ALLES ROT

Eva Rossmann

ALLES ROT

Ein Mira-Valensky-Krimi

Lektorat: Joe Rabl

© Folio Verlag Wien • Bozen 2014

Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde

ISBN 978-3-85256-648-1

www.folioverlag.com

INHALT

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Danke

SPANNUNG BEI FOLIO

[ 1. ]

Ihre Augen. Aufgerissen. Blau. Das helle Gesicht fast weiß.

Keuchen. Laut.

Die vollen Lippen geöffnet. Verzerrt vom Ringen nach Luft.

Seine Hände an ihrem Hals. Dunkel. Unerbittlich. Kraftvoll.

Die Daumen an ihrem Kehlkopf.

Und dann Stahl.

Und Rot, immer mehr Rot.

Und das Keuchen noch lauter.

Alles rot. Und dann Stille.

Ich atme aus.

Sehe vom riesigen Videoscreen wieder auf die Bühne. Desdemona hat es hinter sich. Othello in Tarnhosen mit vielen Taschen, blutbespritztem T-Shirt, schwarzen Locken, sagt etwas auf Griechisch. Ich kann die Übersetzung auf der Leinwand mitlesen.

„Ha! Regst du dich nicht mehr? Still, wie das Grab. – Darf sie herein? – Wär’s gut? –

Mir deucht, sie rührt sich. – Nein. – Was ist das Beste? Kommt sie, wird sie nach meinem Weibe fragen. – Mein Weib! Mein Weib! – Welch Weib? Ich hab kein Weib.“

Emilia betritt die Bühne. Desdemona hingesunken auf das Bett, nackt, der Videoscreen an den Rändern immer noch blutrot. Emilia spricht spanisch und trägt ein Kleidchen mit vielen bunten Blumen. Ein rascher Dialog.

„Sie war wie Wasser falsch“, lese ich. Und: „Du bist wild wie Feuer, wenn du sie der Falschheit zeihst: Oh, sie war himmlisch treu!“

Spiel um Intrige und Missgunst, Angst vor Fremdem, Liebe und Verrat.

Ich sehe so unauffällig wie möglich auf die Uhr. Das ist das Finale. Dann gibt es eine Pause. Und dann wird das Ganze noch einmal, aber anders erzählt. Hat mir Paulus Reisinger gesagt. Wir haben gestern telefoniert. Ich kenne ihn natürlich als Kommissar aus dieser Krimiserie, die sie vor ein paar Jahren eingestellt haben. Seither habe ich nicht viel von ihm gehört. Ist wahrscheinlich nicht so einfach, danach Rollen zu kriegen. Jetzt tourt er mit „Othellos Erben“ quer durch die EU. Quasi als Sinnstück zur Europäischen Gemeinschaft und ihren Krisen.

Ehrlich gestanden finde ich es ein wenig anstrengend, dass jeder der Schauspieler in seiner Muttersprache redet. Aber klar, dabei kann man sich eine Menge denken. Das Wiener Volkstheater ist jedenfalls bis auf den letzten Platz ausverkauft. Reisinger hat gute Pressearbeit gemacht. Und das Stück wird nicht nur von der EU, sondern auch von unseren Regierungsparteien, von der Industriellenvereinigung und allen Möglichen, die aus unterschiedlichsten Gründen etwas für ein gemeinsames Europa übrighaben, unterstützt.

Jetzt steht Othello mit einigen anderen auf der Bühne. Auf dem Videoscreen in Großaufnahme seine blutbefleckte Brust. Und der Text: „Ich küsste dich, eh’ ich dir Tod gab – nun sei dies der Schluss: Mich selber tötend sterb’ ich so im Kuss.“

Wieder Stahl und wieder alles blutrot.

Cassio redet deutsch. „Dies fürchtet’ ich – doch glaubt’ ihn ohne Waffen: Denn er war hochgesinnt.“

Lodovico redet finnisch. Hört sich besonders seltsam an. SMS-Anzeige. Ich habe mein Telefon natürlich auf lautlos gestellt, aber es vibriert. Auf der Leinwand Meer, viel schön wogendes sonniges Meer, quasi im Meer der hingesunkene Othello, darüber diffuse Gestalten.

„Euch, Herr Gouverneur, liegt ob das Urteil dieses höll’schen Buben; die Zeit, der Ort, die Marter – schärft, o schärft sie ihm! – Ich will sogleich an Bord, und dem Senat mit schwerem Herzen künden schwere Tat.“

Tosender Applaus. Ich klatsche mit. Ich glaube, der Einfall mit dem Videoscreen hätte Shakespeare gefallen. Desdemona mit aufgerissenen blauen Augen. Gemeuchelt von ihrem Mann, weil sie dummerweise ein Taschentuch verloren hat. Und er sich von Jago einreden hat lassen, dass sie ihn betrügt.

Ich stehe mit den anderen auf. Ich hoffe, es geht sich aus, dass ich etwas zu trinken ergattere. Sehe aufs Telefon. Meine Freundin Vesna. Die eigentlich neben mir hätte sitzen sollen. Hat sie auch ein Taschentuch verloren? Und wenn schon. Ihr Valentin neigt nicht zu rasender Eifersucht.

