglichkeit, sich hochzuarbeiten, praktizierte sein Großvater – den Aufstieg durch Bildung, durch den Beruf des Volksschullehrers. Kohls Mutter Cäcilie war eine geborene Schnur. Ihr Vater Josef kam aus dem Hunsrück und hatte in Trier die Präparandenanstalt besucht. So hieß damals die Institution, die Volksschullehrer ausbildete – noch nicht pädagogische Akademie oder pädagogische Hochschule. Um in die Präparandenanstalt aufgenommen zu werden, musste man lediglich die achtjährige Volksschule absolviert haben. Die Ausbildung dauerte vier Jahre; danach kamen die Absolventen in der Regel als Gehilfen in den Schuldienst.

Die Lehrerbesoldung war keineswegs einheitlich. Das Schulwesen lag in der Zuständigkeit der Kommunen, und da diese damals noch über eigene Steuerquellen verfügten, konnten sie die Lehrergehälter – wie übrigens auch die ihrer Beamten – selbst festsetzen. Eine Stadt, die Wert auf gute Schulen legte, konnte dieses Ziel erreichen, indem sie durch bessere Bezahlung Lehrer von anderen Städten oder Gemeinden abwarb. In den Dörfern, die im Einzugsbereich schnell wachsender Großstädte lagen, boten sich für tüchtige Lehrer besonders gute Chancen. Die Einwohnerzahl stieg, die Schulen mussten vergrößert werden. Der Gemeinderat stand vor vielen Problemen, die erörtert und gelöst werden mussten. Da die Gemeindeverwaltung erst in Ansätzen existierte, nahmen vielerorts die Lehrer eine wichtige Rolle als Ratgeber und auch Vermittler ein. Sie waren Respektspersonen, deren Urteil etwas galt.

In dieser Stellung muss man sich den Großvater Josef Schnur vorstellen. Er kam aus der preußischen Rheinprovinz in das Dorf bei Ludwigshafen, das schon wenige Jahre später, 1892, dorthin eingemeindet wurde. Als Rektor der Volksschule gelangte er in die für ihn erreichbare Spitzenposition. Er leitete zudem den Kirchenchor und war allseits als führende Persönlichkeit in Friesenheim anerkannt. Noch 1970 – vierzig Jahre nach seinem Tod – war die Kirche voll, als die Seelenmesse für ihn gelesen wurde, weil er seinen Schülern im Gedächtnis geblieben war. Zum Beispiel pflegte er mit der achten, der Abschlussklasse, zwei Wanderungen durchzuführen: die eine nach Worms, die andere nach Speyer. Mit der Bahn fuhr die Klasse hin, und zu Fuß ging es nach Besichtigung der Dome wieder zurück. Das war ein Bildungserlebnis und zugleich eine Gemeinschaftserfahrung, die haften blieben. Noch 1969, als Helmut Kohl zum rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten gewählt worden war, sagte ein SPD-Abgeordneter zu ihm, auch er habe ihm seine Stimme gegeben, allerdings keineswegs aus Zustimmung zu seiner Politik, sondern in Erinnerung an seinen Großvater. Eine späte, aber desto erstaunlichere Anerkennung für den Rektor Schnur.2 In der Schule eine Autorität, zudem außerordentlich musisch begabt und auf vielen anderen Gebieten geübt, war es Josef Schnur nicht schwergefallen, eine Frau zu finden. Er heiratete eine Bauerntochter aus Friesenheim, die ein Grundstück und eine stattliche Mitgift in die Ehe brachte, sodass ein geräumiges Haus mit sieben Zimmern gebaut werden konnte. Ein großer Garten mit über vierzig Obstbäumen, Bienenzucht und Kleintierhaltung kamen hinzu.

