Copyright © 2014 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Martin Amanshauser, geboren 1968 in Salzburg, lebt in Wien und Berlin. Er ist Autor, Übersetzer aus dem Portugiesischen und Reisejournalist, u.a. für die »Süddeutsche Zeitung«. Er ist ständig unterwegs, schreibt dazwischen aber Romane und Sachbücher und jeden Freitag die Reisekolumne »Amanshausers Welt« in der Tageszeitung »Die Presse«. Bücher u.a.: »Alles klappt nie«, Roman, 2005; »Logbuch Welt. 52 Reisegeschichten«, 2007; »Viel Genuss für wenig Geld«, 2009.

www.amanshauser.at

Martin Amanshauser

Falsch reisen

Alle machen es.
100 Geschichten.

Kleine Theorie
des Reisens

Seit fünfzehn Jahren absolviere ich Pressereisen. Ich fahre durch die Welt, um in Zeitungen darüber zu berichten. (Nein danke, ich benötige keine Fotografen! Ja, ich bin immer noch gerne unterwegs.) Manchmal ist es anstrengend, eintönig wird es nie. Reiseschreiber wie ich sind antizyklisch auf Tour. Karibik im Juni, Skiausflug Ende November, Barcelona im Februar. Wir fliegen auf vakanten Sitzplätzen. Wir blockieren kein Übernachtungsbett (schönen aber bestimmt diverse Statistiken), nehmen niemandem die Strandliege weg (keine Zeit wegen Hotelbesichtigung), machen einen Bogen um Souvenirshops (wohin mit dem Zeug). Wir sehen die Bühne Tourismus von hinten. Und doch erleben wir, eine Art von Testpersonen, nichts grundlegend anderes als echte Gäste.

Vielreisende bestätigen mir folgende Phänomene: Je mehr wir unterwegs sind, desto größer wirkt dieser Planet. Und je öfter wir reisen, desto klarer erkennen wir, dass der Schritt in die Fremde gar nicht so unproblematisch ist, wie überall behauptet wird. Airlines, Eisenbahngesellschaften und Leihwagenanbieter werben mit Komfort, Bequemlichkeit und Spaß (»fun«), aber natürlich ist genau das Gegenteil der Fall. Das Reisen nervt und strengt an. Man hat keinen Platz für die Beine, man steht in der langsameren Schlange, man hat Sonnencreme und Zahnbürste vergessen, und wenn ein Kind dabei ist, schreit es oder kriegt Fieber. Das zu Hause perfekt Vorausgeplante nimmt unter dem Einfluss der Wirklichkeit einen chaotischen Verlauf. Je nach Tagesverfassung und Umständen begeht man leichte und schwere Fehler mit ebensolchen Auswirkungen. Und manchmal ist man am Ende schlauer.

Reisen erweitert den Horizont – heißt es. Ich bin jedoch sicher, dass das Reisen als solches gar nichts bewirkt. Wer in der Starbuckswelt hockt und via Smartphone Kontakt zu Freunden und Familie sucht, ist in Wirklichkeit daheim geblieben. Ist jemand aber nur körperlich am Zielort, hätte er gar nicht fortfahren brauchen. Der zeitgenössische Tourismus zwingt uns in vorgefertigte Bahnen. Müssen wir in Paris unbedingt in den Louvre? Natürlich nicht. Aber trau sich das einmal einer! Die Hetzjagd nach den Top-Sehenswürdigkeiten verstellt hartnäckig das authentische Erlebnis. Dabei gibt es keine bessere Methode, einen Ort kennenzulernen, als sich eine Stunde in ein Lokal zu setzen – ohne Plan, ohne Ziel, nur als Beobachter. Dieses Innehalten ersetzt fast überall die Tour durchs Nationalmuseum.