„Muss was überprüfen. Komme danach zu Empfang. Wenn ausgeht. Vesna.“

Typisch für sie. Sie fasst sich kurz. Sie liebt es, wenn ich mehr wissen möchte. Vesna ist seit mehr als zwanzig Jahren in Österreich. Ihr Deutsch ist besser als das vieler Einheimischer. Aber noch immer verzichtet sie gern auf „unnötige Zwischenworte“, wie sie das nennt. Damals, im Bosnienkrieg und den Jahren danach, hatte sie keine andere Chance, als illegal putzen zu gehen. Ihre Zwillinge waren trotzdem gut in der Schule. Jana ist gerade dabei, ihr Studium abzuschließen. Fran hat theoretische und praktische Computerwissenschaften studiert und träumt nach einem Stipendium in den USA von der eigenen Softwarefirma. Zwei junge Menschen mit eigenem Kopf und jeder Menge Energie. Inzwischen hat Vesna die Staatsbürgerschaft und ein Reinigungsunternehmen. Und dann hat sie noch ein Telefon für ganz spezielle Aufträge. Eigentlich wäre sie ja gerne Privatdetektivin geworden. Aber die Ausbildung ist ziemlich öde. Und sie hatte gar keine Lust, untreue Ehefrauen zu beschatten. – Na gut. Hätte Othello seine Desdemona beschatten lassen, dann hätte ihm der Detektiv wohl gesagt, dass sie ohnehin treu ist. Und wäre der Detektiv auch noch gut gewesen, dann hätte er ihn vor Jago gewarnt. – Was Vesna heute wohl „überprüft“?

Zwei Frauen winken mir von Weitem zu. Auf diese Distanz sehe ich nicht besonders gut. Ist schon lange so. Ich winke zurück. Wem auch immer. Und drehe Richtung Buffet ab. Ein weißer Sommergespritzter. Draußen ist zwar Oktober und das Wetter wechselt zwischen viel zu warm und viel zu kalt für diese Jahreszeit, aber hier drin ist es heiß. Ich mag das. Wenn ich etwas zu trinken kriege.

Ich bin gespannt, was sich Reisinger für die zweite Halbzeit ausgedacht hat. Noch einmal Othello. Ehrlich gestanden hätte ich damit leben können, dass das Liebespaar tragischerweise tot und Jago gefasst ist. Und Aus und Ende und Abfahrt von Zypern.

Dass Othello hier von einem Zyprer gespielt wird, habe ich dem Programmheft entnommen. Und dass der „Mohr“ bei Shakespeare nie als Schwarzer, sondern als Maure, Araber oder Vergleichbares gedacht gewesen sei. Eben als ein Dunkler, Fremder, Anderer.

Ich werde Paulus Reisinger beim Empfang nach der Premiere treffen. Und vielleicht auch Vesna. Schade, dass sie die Aufführung verpasst. Ich hätte gerne gewusst, was sie dazu sagt. Ich werde für meine Reportage über den neuen Othello jedenfalls mit einigen der Mitwirkenden reden. Desdemona kommt aus Schweden. Groß und blond und schön. Am Ende nackt. Und tot.

Gerade als ich den ersten kräftigen Schluck von meinem Gespritzten mache, kommt das Zeichen, dass die Pause aus ist. Viele Beflissene, die sich an mir vorbeidrängeln.

„Gelungene Metapher“, höre ich und: „Wenn die EU nur so schön wäre wie die Desdemona.“ – „Hast schon recht, sie müsste sexyer sein.“ – „Kein Wunder, dass sie sich bei den vielen Sprachen nicht verstehen.“ – „Der arme Shakespeare kann sich nicht mehr wehren.“ – „Wir haben für nachher im ‚Hold‘ einen Tisch bestellt.“ – „Ich hab gedacht, der Reisinger spielt mit, mir hat er als Kommissar im Fernsehen total gut gefallen.“ – „Der wird inzwischen auch ganz schön alt geworden sein.“ – „Eigentlich hätte die eine EU-Kommissarin kommen sollen, aber die haben gerade wieder irgendeine wichtige Sitzung, steht in der Zeitung.“

Eine Stunde später sind wir wieder am Anfang angelangt.

Jago ruft auf Italienisch: „Erwacht; hallo! Brabantio! Diebe! Diebe! – Nehmt Euer Haus in acht, Eu’r Kind, Eu’r Geld! He, Diebe! Diebe!“

Dahinter tauchen zwei in Schottenröcken auf, sie stellen einen warnenden Chor dar und begleiten alles, was im Stück geschieht und nicht geschehen sollte, mit ihren Kommentaren. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen. – Kunst der Maske? Zwillinge? „Und wieder, wieder“, singsangen sie auf Griechisch, „erkennt, wer wirklich ist der Dieb, und wehrt des falschen Hochmuts. Was einzig zählt, es ist die Lieb’. Es ist die Lieb’. Und wieder, wieder.“ Auf dem Videoscreen wogendes Meer und Othello und Desdemona Hand in Hand. Sozusagen Happy End und Anfang zugleich.

Und wieder, wieder Applaus.

Tja, wenn sich bloß alle Missverständnisse durch einen schottischgriechischen Chor vermeiden ließen. Ich suche den Weg zum Empfang. Er soll auf der Bühne stattfinden. Ich lande in einer Garderobe. Emilia, das heißt, die spanische Schauspielerin, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, starrt mich an. Was, verdammt, heißt „Empfang“ auf Spanisch?

„Rezeption?“, stammle ich. Es klingt saudämlich.