Die Tochter Cäcilie hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg Hans Kohl kennengelernt. Aber erst 1920 wurde geheiratet. 1922 wurde die Tochter Hildegard geboren, 1926 der Sohn Walter, und am 3. April 1930 kam Helmut zur Welt. Seinen Großvater hat dieser nicht mehr kennengelernt. Cäcilie und Hans Kohl zogen mit ihren Kindern in das Haus des Großvaters ein. Damit war die Lebenshaltung im Grunde festgelegt. Der Garten spielte eine wichtige Rolle, seine Pflege und die übrigen Aufgaben bis hin zur Futtersuche für die Kaninchen erforderte von allen disziplinierte Mitarbeit. Die Feststellung, Helmut Kohls Zuhause sei »ein typischer kleiner Beamtenhaushalt, also wie Millionen anderer«3 gewesen, trifft daher nicht zu. Abgesehen von der Schreckensvorstellung, dass es damals schon Millionen von Beamten gegeben haben könnte, war es gerade kein typischer Beamtenhaushalt, denn das geräumige Haus schuf eine Behaglichkeit des Wohnens, die viele, selbst höhere Beamte in ihren Wohnungen vermissen mussten. Der große Garten machte zwar zu seiner Erhaltung und Pflege jene »Sekundärtugenden« wie Fleiß und Zuverlässigkeit notwendig, die Jahrzehnte später seit den Studentenunruhen von manchen verächtlich gemacht wurden, aber er bot deutliche materielle Vorzüge: Da die Lebensmittelpreise in Deutschland damals hoch waren, senkten die Erzeugnisse des Gartens die Lebenshaltungskosten. Ein Teil der Früchte wurde für den Winter eingeweckt.

Seine Mutter Cäcilie, die Tochter des Rektors Schnur, verdient besondere Aufmerksamkeit. Sie war eine Hausfrau im besten Sinne des Wortes, eine Frau, die unermüdlich tätig war, um Haus und Garten in Schuss zu halten. Aber sie war keine Nur-Hausfrau. Sie nahm regen Anteil an dem, was in der Nachbarschaft, der Kirchengemeinde, der Stadt, aber auch in der Politik vorging. Um sie herum entstand ein vorpolitisches Netzwerk, das aber schon in den politischen Raum hineinreichte. Sie war eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Ihr Sohn charakterisiert sie als »eine großartige Frau, die mit großer Güte und zugleich mit Autorität und Entschiedenheit für ihre Familie gelebt und gewirkt hat«. Sie sei das eigentliche Zentrum der Familie gewesen: »Klug, intelligent, musisch sehr begabt und eine treue, praktizierende katholische Christin, war ihr jede geistige Enge fremd«4, auch in konfessioneller Hinsicht. So habe sie, berichtet Kohl, im Radio die evangelischen Gottesdienste bevorzugt, weil »in ihnen gründlicher, tiefer und besser gepredigt« wurde.5

Das politische Klima im Elternhaus Helmut Kohls suchte seinesgleichen. Die Eltern waren katholisch, aber ohne klerikale Begrenztheit, und zugleich waren beide politisch interessierte Anhänger der Zentrumspartei. Beim Vater ist eine mehr national gefärbte Haltung festzustellen, die sich auch aus seiner Soldatenzeit herleitet. An der Ablehnung Hitlers und des Nationalsozialismus besteht kein Zweifel. Die feste katholische Einbindung hatte die Eltern immun gemacht. Vater Kohl trat selbst aus dem »Stahlhelm« aus, nachdem dieser im Sommer 1933 gleichgeschaltet worden war. Gegenüber den Kindern waren die Eltern mit politischen Äußerungen zurückhaltend – das verstand sich in einer Diktatur ganz von selbst. Aus aufgeschnappten Bemerkungen kannten Helmut und seine Geschwister jedoch die Grundeinstellung der Eltern, ohne dass diese ihnen erklärt worden war.