Liegt es an der Neigung der Reise zur Unvollkommenheit, zum Durcheinander, zum Fehlschlag? Beim Unterwegssein habe ich immer wieder das Gefühl, »falsch« zu reisen. Irgendetwas stimmt meistens nicht. Das Verkehrsmittel ist eine Katastrophe, das Programm zu dicht, die Zeit zu knapp, die Region schlecht gewählt, das Wetter empörend. Wie kann man dieser Serie aller erdenklichen Rückschläge entrinnen, wie ihnen entgegenwirken?

Nun, ich habe mir alles Falsche von der Seele geschrieben. Ab sofort reise ich ausschließlich richtig und fehlerlos, und Sie Glückspilz können mithilfe dieses Buches an meinem System teilhaben! – Schön wäre es. Leider ist es nicht ganz so einfach.

Ich fürchte, das Reisen wird heutzutage in einer Schnelligkeit und Kompaktheit absolviert, die uns nur zwei Wege lässt. Einerseits den Versuch, Gehirn und Gefühlswelt partiell auszuschalten, aber wer kann das schon auf Befehl? Andererseits einen Lernprozess in Gang zu setzen, Erfahrungen aufzusaugen, um Fehler, die andere begangen haben, zu vermeiden. Dieses Buch versammelt solche Erfahrungen von A bis Z. Viele dieser Texte sind zuerst in der Sonntagsausgabe der Tageszeitung Die Presse erschienen.

Gibt es ein richtiges Reisen im falschen? »Falsch reisen«, das ist, was wir alle machen. Wir können es nicht vermeiden, aber wir können darüber lächeln, die Einsichten teilen – und vom Gegenüber lernen. Beim Herumfahren habe ich all die Ärgernisse erduldet und Frustrationen bezwungen, die Sie kennen oder die Ihnen demnächst unterkommen werden. Im Idealfall mögen Ihnen diese Texte helfen, besser durch die Welt zu kommen. Meine Fehler brauchen Sie nach der Lektüre jedenfalls nicht mehr zu begehen – nur noch Ihre eigenen.

Martin Amanshauser,
Februar/Juni 2014

Ablehnung

Über die fehlende Lust, zu essen, zu trinken, Taxi zu fahren und zu kaufen

Ich brauche keine Aircondition, ich bin kein Amerikaner, I am not American. Ich brauche keinen Zucker zum Tee, danke, no sugar, auch keine Milch, am liebsten gar keinen Tee, aber bitte auch keinen Kaffee, ich brauche Zeit, ich kann mich noch nicht entscheiden, ich kann mich nie entscheiden. Nein, Sie müssen mir den Koffer nicht abnehmen, er passt gut zu mir. Ich brauche kein Taxi, danke vielmals, auch wenn Sie hupen und im Schritttempo neben mir herfahren, ich gehe heute zu Fuß, auch wenn es Verschwendung ist, auch wenn ich das Geld für die Fahrt hätte. Ich möchte Ihren Shop jetzt nicht ansehen, nein, auch wenn alle Gegenstände von guter Qualität sind und auch wenn schauen nichts kostet, kein only looking, nein danke, ich bin im looking so ungeschickt, ich schaue Ihnen alles kaputt. Ich brauche keine Motorrikscha, auch wenn Sie eine besitzen oder betreiben, ich gehöre zu den langweiligen Typen, die gar nichts wollen. Es geht Sie ehrlich gesagt nichts an, wohin ich gehe, auch wenn ich durch Ihr Land gehe. Sie müssen nicht neben mir herlaufen. Es wäre mir lieber, wenn Sie mich nicht am Arm berühren – danke vielmals. Nein, ich kaufe jetzt keine T-Shirts, auch wenn ich eines trage, es ist mein einziges, ich brauche kein zweites. Nein, ich habe schon gegessen, und ich gehe prinzipiell nicht in Lokale, vor denen Keiler wie Sie stehen, glauben Sie denn, dass Sie so Gäste anziehen, ich glaube eher, Sie vertreiben sie, na gut, Sie haben einige Gäste, ich sage Ihnen was, es sind die Ichschwächsten unter uns. Danke, ich brauche keine Muschelketten und auch nichts von den restlichen Gegenständen, die Sie so mit sich tragen, Sie verlieren Ihre Zeit, wenn Sie alles vor mir aufbreiten, ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich bin zu arrogant, um heute etwas zu kaufen. Danke, ich habe keinen Hunger, ich möchte kein Bier, no beer, es ist Teufelszeug, es ist Alkohol, ich bin tiefreligiös, ich bin bei einer Sekte, in der man streng genommen gar nichts darf, ich darf Ihnen eigentlich nicht einmal antworten, wenn das mein Sektenführer erführe, würde er Sie erschießen, ja natürlich, er würde Sie erschießen, sicher nicht mich, er schießt nicht auf Mitglieder. Danke, sehr freundlich, nein, Sie irren sich, ich bin gar kein Tourist, wie kommen Sie drauf?