Die Schauspielerin lacht. Deutet, dass ich wieder hinausmüsse und hinunter in die Halle, sagt etwas in schnellem Spanisch, das ich nicht verstehe. Mist, sie glaubt, ich will hinaus und habe mich verlaufen.

„No, Rezeption!“, sage ich, „Gracias.“

„Oh, recepción! Recibimiento! You want to go to the party?“

Ich nicke. Klar, Party. Das versteht man überall.

„You go with me. I am ready.“ Ihr Englisch hat einen charmanten Akzent. Sie begleitet mich zur Tür hinaus. In welcher Sprache die Schauspieltruppe miteinander redet, will ich von ihr wissen, als wir einen schmucklosen Gang entlanggehen. Meistens Englisch, aber der Italiener, der den Jago spielt, und sie sprechen spanisch miteinander. Und der Zyprer und die Griechen natürlich griechisch. Und der Franzose hat eine deutsche Mutter. „No Problem!“

Wenig später stehe ich mit einem Glas Prosecco am Bühnenrand. Die Truppe feiert ausgelassen, es ist gesteckt voll. Einige Fotografen sind da, auch unser „Magazin“ hat einen geschickt. Wir haben einander zugewunken, das reicht. Unser Außenminister gibt der Society-Reporterin ein Interview, rund um die Kamera stehen die Menschen noch etwas enger. Vesna habe ich bisher nicht gesehen. Aber die findet schon her. Da bin ich mir sicher. Gehört nahezu zu ihrem anderen Job, alles Mögliche zu finden. Zu zweit ist es auf solchen Partys deutlich lustiger. Schon allein deswegen, weil man dann besser über die anderen Leute tratschen kann. Ich meine … diese alternde Soubrette, die überall dabei ist und nun versucht, endlich vor die Kamera zu kommen. Und der Autor, der ein Glas nach dem anderen leert, umgeben von einigen, die ihm zuhören. Man kann ihm ansehen, dass ihn Othellos Erben nicht eben beeindruckt haben. Oder hat er Magenschmerzen?

Ich sehe mich nach der Kellnerin um. Ein weißer Gespritzter wäre mir lieber als Prosecco. Den liebe ich im Veneto, aber dort schmeckt er auch eindeutig besser. So viel, wie auf der ganzen Welt verkauft wird, kann unmöglich im kleinen Prosecco-Gebiet wachsen. Und abgesehen davon: Hier hat es sicher dreißig Grad, da ist ein wenig Wasser im Wein gar nicht dumm.

„Na Servus!“ Ich drehe mich um und werde links und rechts geküsst. Anabel Fischer. Wir haben gemeinsam im „Magazin“ gearbeitet, aber inzwischen ist sie, zumindest sieht sie das so, „aufgestiegen“: Moderiert jetzt ein EU-Magazin im Fernsehen. Total langweilig. Und besserwisserisch. So, als ob ihr immer klar wäre, was läuft, worum es geht, was richtig, was falsch, was die Wahrheit ist.

„Na, wieder einmal auf Gesellschaftsreportage unterwegs?“, fragt sie.

Ich habe als Lifestyle-Journalistin begonnen, aber inzwischen bin ich seit Jahren Chefreporterin. Weiß sie natürlich. Wobei es ihr inzwischen peinlich ist, überhaupt je beim „Magazin“ gearbeitet zu haben. Sie vergisst es gerne in ihrem Lebenslauf. Okay, bei uns gibt es viel Boulevard, entsprechend hohe Verkaufszahlen und viel zu viel Werbung für meinen Geschmack, aber auch etwas, das ich als ordentlichen Journalismus empfinde. Mein Lieblingsfreund Droch, der Leiter der Politikredaktion, hat viel damit zu tun. Auch ich bemühe mich. Zumindest meistens.

„Oh“, antworte ich. „Darfst du jetzt Europa-Klatsch machen?“

Sie sieht mich säuerlich an. Seit ich sie zum letzten Mal gesehen habe, hat sie sicher fünf Kilo abgenommen. Dabei war sie schon früher alles andere als dick. „Die österreichische EU-Vertretung hat mich eingeladen. Für meine Sendung ist das natürlich nichts. Gut gemeint, bestenfalls. Aber mit einem mittelprächtigen Theaterstück durch die EU zu tingeln, wird die europäischen Probleme nicht lösen.“

„Mittelprächtig? Du sprichst von Shakespeare?“

„Unter anderem. Ich halte ihn für ziemlich überschätzt. Ich meine, sieh ihn dir bloß im Kontext seiner Zeit an: ein Boulevard-Schreiber, einer, der wollte, dass ihn die Massen lieben. Er hat den Affen Zucker gegeben, wenn du verstehst, was ich meine. Das funktioniert immer noch. Und Reisinger …“ Sie verzieht den perfekt geschminkten Mund. „Ein alternder Fernsehschauspieler. Vielleicht meint er es ja wirklich gut, aber vor allem wird er wohl ein Engagement gebraucht haben.“