Helmut Kohl verlebte in Friesenheim eine glückliche Kindheit. In den Ferien besuchte man die fränkische Verwandtschaft, wie überhaupt der Kontakt dorthin nicht abriss. Wenn er Jahrzehnte später in der Gegend Versammlungen abhielt, erschien eine zahlreiche Verwandtschaft, um ihn zu begrüßen.6

Mit dem Krieg und den sich mehrenden Bombenangriffen änderte sich das Leben grundlegend. Helmut Kohls Vater hatte kurz vor Ausbruch des Krieges ein ungewöhnliches Maß an Weitsicht gezeigt. Er kaufte für alle Familienmitglieder neue Fahrräder und dazu eine Ersatzbereifung. Außerdem ließ er im Garten eine Pumpe bohren. Ob er schon damals überzeugt war, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, ist nicht sicher. Auf jeden Fall sah er eine längere Kriegsdauer voraus mit ähnlichen oder noch schlimmeren Versorgungsmängeln als im Ersten Weltkrieg. Bevor die Kriegsbewirtschaftung einsetzte, hatte er vorgesorgt, denn Fahrräder wurden rasch zu Mangelware. Doch nicht nur der schnelle Entschluss zum Kauf ist bemerkenswert. Höher einzuschätzen ist das finanzielle Engagement. Fünf neue Fahrräder entsprachen mehreren Monatsgehältern; es war also eine erhebliche Summe, die Hans Kohl bezahlte. Es gab gewiss Menschen, die trotz aller Propaganda skeptisch in die Zukunft schauten, aber mit Sicherheit nur sehr wenige, die aus dieser mangelnden Zuversicht heraus Konsequenzen zogen, etwa in der richtigen Einschätzung, dass Fahrräder im Kriegsalltag ungeheuer wichtig waren.

Vater Kohl selbst wurde bei Kriegsausbruch sofort als Oberleutnant eingezogen und war in Polen und Frankreich stationiert. In Polen erlangte er so viel Kenntnis von den dort verübten Verbrechen, dass ihm vor der Zukunft grauste. 1943 wurde er aus Gesundheitsgründen aus der Wehrmacht entlassen. Nur wegen des drückenden Offiziersmangels hatte er – Jahrgang 1887 – so lange dienen müssen. Für ihn schien der Krieg zu Ende zu sein. Ein Jahr später traf die Familie ein schwerer Schlag. Walter, der ältere Bruder, fiel im November 1944 in Westfalen einem Tieffliegerangriff zum Opfer. Die Nachricht löste bei Helmut eine schwere Erschütterung aus. Hatte sich Walter doch mit den Worten vom Bruder verabschiedet: »Pass auf dich auf, ich komme nicht wieder. Und kümmere dich vor allem um Mama.«7

Die Situation in Ludwigshafen wurde bald unhaltbar. Als ein wichtiges Zentrum der chemischen Industrie und damit der Kriegswirtschaft war die Stadt das Ziel schwerer Bombenangriffe. Die Schulen schlossen 1944. Die älteren Schüler wurden zum Arbeitsdienst oder gleich zur Wehrmacht eingezogen, die Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen taten Dienst als Flakhelfer. Die Jüngeren wurden am Gymnasium in Speyer provisorisch unterrichtet. Ende des Jahres wurde Helmut Kohl mit seinen Mitschülern nach Berchtesgaden verfrachtet. Neben eher kümmerlichem Schulunterricht erhielten sie eine vormilitärische Ausbildung und mussten schanzen, und das bei zunehmend schlechterer Ernährung. Eine Unterbrechung des stumpfsinnigen Alltags boten nur die Fahrten auf dem Lkw nach München, wo sie Materialien aus Parteidienststellen abzuholen hatten. Das Wichtigste bei diesen Fahrten war der Stopp am Bahnhof in Rosenheim. Dort konnten sie eine Zusatzration Wurst und Brot fassen. Das Gefühl, einmal satt geworden zu sein, war aber nur die angenehme Seite. Im Frühjahr 1945 wurden solche Fahrten gefährlich. Bei einem Tieffliegerangriff auf der Autobahn lernte der junge Helmut Kohl Todesangst kennen.