Airportgedanken

Über das, was einem auf internationalen Flughäfen so alles durch den Kopf geht

Auf Flughäfen hat man so verdammt viel Zeit zum Denken. Man schlendert durch die Läden, in denen die einsamen drogen- und alkoholsüchtigen Passagiere ihre Hamsterkäufe tätigen. Früher konnte man das Shopping ignorieren, jetzt ist es baulich wie bei Ikea, man muss alles durchqueren. Dabei will man nichts als durch. Man sucht, um dem Flugzeugessen auszuweichen, nach originellen Ecklokalen mit einheimischem Flair, lacht bei diesem Gedanken jedoch trocken auf. Man setzt sich auf eine Bank, fährt den Laptop hoch, trägt seine Kreditkartennummer in Kästchen ein, um Internetzeit zu kaufen, schließt die Zahlung ab, aber die Seite funktioniert nicht. Na ja, man hat ohnehin nicht daran geglaubt. Hauptsache, der Betrag wird abgebucht.

Also doch Shopping? Aber was? Das Produkt, das einen in den Duty-free-Läden am meisten verblüfft, ist der Koffer. Ist Ihnen schon aufgefallen, wie viele Koffer in Flughäfen angeboten werden? Wer zum Teufel kauft an diesem Ort Koffer? Wohin verfrachten diese Leute ihre neuen Koffer? Gehen sie wieder nach draußen und checken leere Koffer neu ein? Kaufen manche sogar zwei Koffer und checken einen Megakoffer ein, in dem sich ein kleinerer Koffer befindet? Oder nehmen sie ihre Kofferkäufe direkt ins Flugzeug mit? Findet wegen dieser Shoppingmaschinen meine schmale Hausmeistertasche im Gepäcksfach keinen Platz?

Betrachtet man die Mitpassagiere, so kommt man zu dem Schluss, dass eine Herde Wahnsinniger mit Riesenrollkoffern an Bord geschickt wurde, um das Maximalgewicht des Flugzeugmodells zu testen. Aus irgendeinem Grund werden ihnen die Handgepäcksmonster an den Gates nicht abgenommen. Was die da drin haben? Koffer in Koffern in Koffern, also Matrjoschka-Koffer? Leichenteile aus kleineren Verbrechen? Schlafsäcke und Zelte, um bei einer eventuellen Bruchlandung im verschneiten Hochgebirge die Nächte zu überstehen? (Und wir Unvorsichtigen, die nur ein Täschchen mit einer Ersatzunterhose und zwei Socken mittragen, erfrieren kläglich.) Transportieren diese Leute kiloweise Lebensmitteldosen in ihren Rollkoffern, um nicht auf Menschenfleisch angewiesen zu sein? Handelt es sich gar um Geschäftemacher, die einem an der Absturzstelle mit ungerührter Miene isothermische Decken verkaufen werden? Ach, diese Hunde können einem ohnehin egal sein, wenn man vorteilhaft eingecheckt irgendwo hinten am Fenster sitzt. Statistisch gesehen sind Überlebende von Flugzeugkatastrophen hauptsächlich jene der vorderen Gangplätze.