„Er hat das ganze Projekt entwickelt.“

„Und so ist es dann ja auch geworden.“ Anabel entdeckt den Autor, der inzwischen mit bedeutsam gerunzelter Stirn an einer Bühnendeko-Laterne lehnt, und rauscht davon. Ich hoffe, die venezianische Straßenlampe ist massiv genug. Wobei es ganz witzig wäre, würde er damit umkrachen. Und Anabel mitreißen. Vielleicht der einzige Weg, um sie überhaupt zu bewegen. Wenn sie es nicht mag, gefällt mir das Stück gleich noch besser. Und ich werde Reisinger mögen. – Wo ist er überhaupt? Ich habe ihn bloß kurz gesehen, am Anfang, als er seinen Darstellern zugeprostet hat. Natürlich sind auch andere auf die Idee gekommen, über ihn und die Produktion zu schreiben. Ich sehe mich um. Ewig will ich nicht bleiben. Zu Oskar habe ich gesagt, dass ich spätestens um Mitternacht daheim bin. Ist natürlich keine Verpflichtung, aber ein gemeinsames spätes Glas Wein wäre nett. Dazu, dass er mitgeht, habe ich meinen Mann nicht gebracht. Er liebt Massenaufläufe wie diesen hier nicht besonders. Außerdem war klar, dass ich noch etwas arbeiten muss. Und er hängt momentan in einem ziemlich komplizierten Fall drin. Irgendeine Firma, die mit einer anderen fusioniert hat und jetzt erst draufkommt, an welchen zwielichtigen Subunternehmen und Briefkastenkonstruktionen ihr Vertragspartner beteiligt ist. Wir sind eben eigenständig geblieben. Zum Glück. Hält eine Beziehung frisch, nicht dauernd alles gemeinsam zu machen.

Vesna hat es offenbar nicht geschafft, zu kommen. Ich gehe auf die Suche nach Reisinger oder jemandem, der mich zu ihm bringen kann. Und entdecke einen alten Bekannten. Hans Tobler. Autohändler, der sehr erfolgreich Luxuswagen und amerikanische Oldtimer verkauft. Vielleicht vertraut man ihm, weil er gar so unauffällig aussieht. Ein wenig kleiner als ich, Schnurrbart, braun-grau melierte Haare, eher schmächtig. Früher hat er einmal Schlagzeug gespielt. Vesna hat vor einigen Jahren mit ihm geflirtet, zwischendurch hat sie ihn dann für ziemlich verdächtig gehalten. Zu ihrem Geburtstag hat er ihr einen Zulassungsschein für das absurde Motorrad besorgt, das meine Freundin noch aus Bosnien mitgebracht hat. Mischmaschine aus allen möglichen Teilen, Marke Eigenbau. Sehr laut, ziemlich schnell und, wenn es nach mir geht, viel zu gefährlich. Tobler hätte ich hier nun wirklich nicht erwartet. Er lächelt mir zu, stößt mit mir an. Eine dunkle Flüssigkeit in einem Prosecco-Glas. Er trinkt offenbar noch immer keinen Tropfen Alkohol. Er mag Cola. Passt ja auch zu Ami-Schlitten.

„Und was machst du hier?“, frage ich ihn.

„Feiern. Aber ich hab mir sogar das Theaterstück angesehen“, grinst er. „Die Zwillinge im Schottenrock könnte man ganz gut brauchen. So als weise Warner vor allem Möglichen.“

„Sind es wirklich Zwillinge?“

„Sogar eineiig. Kommen aus Griechenland. Paulus hat gefunden, Kilts würden genau passen. Und außerdem gibt’s ja griechische Soldaten, die in Faltenröcken vor wichtigen Gebäuden stehen.“

„Paulus? Du kennst Reisinger?“

„Und ob. Erstens natürlich aus dem Fernsehen. Ich mag Krimiserien. Haben so wenig mit der kriminellen Realität zu tun. Und dann noch wegen ‚Sonnenblumen‘.“

„Weswegen? Klingt nach einem Code.“

Hans Tobler seufzt. „Hast den Film wohl auch nicht gesehen. Haben die wenigsten. Eine Komödie, die er nach dem Ende der Krimiserie gedreht hat. Er fährt darin einen wunderschönen offenen Mustang. Habe ich ihm geborgt. Trotzdem ein Flop, das Ganze. Im Kino ist der Film nicht lang gelaufen und im Fernsehen haben sie ihn im Nachtprogramm versteckt. Dabei: So schlimm war er gar nicht. Ich habe ihn eigentlich ganz lustig gefunden.“

Ich lache. „Noch nie etwas davon gehört, ich gebe es zu. – Und warum bist du bei ‚Othello‘ dabei? Oldtimer war keiner auf der Bühne.“

„Weil ich mich mit Paulus gut verstehe. Er ist ein interessanter Typ. Vielseitig. Und weil ich die österreichischen Aufführungen sponsere. Du solltest das Programmheft genauer lesen! ‚US-Speed‘ steht gleich neben dem Logo der EU. Und da soll noch einer sagen, dass ich kleiner Mechaniker es nicht weit gebracht habe!“

„Und wie hat es dir gefallen?“

„Ziemlich gut. Ich mag Theater, wenn sich etwas abspielt. Und die Sache mit der Riesenleinwand ist großartig. Weil sonst sieht man die Details nur, wenn man einen Feldstecher oder so ein dämliches Opernglas hat. Dieses Wahnsinnsgesicht der Desdemona! Und dann das Rot! Alles rot! Und dass sie in allen möglichen Sprachen reden, stört mich nicht. Weil so genau höre ich sonst auch nicht immer zu. Ganz abgesehen davon, dass man nie alles versteht. Da ist der Text auf der Leinwand praktisch. – Ich nehme an, du schreibst drüber?“