Das Kriegsende in Berchtesgaden vermittelte ihm den denkbar gründlichsten Anschauungsunterricht über das Ende des Dritten Reiches. Ein schwerer britischer Bombenangriff, der auch den Berghof des »Führers« in Schutt und Asche legte, das sich ausbreitende Chaos, verursacht durch die in die angebliche Alpenfestung drängenden Dienststellen und Truppenteile, und der Terror der fliegenden SS-Standgerichte boten ein Untergangsszenario, das haften blieb. In dieser Situation, als fast alles zusammenbrach, funktionierte aber noch eines: die Post. Sie überbrachte Kohl eine Geldüberweisung über 1000 Reichsmark. Das war damals noch eine Menge Geld, da die Preise eingefroren waren. Wieder hatte sein Vater Weitsicht gezeigt. In dem Durcheinander des Kriegsendes konnte Geld – und zwar viel Geld – eine große Hilfe sein, um überhaupt etwas Essbares oder eine Fahrgelegenheit zu ergattern oder um sich aus einer heiklen Situation herauszuwinden. Was waren schon 1000 Mark, wird sich der Vater gesagt haben, wenn ich dafür dem letzten Sohn eine Überlebenschance verschaffe! Auf Helmut aber hatten das viele Geld und die elterliche Mahnung »Pass auf dich auf!« eine Wirkung wie ein »Donnerschlag«, denn es schien ihm wie »ein Abschied auf immer zu sein«.8 Auf eigene Faust schlug er sich mit Gefährten durch Bayern, Württemberg und Baden in Richtung Heimat durch.

Es war eine Irrfahrt, die wochenlang dauerte. Endlich am Rhein in Mannheim angekommen, hatte die Zeit der Prüfungen noch kein Ende. Mannheim war amerikanische, Ludwigshafen französische Zone. Der amerikanische Posten ließ sie auf ihre flehentlichen Bitten auf die Behelfsbrücke, das französische Gegenüber ließ sich jedoch nicht erweichen und schickte sie zurück. Erst am nächsten Morgen konnten sie nach Entlausung und mit Passierschein auf das westliche Rheinufer überwechseln. Als Helmut Kohl im Juni 1945 endlich zu Hause anlangte, wollte er als Erstes ein Glas Pfirsiche verspeisen – ein Symbol für die lang vermisste Heimat.

Kohl selbst schildert seine Erlebnisse bei Kriegsende eher zurückhaltend. Er überschreibt das Kapitel »Gezeichnet«. Sein Bericht vermittelt keinerlei Begeisterung für das Militär. Den Tränen war er oft näher als durchaus verständlichen Trotz- und Protestreaktionen. Die Zeit von den Aufräumarbeiten nach den Luftangriffen, als er als Mitglied eines Schülerlöschtrupps zum ersten Mal mit Tod und Zerstörung konfrontiert war, der Tod seines Bruders und schließlich die Schrecken des Kriegsendes in Berchtesgaden haben bei diesem gerade fünfzehn Jahre alt gewordenen Jungen tiefe Spuren hinterlassen. Es überzeugt, wenn er rückblickend feststellt, die Lehre aus den damaligen Erfahrungen könne er mit den Worten »Sehnsucht nach Frieden und Freiheit«9 umschreiben.

Helmut Kohls politisches Leben sollte Zeugnis davon ablegen, dass diese Maxime für ihn stets die Leitlinie gewesen ist. Ohne Zweifel hatten viele Menschen im Krieg Schlimmeres erlebt; sie mögen diese Erlebnisse aber verdrängt oder ihnen sogar positive Seiten abgewonnen haben. Kohl dagegen hatte den Krieg als eine Grenzerfahrung erlebt, die ihn nicht wieder losließ. Jedenfalls hatten für ihn die Worte »Nie wieder Krieg!« nicht die Bedeutung eines propagandistischen Schlagwortes, sondern waren Ausdruck seiner tiefsten Überzeugung.