Aufzüge

Über den Paternoster, den es nicht mehr gibt und die Lifthölle, die es geben wird

Aufzüge und Lifte haben meine Fantasie von jeher angeregt. Der sympathischste Aufzug, den ich befuhr, der Paternoster (»Personen-Umlaufaufzug«) im Neuen Institutsgebäude der Universität Wien, war eine Rarität. Dieser elegante Personenlift ließ die Studenten nie länger als ein paar Augenblicke warten. Ohne Schranken konnte man in jeder Etage hinein- oder hinaushüpfen. Im obersten Stockwerk waren Schilder mit der Aufschrift »Weiterfahren ungefährlich« angebracht – um Panik zu verhindern, denn Neulinge, denen das antiquierte Verkehrsmittel nicht geläufig war, fürchteten, dass sich die Kabinen oben auf den Kopf stellten. »Die Kabinen behalten ihre Ausrichtung«, lautete die Sicherheitsdoktrin.

Eine ganze Reihe von Aufzügen der interessantesten Art – genannt werden sie ascensores – befinden sich in der zweitgrößten chilenischen Stadt Valparaíso, die auf sieben, vierzehn oder einundzwanzig Hügeln gebaut ist. In Wirklichkeit sind es hauptsächlich teleféricos, aber sie laufen unter der Bezeichnung Aufzüge, weil sie weniger der touristischen Belustigung dienen als den Bedürfnissen der Hügelbewohner. Sie alle stammen aus dem späten 19. Jahrhundert, wurden ursprünglich mit Wasserkraft betrieben und sind Kulturdenkmäler. Die chilenische Regierung hat das noch nicht begriffen – die meisten ascensores gehören privaten Betreibern, sie werden nicht subventioniert. Deshalb wurden viele stillgelegt, ein Jammer für die Anrainer, ein Verlust für Freunde der Aufzugkultur. Immer wieder wird das Sicherheitsargument ins Spiel gebracht. Doch Unfälle sind bei gut gewarteten technischen Raritäten äußerst selten.

Der unsympathischste Aufzug, mit dem ich je fuhr, gebaut von der Firma Schindler, war perfekt gewartet. Er kam mir in einem neu eröffneten Hotel der Top-End-Kategorie in Istanbul unter. In dessen Liftkabine gibt es keine Knöpfe. Die nackten Wände der Kiste stacheln mich immer dazu an, nachzugrübeln, wie es wäre, wenn meine Mitfahrer sich in Zombies verwandelten, oder gar ich selbst. In meinen Vorstellungen klappen Särge mit Untoten von der Decke, der Boden bricht nach unten durch et cetera. Alles nur, weil dieser Schindler keine Knöpfe hat. Man muss vor dem Einsteigen in einer Tastatur sein Zielstockwerk eingeben, wonach ein Computer berechnet, in welchen der drei Aufzüge er die Person einteilt. Das Ergebnis blinkt auf einem Display auf. Gemeinsam Reisende werden ungerührt in unterschiedliche Fuhren aufgeteilt, Effizienz sticht Freundschaft. Landet man versehentlich in der falschen oder in einer falsch programmierten Kabine, muss man aussteigen – innen sind ja keine Knöpfe – und außen neu auf der Tastatur gambeln. Das System ist so fehleranfällig, dass es dauernd zusammenbricht. Fluchend wünschen sich die Gäste einen stinknormalen Lift zurück.

Als ich wieder einmal im Aufzug-Nirwana des Superhotels wartete, kam mir der alte Paternoster in den Sinn. Zurück in Wien erkundigte ich mich und erfuhr, dass er vor ein paar Jahren entfernt worden war. Man hatte ihn »wegen Allgemeingefährdung« aufgegeben. Hatte sich irgendwann doch eine Kabine auf den Kopf gestellt?