Ich nicke. „Hast du Reisinger schon gesehen?“

„Nur ganz kurz, beim Anstoßen. – Wie geht’s eigentlich deiner Freundin Vesna Krajner?“

„Sie wollte heute Abend mit dabei sein, aber sie hat eine ihrer SMS geschickt, bei denen mir nie klar ist, was wirklich los ist.“

„Ich finde, sie spricht hervorragend Deutsch. Und ihr leichter Akzent ist richtig sympathisch.“

„Das hab ich nicht gemeint, nur dass sie es liebt, sich so kurz zu fassen, dass ich mich ärgere, weil ich nichts erfahre.“

„Ist sie noch mit diesem Fernsehproduzenten zusammen?“

„Valentin Freytag. Klar.“

„Eine schöne Villa. Und jede Menge Stil. Das verstehe ich schon. Darauf fliegen die Frauen.“

Die meisten Männer quatschen solches Zeug, wenn sie zu viel getrunken haben. Oder wenn … Ich hatte damals den Eindruck, Tobler sei ein wenig in Vesna verliebt. Jetzt streckt er sich, lächelt und winkt.

„Wenn man von der Sonne spricht …“, sage ich und winke auch.

Meine Freundin trägt ein eng anliegendes schwarzes Kleid, ganz einfach geschnitten. Es ist so ein Ding, das nicht knittert. Sie hat es immer im Auto und zieht sich dort bisweilen um. Praktisch. Ich würde darin allerdings aussehen wie eine verbrannte Knackwurst. Sie kann es sich leisten. Seit sie selbst nur mehr selten bei Kunden putzt, joggt sie. Und das oft mehr als eine Stunde lang. Ich sollte auch wieder regelmäßig laufen. Aber geht sich bei meinem Leben nicht so gut aus. Rede ich mir zumindest ein. Tobler küsst Vesna auf die Wangen. „Sag nicht, du hast das Stück gar nicht gesehen“, sagt er zu ihr.

Weiß er doch.

„Oh, da war keine Zeit. Sonderauftrag. Delikat.“ Sie lächelt geheimnisvoll.

Okay, sie macht so etwas nicht nur bei mir.

„Und?“, fragen wir beide.

Vesna deutet auf das Glas des Autohändlers. „Cola. Ist besser als lauwarmer Sekt.“

„Kommt gleich“, sagt Tobler und schießt davon.

„Er hat nach dir gefragt“, sage ich.

„Und jetzt ich bin da“, antwortet Vesna ungerührt. „Was macht er hier?“

„Herumstehen.“

„Ach so.“

Ich nehme einen Schluck. Wirklich warm. Aber trotzdem besser als Cola. Vesna wirkt nicht, als wollte sie mehr wissen. Ich nehme noch einen Schluck. Mist. Ich bin nicht gut bei so etwas. Ich will erzählen. Und ich erzähle, woher der Autohändler Reisinger kennt. Tobler hat unterdessen eine Kellnerin organisiert, die mit einem Tablett samt Cola-Glas, einem Glas mit Eiswürfeln und einem Glas Rotwein kommt. „Weil ich nicht genau wusste, was dir am liebsten ist“, sagt er in Vesnas Richtung. „Wenn, dann trinkst du lieber Rotwein, nicht wahr?“

Sie sieht ihn verblüfft an. „Das hast du dir gemerkt? Stimmt. Aber jetzt trinke ich Cola. Mit Eis.“

„Ich hätte gerne einen weißen Sommergespritzten“, werfe ich ein.

„Bitte“, sagt Tobler zur blonden Servierkraft und drückt ihr einen Geldschein in die Hand. Wegen mir geht er nicht persönlich. Ich schnappe mir das Glas Rotwein. Nur für den Fall, dass sie nicht wiederkommt. Wir stoßen an.

„Und was war das für ein Sonderauftrag?“, will Tobler von Vesna wissen.

„Ach“, meint meine Freundin, „so etwas Besonderes war es auch wieder nicht. Alter reicher Knacker, ich darf Firma nicht nennen, aber ist ziemlich groß, hat junge Freundin und will sich scheiden lassen. Frau ist ziemlich sicher, dass ihn die Junge von vorne und hinten betrügt und nur sein Geld will.“

Tobler nickt. „Eifersucht, klar.“

„Eben nicht. Sie sagt, wenn er noch einmal jung sein möchte, er soll versuchen. Sie sind beide über siebzig. Aber er darf Firma nicht schaden. Und sich selbst auch nicht.“

„Du nimmst ihr das ab?“, frage ich.

„Ja. Üblicherweise ich mag nicht nach Beziehungskram forschen, aber in diesem Fall mir ist die Frau sympathisch. Hat viel zu großer Firma beigetragen, arbeitet jetzt noch dort.“

„Und?“, fragt Tobler.

„Sieht so aus, als wäre alter Mann ziemlicher alter Depp“, grinst Vesna.

„Nur weil er sich verliebt?“, kontert Tobler. „Ich war schon ein paarmal ein Depp und nicht einmal alt. Aber insgesamt zahlt es sich aus.“

Vesna sieht ihn spöttisch an. „Ach, ich erinnere mich. Superauto von Ehefrau zwei oder drei, das herumgestanden ist, weil sie ein anderes hat wollen. Und dann war sie ganz weg. – Es zahlt sich aus?“

„Oh, die hab ich beinahe vergessen“, sagt Tobler und lacht.