Eine politische Schuljugend 1945–1950

Kohls Schulzeit zerfällt in zwei deutlich voneinander unterschiedene Teile. Der erste umfasst die Volksschulzeit und seit Ostern 1940 die ersten Jahre auf der Friesenheimer Oberrealschule, bis die Schule wegen des Bombenkriegs geschlossen wurde. Nach Kriegsende dauerte es einige Zeit, bis die Schulen halbwegs wieder hergerichtet waren und der Schulbetrieb erneut aufgenommen werden konnte. Im August 1945 nahm Helmut Kohl eine Auszeit und begann eine landwirtschaftliche Lehre in Düllstadt, einem Ort in der Nähe von Kitzingen. Das mag nicht besonders überraschen, wenn man bedenkt, dass sein Vater ein Bauernsohn war und die Familie häufig die Ferien bei den Verwandten in Franken verlebt hatte. Aber das reicht zur Erklärung nicht aus. Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man psychische Gründe für maßgebend hält. Das Kriegsende in Oberbayern und die wochenlange Irrfahrt durch Süddeutschland hatten vermutlich tiefere Spuren hinterlassen. Das zerbombte Ludwigshafen, in dem selbst die Schulen noch geschlossen waren, musste fremd auf ihn wirken und die Sehnsucht nach heiler Welt aufkommen lassen.

Doch das Leben auf dem Bauernhof war hart. Man nahm wenig Rücksicht auf den Fünfzehnjährigen und ließ ihn beispielsweise mit Ochsen pflügen. Das war alles andere als einfach. Kohls Kampf mit den Ochsen ist bei den Bewohnern von Düllstadt unvergessen. Als er sich einmal eine Pause gönnte, schlief er rasch ein, aber die Ochsen zogen weiter und richteten einiges Unheil an. Die Berufsaussichten in der Landwirtschaft waren miserabel, gab es doch viele Landwirte aus dem Osten, die alles verloren hatten und sich selbst als Knechte verdingten. Schließlich entschied der junge Helmut Kohl, nach Ludwigshafen zurückzukehren. Die Auffütterung auf dem Lande hatte ihm jedoch körperlich gutgetan, denn das Längenwachstum hatte eingesetzt. In den unteren Klassen hatte er zu den kleineren Schülern gehört, während er nun in seine gewaltige Körpergröße hineinwuchs, die ihn fast schon allein zu einer Führerrolle prädestinierte.

Helmut Kohl selbst räumt ein, er sei »ein eher widerwilliger und schlechter Schüler« gewesen. Der Widerwille wird sich gegen die Schulzucht gerichtet haben, zu der der temperamentvolle Schüler ein gespanntes Verhältnis hatte. Die schlechten Leistungen ergaben sich aus seiner Abneigung gegen die Mathematik, die ihm ein »Gräuel« gewesen sei. Erschwerend kam hinzu, dass seine Oberrealschule nach ihrer Wiedereröffnung eine stärker naturwissenschaftliche Ausrichtung erhielt, was die Situation komplizierte. Latein war nicht mehr verpflichtend, das Latein-Angebot in den Morgenstunden war freigestellt, und der Schüler Kohl nahm es nur sehr zögerlich wahr. Beim Abitur 1950, das entsprechend dem französischen System als Zentralabitur abgehalten wurde, soll Kohl landesweit in Mathematik die schlechteste Note erzielt haben.10 Mit sehr guten Leistungen in Deutsch konnte er das jedoch ausgleichen. Daneben waren Geschichte und Geografie seine Lieblingsfächer.

Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass er wegen der schlechten Leistung in Mathematik im Abitur gescheitert wäre, denn er nahm in der Klasse eine einzigartige Stellung ein.11 Er war nicht nur nominell der Klassensprecher, der schüchtern Bitten vortrug, sondern der Chef, der mit Schulleiter und Lehrern über verschiedene Dinge zu verhandeln und sie durchzusetzen pflegte – ob es um die Instandsetzung des Klassenraumes mit selbst organisierten Baumaterialien, den Besuch der Klasse bei den Wiesbadener Festspielen – Paul Claudels »Seidene Schuhe« standen auf dem Programm – oder gar um die Sondervorstellung des Mannheimer Nationaltheaters für die Ludwigshafener Oberschulen, einschließlich des Mädchengymnasiums, ging, als dort »Götz von Berlichingen« aufgeführt wurde.12

Es wird berichtet, dass bei der ersten Wahl eines Klassensprechers eine Konfrontation entstanden war. Zwei Schülergruppen hätten sich gegenübergestanden. Kohl habe sich »als Verfechter einer neuen demokratischen Ordnung« zu erkennen gegeben und sei dabei auf die Ablehnung von Mitschülern gestoßen, die »den Zusammenbruch des Deutschen Reiches als Übel und Katastrophe betrachteten«.13 Da die beiden Gruppen sich nicht auf einen Sprecher einigen konnten, fand man einen Kompromisskandidaten. Dieser Ausweg sei von Kohl vorgeschlagen worden, der bald darauf der unbestrittene Sprecher der Klasse geworden sei.