Autostopp

Über die blutrünstigen Autostop-Movies und ihren Anteil am Ende der Hitchhiking-Kultur

Ein seltsames Phänomen ist das Verschwinden der Autostopper von Europas Straßen. Wo sind die langhaarigen Typen mit den Tafeln, deren Schrift zur rechten Seite hin schmäler wird und sich nach unten biegt (»Saarbr-n«), geblieben? Sind sie heimlich ersetzt worden durch einen neuen Menschentypus, der den Billigflieger nimmt? Haben die Leute wirklich Geld für das sich nach oben schraubende Preiskarussell der Bahn? Oder sind die alle inzwischen zu öko für Benzin und Diesel?

Das Rätsel beschäftigt mich, weil ich zu Beginn der neunziger Jahre zu den aktivsten Autostoppern des Landes gehörte. Leute wie ich standen nie mit selbst gemalten Schildern vor Autobahnauffahrten, wir fanden das wahnsinnig siebziger Jahre, es war uns peinlich. Das Ziel war vielmehr, eine Raststätte zu erreichen, wo man Autofahrer persönlich ansprechen konnte – um zur nächsten Raststätte zu surfen, sorgsam darauf bedacht, nie an einer Ausfahrt zu stranden. Die flüssigsten Routen führten durch Deutschland und Österreich. Frankreich galt als schwierig, Italien als machbar, Spanien als halsbrecherisch.

Damals warnten die Menschen vor den immensen Gefahren dieser Reiseart. Auf der anderen Seite warnten sie vor den immensen Gefahren, die von uns ausgingen. Auto war das Symbol für Besitz, und wir das Symbol für das Gegenteil. Diese beiden Konzepte schlossen im Idealfall für einige Hundert Kilometer Frieden. Warnungen schlugen wir sowieso in den Wind, was sollte passieren. Nie passierte etwas. Ich fürchte, dass irgendwann die Panikmache durch Ausstrahlung einer Reihe von blutrünstigen Hitchhiker-Movies in der Primetime überhandnahm. Und das versetzte der Autostoppkultur, gemeinsam mit den sinkenden Flugpreisen und einer neuen Mode namens »Städtereise« den Todesstoß.

Ich selbst bekam beim Autostoppen nur einmal so richtig Gänsehaut. Ein deutscher Mercedesfahrer blieb bei mir stehen, ich gab mein Ziel bekannt. Er grinste und antwortete mit geweiteten Augen: »Ah, do hom wia ahnen Eeeehst-Reicher!« Der freundliche Mann wollte nur österreichischen Akzent imitieren. Aber es klang so psychotisch, ich höre seine Stimme noch heute.

Babyflug

Über Fehler, die Eltern und Fluglinien beim Kleinkindtransport begehen können

Babys und Kleinkinder ignorieren Sicherheitsabläufe, stoßen spitze Schreie aus, jammern minutenlang, kotzen nach links und rechts, wehren sich mit Fäusten gegen das Angurten und interessieren sich entwaffnend kurz für die Plastikrasseln und Würfelspiele, die ihnen zur Zerstreuung angeboten werden. Die Nahesitzenden zischen, murren, seufzen, sie ziehen die Erziehungskompetenz der Eltern in Zweifel, sie nehmen ungefragt Stellung, sie erklären, dass es das alles unter Hitler nicht gegeben hätte. Kurz gesagt, es geraten zwei Denkmodelle in Konflikt, und am Ende schimpft das halbe Flugzeug miteinander.

Das alles geschieht nördlich des fünfundvierzigsten Breitenkreises. Anderswo sind die Umsitzenden verständnisvoll, lächeln, und man genießt mit Babys an Bord eine bevorzugte Behandlung. Die Prioritäten liegen bei den Kindern und ihren Betreibern. Laut meiner subjektiven Erhebung des Statistikamts in meinem Kopf liegt die Thai-Billigfluglinie Air Asia an der Spitze – für die Asiaten ist das fliegende Baby kein Störfaktor, sondern Teil der Kultur. Südlich des fünfundvierzigsten Breitenkreises erhöht sich nebenbei auch die Rate des Kopfstreichelns signifikant.