„Mira Valensky?“, fragt eine junge Frau. Ich nicke. „Paulus Reisinger hätte jetzt Zeit für Sie. Er wartet dort drüben.“ Sie deutet in Richtung der Kulissen.

Wir sitzen in einer Ecke hinter der Bühne. Zwei Stühle, ein Tischchen, das wirkt, als wäre es eine Requisite aus einem Tschechow-Stück. Oder einem von Schnitzler. „Hier haben wir Ruhe und kriegen trotzdem mit, was bei der Party läuft“, hat Reisinger gesagt. Stimmengewirr, viele Schatten, die sich vor den Kulissen hin und her bewegen, ab und zu jemand, der kommt und dann wieder abdreht. Reisinger gibt mir das Pressematerial, das ich ohnehin schon in der Redaktion habe, redet begeistert von der „europäischen Dimension“ seines Projekts. Und davon, dass letztlich auch die EU-Finanzkrise eine Vertrauenskrise à la Shakespeare sei. Das Licht hier ist nicht besonders gut. Es wirkt, als hätte er sich ganz gut gehalten. Sieht kaum älter aus als damals in der Fernsehserie. Vielleicht hat er eine Spur zugelegt. Aber ein richtig schlanker Typ war er ohnehin nie. Die Haare noch immer dunkel, gerade so lang, dass es nicht affig wirkt. – Färbt er sie?

„Soll ich einen Fotografen organisieren?“, fragt er.

„Wir haben jemanden da. Und meine Lieblingsfotografin war bei der Generalprobe dabei. Ich mag die klassischen Interviewbilder nicht so.“ Ich lege mein Telefon auf das Tischchen zwischen uns, schalte die Aufnahmefunktion ein und deute darauf.

Er lächelt. „Schon in Ordnung, ich muss nicht groß im Bild sein. Außerdem wirkt man in der Bewegung ohnehin meist besser. – Zumindest dynamischer.“

Scheint ein wenig eitel zu sein. Aber wer ist das nicht. Als Schauspieler ist es vielleicht geradezu Berufsvoraussetzung.

„Sie sind siebenundfünfzig? Oder fragt man so etwas nicht?“ Offenbar ist mir das Glas Rotwein nach dem warmen Prosecco ein wenig zu Kopf gestiegen. Dabei wollte ich doch nett zu ihm sein. Schon wegen der Fernseh-Zicke Anabel.

Er sieht mich irritiert an. „Korrekt. – Ich meine, das Alter. Nicht, dass man nicht fragt. Warum nicht? Steht ja auch überall. Und lässt sich nicht verbergen.“

Ich lächle. „Sie sind gut in Form.“

Paulus Reisinger seufzt. „Und jetzt kommt wieder der Kommissar Hinter. Alle vergleichen mich mit meinem Bild von damals. Dabei ist das fünf Jahre her. Und ich hab eine Menge gemacht inzwischen.“

„So eine Rolle prägt eben. – Und ich weiß: Sie haben eine Komödie gedreht. ‚Sonnenblumen‘.“

Er sieht mich nicht eben begeistert an. „Wollten Sie mit mir nicht über ‚Othellos Erben‘ reden?“

„Klar, ich möchte bloß, dass Sie wissen, dass ich schon weiß, was Sie gemacht haben.“ Oh, meine Güte. Dieses Interview hat gar nicht gut begonnen. Ich sollte mich dem Getränk mit der dunklen Farbe annähern, in dem kein Alkohol ist.

„Ich weiß, dass das Müll war“, kommt es zurück. „Es war das Schlimmste, was ich je gedreht habe. Aber wenn so eine Serie ausläuft, dann hat man plötzlich nicht sehr viele Optionen. Dafür Existenzängste. Und zwei Exfrauen, die Geld haben wollen.“

Ich lächle ihn beruhigend an. „Verstehe ich gut. Ich hab den Film nicht gesehen, Hans Tobler hat mir davon erzählt. Ihm scheint er übrigens gefallen zu haben.“

Paulus Reisinger entspannt sich. „Woher kennen Sie Hans? Ich mag ihn sehr. Ganz abgesehen davon, dass ihm am Film sicher sein Mustang am meisten gefallen hat. Der war besser als ich und der Rest zusammen.“

„Wissen Sie, dass er in jungen Jahren Schlagzeug gespielt hat? Dass er davon geträumt hat, mit einer Band Erfolg zu haben?“

Reisinger nickt langsam. „Er hat mir einmal davon erzählt. Auch davon, dass sich sein Bandkollege umgebracht hat. Und von der hochtalentierten jungen Sängerin. – Er spielt jetzt übrigens in einer Hobby-Formation, und zwar hervorragend. Alte Schlager, ein bisschen Jazz. Ich würde sehr gern etwas mit ihm gemeinsam machen. Aber das nächste Jahr ist noch für ‚Othello‘ reserviert.“

„Diese Produktion ist Ihnen besonders wichtig, nicht wahr?“

Er nickt und lächelt. „Und stattdessen rede ich vom Alter und der Vergangenheit.“ Er sieht sich um. „Irgendwo muss ich mein Glas verloren haben. – Ich bin begeistert von der Idee, die hinter diesem Theaterstück steht. Nicht, dass man nicht vieles besser umsetzen könnte … Das hab ich heute schon in mehreren Interviews erklärt …“

„Die Kulturjournalisten waren nicht alle begeistert?“

Er lacht. Ein offenes, fröhliches Lachen. „So kann man es sagen. – Susi!“ Die junge Frau, die mich zu ihm gebracht hat, kommt näher. „Was hätten Sie gerne zu trinken?“, fragt er mich.