Trifft die Geschichte zu, sind zwei Aspekte von Interesse. Zum einen hätte Kohl schon sehr früh einen entschieden demokratischen Standpunkt eingenommen und nicht dem Ressentiment gegen die französische Besatzung nachgegeben. Zum anderen – und das ist interessanter – zeigt sich schon zu diesem frühen Zeitpunkt ein Grundzug seines politischen Verhaltens: Einer politischen Konfrontation wich er aus; er hielt nicht viel von Redeschlachten und Abstimmungssiegen, wenn kein wirklich überzeugender Erfolg erreichbar war. Stattdessen setzte er auf die Zukunft in der Erwartung, dass das Problem in der Zwischenzeit sich mehr oder weniger von selbst löste. Eine solche aufgeschobene Auseinandersetzung konnte lange dauern, wie es später das zähe Ringen in Rheinland-Pfalz mit dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter Altmeier14 oder dann auf Bundesebene mit Franz Josef Strauß zeigen sollte.

Am 15. September 1946 fanden in Rheinland-Pfalz Kommunalwahlen statt. Es waren die ersten demokratischen Wahlen nach 1933. Wie überall in den westlichen Besatzungszonen fingen die Wahlen auf der untersten Ebene an, um politische Risiken durch unliebsame Wahlergebnisse zu vermeiden. In der französischen Zone ging zudem alles etwas langsamer. Auf Helmut Kohl übten diese ersten Wahlen eine ganz außergewöhnliche Wirkung aus. Es war die erste Wahl, an der er teilnahm, als er seine Eltern zur Stimmabgabe ins Wahllokal, seine alte Volksschule, begleitete. Der Wahlvorgang als solcher faszinierte ihn. Er blieb den ganzen Tag dort und war auch beim Auszählen der Stimmen anwesend. Ein Gemeindepfarrer sah das ungewöhnliche Interesse, mit dem der Junge den ganzen Vorgang beobachtete, und schlug ihm vor, er solle sich bei dem Dekan Johannes Finck in Limburgerhof, einem anderen Ortsteil von Ludwigshafen, vorstellen, der eine Gruppe junger Leute um sich versammelt habe und mit ihnen politisch arbeite.

Das war eine ganz wichtige Empfehlung. Gewiss wäre Kohl auch ohne diesen Geistlichen zur CDU gekommen und hätte in der Partei Karriere gemacht. Die Nähe zu dieser Partei verstand sich von selbst, hatte doch sein Vater die Partei in Friesenheim mitbegründet, nachdem die französische Besatzungsmacht die CDU für die Pfalz am 5. März 1946 zugelassen hatte. Man kann durchaus der Meinung sein, dass die Faszination, die ein so nüchternes Geschehen wie ein Wahltag im Wahllokal ausgestrahlt hat, so etwas wie eine Initialzündung bei Kohl darstellte. Hier äußerte sich ein ganz außergewöhnliches politisches Interesse, das mit der Empfehlung an den Dekan Finck zugleich in die richtigen Bahnen gelenkt wurde.