Wo das Kopfstreicheln abnimmt, sammelt sich hingegen schon nach wenigen Babyflügen ein Erlebniskatalog in unterschiedlichen Schattierungen an. Es sind nicht nur die persönlichen Konflikte – ich verstehe jeden, der sich von Kindern, die er nicht selbst aufzieht, gestört fühlt – es sind die Airlines, die ihr Maximum beitragen, um die Bedingungen zu erschweren. Bei manchen Fluglinien kriegt man den Eindruck, dass höchstens ihre PR-Abteilung Kinder an Bord haben möchte. Air Berlin führte meine Irrsinnsliste an, seit es dieser Airline gelang, zwischen Wien und Kopenhagen einen Kinderwagen bis zur Funktionslosigkeit zu zerstören. Später drückte sie brieflich ihr Bedauern darüber aus, »leider nur den Zeitwert« des Kinderwagens »ersetzen zu können«. Während des sechstägigen Kopenhagenaufenthalts gab es keinerlei Ersatzkinderwagen – und auch für die Erstattung des Hundert-Euro-Buggys, den ich anschaffen musste, fühlte die Fluglinie sich nicht zuständig.

Bei Austrian Airlines erhielt ich die online vorgebuchten Plätze mit Beinfreiheit nicht. Beim Checkin hatte man mir die schlechte Nachricht bereits mitgeteilt: »Mia kennan des Bebi durt net einbuchen. 25A und 25B dürferten irgendwie net gehen, wegen die Sauerstoffmasken. Den Rest erfohrn Sie beim Boarding.« Dort erfuhr ich: »Wir ham Sie jetzt umgesetzt!« Aufgrund der superengen Bestuhlung war es, mit dem winzigen Kind auf dem Schoß, unmöglich, den Tisch herunterzuklappen. Der Sitzabstand rief in mir Bilder einer Legebatterie mit Tomatensaft statt Eiern hervor. Diesen Kritikpunkt führte ich nicht an. Ich fragte nur, ob wir nicht auf einen minimal fußfreieren Platz wechseln könnten. Die Flugbegleiterin kommentierte meinen Wunsch mit einer Aufforderung zur Eigeninitiative: »Sie können ja fragen, ob jemand mit Ihnen tauscht!« Das Beschwerdeformular in der Tasche vor meinem Sitz lächelte mich an: »Hat Austrian Sie überzeugt? Was gefällt Ihnen besonders gut?«

Bahnhofsbau

Über die Shopping-Mall-Architektur und die Ruinen der Provinzialität

Einmal stieg ich auf dem Hauptbahnhof von Liège (Lüttich) um. Ich war nicht freiwillig dort. Die Vulkanaschenwolke des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull hatte meinen Rückflug storniert, ich war dabei, Europa wie ein anständiger Mensch des 20. Jahrhunderts per Eisenbahn zu durchqueren. Der Lièger Bahnhof sah wie das Modell eines Raumschiffs aus – weiß, stromlinienförmig, aber nicht überdimensioniert, ein bisschen wie Oriente in Lissabon, ein bisschen wie die gute, zeitgemäße Architektur im Großraum Paris. Das öffnete mir die Augen für die Ruinen der Provinzialität, die ich zwölf Stunden später erreichen sollte.

In Wien wurde der Westbahnhof gerade in ein Einkaufszentrum verwandelt, über dem ein paar klobige »Türme« (gedacht als Bürostockwerke mit hohen Quadratmeterpreisen) die denkmalgeschützte Bahnhofshalle entmachteten. Das Gebilde war brandneu und sah bereits veraltet aus. An der Bausünde war nichts Zeitgenössisches ablesbar, sieht man vom dringenden Wunsch ab, das Investment zu amortisieren. Dabei war den Herstellern egal, wie es wirkte, und das sah man den Gebäuden an. Frühestens bei der nächsten Investitionswelle, sagen wir 2110, wird dieser Westbahnhof endlich nach 21. Jahrhundert aussehen.