„Einen Sommergespritzten, wenn es geht.“

„Wunderbar. Bitte, Susi. Am besten einen Literkrug und zwei Gläser.“

Ich muss ihn erschrocken angesehen haben. „So lange …“

Er lacht schon wieder. „Keine Sorge, ich lasse Sie schon bald wieder aus. Aber ich hab Durst.“

„Mir hat die Idee mit dem Videoscreen sehr gut gefallen. Dieses Rot, wenn Desdemona stirbt …“

„Und es ist ganz wichtig, dass alle in ihrer Muttersprache reden. Sie verstehen sich und verstehen sich nicht. Aber es gibt Mittel und Wege, dass alle einander verstehen. Sie sind simpel: hinsehen, zuhören. Das Andere akzeptieren. Neid nicht zulassen und allen misstrauen, die das Vertrauen zueinander zerstören wollen. Darum geht es! Auch im vereinigten Europa! Gerade jetzt!“

Wenn das keine Euphorie ist. „Noch immer stecken einige Staaten in einer schweren Krise. Gar nicht zu reden von der Jugendarbeitslosigkeit, neuen Rechtsradikalen wie in Griechenland oder Ungarn, den Streiks, den gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die EU wirkt da nicht besonders kompetent“, gebe ich zu bedenken.

„Die Finanzkrise ist eines. Dafür bin ich kein Experte. Aber ich kann Ihnen sagen, dass viele selbst hier in der besten Absicht gehandelt haben. Nicht, um sich zu bereichern, sondern um Geld für die Gemeinschaft, fürs Gemeinwohl zu lukrieren. Blauäugig, das kann schon sein, und sicher hat es auch Abzocker gegeben. Aber das, gegen das wir jetzt antreten müssen, ist die Vertrauenskrise.“

„Sie meinen, die Deutschen sollten den Griechen endlich glauben, dass sie ihr Geld samt Zinsen zurückbekommen?“

„Was weiß ich, über das Geld müssen Sie mit jemand anderem reden. Aber wir müssen solidarisch sein. Und in die Kraft eines einheitlichen Europa vertrauen. Ich meine: Was gibt es Besseres, als nach den großen Kriegen endlich zu begreifen, wie nahe wir einander sind und wie gut wir mit all unseren verschiedenen Möglichkeiten gemeinsam leben können? Dann hätten die Rechten viel weniger Zulauf.“

„Und deswegen haben Sie ‚Othellos Erben‘ gemacht und spielen es, mit Unterstützung der EU, in beinahe allen EU-Staaten.“

Es hat wohl ein wenig spöttisch geklungen, aber auf schwärmerische Begeisterung reagiere ich einfach so. Er sieht mich erschrocken an. „Ich weiß schon, dass ein Theaterstück nicht die Welt verändern kann. Aber es kann eine Idee von der Welt sichtbar machen. – Wenn es gut geht. Jede und jeder sollte dazu beitragen, was möglich ist. Das Stück ist mein Anteil. Mag sein, nicht gut genug. Mag sein, zu politisch. Oder zu wenig politisch. Mit zu vielen Metaphern. Oder zu heutig. Hab ich alles schon durchklingen gehört, bei den Journalistenfragen, den Kritiken und Reportagen.“

„Das Publikum heute war doch ziemlich begeistert. Und in Italien und Deutschland hat es sehr positive Kritiken gegeben“, tröste ich ihn.

„Ja. Und es war mir schon klar, dass nicht alle jubeln werden. Die EU ist nicht besonders beliebt. Da kannst du mehr mit einem kritischen Chaosstück reißen. Aber was passt besser als der alte Othello! Dazu noch Zypern! Die Insel der Aphrodite! Ihre wechselvolle Geschichte! Krise! Hoffnung! Deswegen hab ich das Stück dann noch mal, verkehrt herum, erzählt. Damit klar ist: Wenn wir mit geschärften Sinnen und offenem Herzen durchs Leben gehen, dann kann man Gefahren umschiffen, verhindern. Liebend bleiben.“ Er starrt mich an.

„Liebend bleiben“, wiederhole ich. „Das klingt schön.“

„Und deswegen auch der Chor, den ein paar Kritiker so verspottet haben. Ein griechischer Chor! Was für ein Zeichen! Das alte Kulturvolk wird wieder in seiner Weisheit sichtbar gemacht! Die Klugen, die warnen! Im Gegensatz zu den Geldverschwendern, Misswirtschaftern und Nehmern und Verlierern und Radikalen, als die die Griechen in den letzten Jahren überall dargestellt wurden!“

Ich nicke und verkneife mir die Frage nach den Schottenröcken.