Die Gründung der CDU in der Pfalz hatte eine komplizierte Vorgeschichte, denn vor 1933 hatten zwei katholische Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, heftig und nicht immer fein um katholische Wählerstimmen geworben. Daher war die Gründung der Union hier mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Da gab es Befürworter einer neuen katholischen Partei; sie leisteten gegen eine interkonfessionelle Gründung zähen Widerstand, wie auf der anderen Seite evangelische Kreise das Zusammengehen mit Katholiken ablehnten und eine eigene Partei gründeten. Einer der energischsten Vorkämpfer für die schließlich genehmigte interkonfessionelle Partei war der Dekan Finck. Er war die treibende Kraft, die zur Gründung der CDU führte. Man kann durchaus sagen, dass sein Pfarrhaus in Limburgerhof »eine Geburtsstätte der christdemokratischen Partei« darstellte.15 Hier trafen sich schon während des Krieges Regimegegner, um die politische Situation und die notwendigen Schritte nach Kriegsende zu erörtern. Bereits 1944 vertrat Finck im kleinen Kreis die Überzeugung, dass das Nebeneinander von Zentrum und BVP ein Ende haben müsse und an deren Stelle »eine ganz neue Partei auf überkonfessioneller Grundlage«16 zu bilden sei.

Johannes Finck war in der Weimarer Zeit in der Pfalz ein weithin bekannter politischer Kopf gewesen. Ein Foto zeigt ihn in den 1920er-Jahren mit seinem Bruder Albert, der Chefredakteur einer Zentrumszeitung und bayerischer Landtagsabgeordneter war, in Berlin vor dem Bismarck-Denkmal mit dem Reichstag als Hintergrund. Nicht alle Zentrumsgeistlichen hätten sich vor diesem Hintergrund fotografieren lassen. Aber für diese pfälzischen Katholiken war Bismarck der Reichsgründer, den man trotz seiner Missgriffe im Kulturkampf achtete und für die der Reichstag keine Zwingburg des Berliner Zentralismus, sondern die deutsche Volksvertretung war.

Die Bemühungen um eine neue christliche Partei hatten im August 1945 eingesetzt. Auf einer nachträglich als illegal deklarierten Versammlung am 3. Dezember 1945 in Neustadt war Finck zum vorläufigen Vorsitzenden einer christlichdemokratischen Partei gewählt worden. Für den Patrioten Finck gab es im Gegensatz zu vielen anderen süddeutschen und rheinischen Politikern keine Scheu oder Vorbehalte, auch mit den CDU-Gründern in Berlin gute Beziehungen zu unterhalten. Das betraf vor allem den Kontakt zu Jakob Kaiser, dem Mitbegründer der Partei in der sowjetischen Besatzungszone.

Ebenso hatte Johannes Finck schon 1945 mit dem Zentrumspolitiker Adam Stegerwald in Würzburg Kontakt aufgenommen, der bereits 1921 mit seinem Essener Programm für eine überkonfessionelle Partei eingetreten war. Dass Finck den für katholische Ohren etwas fremd klingenden Begriff Union akzeptiert hatte, der seit dem Reformationszeitalter protestantisch geprägt war, geschah aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Ihm ging es vor allem um die Verbindung mit den anderen Zonen Deutschlands und den inzwischen an verschiedenen Orten erfolgten Parteigründungen. Ein Brief vom 20. Februar 1946 bringt dies klar zum Ausdruck: »Wir stehen in der Pfalz doch in besonders großer nationalpolitischer Gefahr. Wir legen deshalb ganz besonderes Gewicht auf die Beziehungen zum rechtsrheinischen Deutschland. Aus diesem Grund haben wir auch den Namen CDU angenommen, ohne dass wir für den Namen selbst besonders begeistert waren.«17 Für einen Mann wie Finck, der schon früh um die Einheit Deutschlands besorgt war und der sich für die Gründung einer wirklich überkonfessionellen Partei bereits unmittelbar nach Kriegsende mit allem Nachdruck eingesetzt hatte, war jede Kirchtumspolitik fremd. Er blickte bereits über Zonengrenzen hinweg, als die meisten Menschen lediglich darüber jammerten. So traf er auch mit einem evangelischen Außenseiter zusammen, der aus dem Ruhrgebiet kam und den ganz ähnliche Sorgen umtrieben: Gustav Heinemann, der Finck in Limburgerhof besucht hatte.18 Über die menschliche Nähe zu Finck erklärt sich leicht der gute Kontakt, den der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz in späteren Jahren zum Bundesjustizminister und Bundespräsident Heinemann unterhielt.

Helmut Kohl hat bei Johannes Finck mit Sicherheit mehr über Politik gelernt als im Studium bei den Politologen. Seine Bereitschaft, in der CDU mitzuarbeiten, ergab sich gleichsam von selbst. Er war nicht nur ein Oberschüler, der einen Nachmittag in der Woche zum Dekan Finck ging, sondern bei ihm traf alles zusammen: das Seminar im Limburgerhof, die Schule, die Partei und andere Interessen, nicht zu vergessen der Sport, wo er im Fußball weniger durch Technik als mit seiner physischen Präsenz Wirkung erzielte. Die Jugendlichen dieser Jahre entbehrten vieles, aber eines hatten sie: Zeit, über die sie frei verfügen konnten. Niemals kümmerten sich Eltern weniger um das, was ihre Kinder trieben, als in der Nachkriegszeit. Die häuslichen Pflichten einschließlich der Gartenarbeit mussten erfüllt werden, aber was der Nachwuchs sonst anstellte, interessierte die mit dem Haushalt ohnehin überbeanspruchten Mütter nur wenig.

Wann ist Helmut Kohl in die CDU eingetreten? Verschiedene Daten geistern durch die Literatur; zumeist wird das Jahr 1946 genannt. Kohl selbst gibt in seinen Memoiren den Beginn des Jahres 1947 als Eintrittsdatum an. Tatsächlich aber verzeichnet die Mitgliederkartei des Kreisverbandes Ludwigshafen ein anderes Datum: Es ist der 1. August 1948. Kohl erhielt die Mitgliedsnummer 540246.19 Dieses Datum entspricht auch der Bestimmung in der Satzung der Pfälzer Partei, die das Mindestalter auf achtzehn Jahre festsetzte. Das Datum ist aber im Grunde nebensächlich, denn Kohl war in der Partei schon viel früher aktiv geworden. Die mehr theoretische Schulung bei Dekan Finck verlangte bei einem Menschen wie Kohl auch die Betätigung in der Praxis. So kam es zu einer losen Verbindung von jugendlichen Aktivisten, die eine Vorform der Jungen Union darstellte. Deren große Bewährungsprobe erfolgte mit dem Wahlkampf für die ersten Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, die am 18. Mai 1947 stattfanden. Kohl betätigte sich hier als Plakatkleber. Das war etwas anderes als Diskussionen unter Schülern. Ludwigshafen war eine sozialdemokratische Hochburg, die aber darüber hinaus einen starken kommunistischen Anhang besaß. Das war nicht untypisch für ein Zentrum der chemischen Industrie, deren Arbeiter durch den relativ hohen Lohn angezogen wurden, wofür sie auch gesundheitliche Gefährdungen in Kauf nahmen, aber das Unbehagen an ihrer Situation im politischen Radikalismus abreagierten.

Mit den gegnerischen Klebekolonnen begegnete dem Oberschüler aus der bürgerlichen Vorstadt eine ganz andere politische Realität. Im Kampf um Plakatierflächen oder beim Überkleben der gegnerischen Plakate kam es nicht selten zu Handgreiflichkeiten, bei denen Kohl durch Größe und Kampfeseifer von selbst in den Vordergrund rückte. Dies war sein Einstieg in die Ludwigshafener Kommunalpolitik. Ihr blieb er in den folgenden Jahrzehnten verbunden, auch wenn er auf Landes- und Bundesebene wichtigere politische Ämter innehatte. Von 1960 bis 1969 war er Stadtrat in Ludwigshafen, wo er unverdrossen als Mitglied der schwachen CDU-Fraktion ohne Chancen auf den Gewinn der Mehrheit die sozialdemokratische Übermacht herausforderte. Er kandidierte für den Landtag wie für den Bundestag immer im Wahlkreis Ludwigshafen. Es gibt nur wenige Politiker, die so lange und so hartnäckig an ihrem Heimatkreis festgehalten haben, auch wenn sie nicht das Mandat erringen konnten.

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