„Am Schluss des Stücks stehen Othello und Desdemona wieder am Anfang, sie haben noch eine Chance … Jeder sollte immer wieder eine Chance haben!“

Ich nicke. „Waren Sie immer schon so begeistert vom gemeinsamen Europa?“

„Ich sehe natürlich auch die Fehler, die Unzulänglichkeiten. Aber die EU ist viel besser als ihr Ruf. Und ich möchte von ihren faszinierenden Möglichkeiten erzählen. Friede, sozialer Ausgleich. Das alles ist drin, wenn wir an uns glauben. Als Europäer.“

Was hat Anabel gesagt? Vielleicht meine er es ja wirklich gut, aber vor allem werde er ein Engagement gebraucht haben. Wirkt nicht, als könnte man diese Begeisterung vortäuschen. Ich frage trotzdem: „Wie lange sind Sie mit dem Stück unterwegs? Wer finanziert es?“ Gehört einfach zum journalistischen Handwerk. Und bringt ihn vielleicht wieder ein wenig auf den Boden.

Er runzelt die Stirn. „Vorstellungen in vierzehn EU-Ländern sind schon fix, mit anderen gibt es Verhandlungen. Die EU hat dafür die Basis-Finanzierung aufgestellt, aber wir brauchen vor Ort zusätzlich Sponsoren. Oder eben Gelder der Theater, in denen wir spielen. – Eines ist jedenfalls klar: Das ist kein Propagandastück, wie auch schon zu lesen war! ‚Othello‘! Ich bitte Sie! Es geht ja gerade darum, was alles passieren kann, wenn Gier und Verrat und Vorurteile und falsch verstandene Ehre wichtiger werden als die Liebe!“

Ich nicke. Ich habe mein Glas ausgetrunken. Im Krug sind gerade noch zwei Zentimeter Flüssigkeit. Ich habe gar nicht bemerkt, wann Reisinger sich nachgeschenkt hat. „Danke“, sage ich. „Auch für den Gespritzten.“

„Sie … schreiben keine klassische Theaterkritik, oder?“

„Nein, es wird eine Reportage über das Projekt, als Teil unserer Serie über die Menschen in der EU. Ich fliege übrigens demnächst nach Zypern. Ich werde über das alltägliche Leben der Zyprer nach dem Bankenzusammenbruch schreiben.“

Paulus Reisinger strahlt mich an. „Zypern. Wunderbar. Meine Liebste lebt dort. Zumindest seit einiger Zeit. Meistens. Sie ist die Leiterin der EU-Taskforce zur Umsetzung des Hilfsprogramms.“

„Der Sparpakete.“

„Ja, das auch.“

„Sie ist Österreicherin?“

„Nein, Deutsche.“

„Sehr beliebt sind die dort nicht, soviel ich weiß.“

„Dagmar schon. Sie sollten sie unbedingt treffen. Ich werde das arrangieren! Wann fliegen Sie? Übernächste Woche bin ich dort!“

„Kann sein, dass wir uns sehen. – Hat Ihre Europa-Begeisterung mit Ihrer Dagmar zu tun?“

„Nein, oder doch … aber anders. Ich hatte die Idee mit dem Stück und war in Brüssel, um dafür Geld aufzutreiben. Und da ist sie mir über den Weg gelaufen. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Noch nie im Leben …“ Er starrt mich wie ertappt an. „Aber das wollen Sie wohl nicht so genau wissen.“

„Und da waren zwei Lieben vorher, nicht wahr?“

„Woher wissen Sie?“

„Sie haben davon erzählt. Und dass Sie zahlen müssen. Obwohl Sie wenige Engagements hatten.“

„Oh. – Werden Sie das schreiben?“

„Nein. Aber Ihre Freundin in Zypern würde ich gerne erwähnen.“

„Ich weiß nicht …“, kommt es langsam zurück. „Es ist kein Geheimnis. Aber da sollte man sie fragen. Sie ist eine hochrangige EU-Beamtin. Da ist man besser vorsichtig. – Die Finanzierung des Stücks hatte übrigens gar nichts mit ihr zu tun. Die lief über den Wirtschafts- und Sozialausschuss.“ Er zieht eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und kritzelt eine E-Mail-Adresse darauf, lächelt wieder.

„Also, bitte: Fragen Sie sie. Und besuchen Sie uns! Das wäre großartig! Es gibt so viel zu erzählen über dieses Land! Ich habe Hans auch schon gesagt, dass er endlich einmal kommen muss!“

„Er ist sicher noch irgendwo hier auf der Party. Und ich nehme an, meine Freundin ebenso. Gehen wir sie doch einfach suchen.“

Reisinger schüttelt den Kopf. „Ich habe noch ein letztes Interview. Ich mache, was ich kriegen kann. Für unser Projekt. Schon möglich, dass gewisse Leute das lächerlich finden. Aber ich bin eben so.“

„Ich finde es gar nicht lächerlich. – Vielleicht bis später.“

Die Fete ist noch in vollem Gang. Ich weiß nicht so recht, was ich von Reisinger halten soll. Ein bisschen viel Emotion. Besser, dass Vesna nicht mit dabei war. Sie schätzt übertriebene Gefühlsausbrüche noch weniger als ich. Wo steckt sie? Die Soubrette hat sich in einen der wenigen Sessel gesetzt und sieht schon ein wenig derangiert aus. Kein Problem. Keine Kamera mehr in Sicht.

Ich gehe nach vorne bis zum Bühnenrand. Was muss das für ein Gefühl sein, hier zu stehen und zu deklamieren? „Ha! Regst du dich nicht mehr? – Mich selbst tötend sterbe ich nach deinem Kuss.“ Oder so irgendwie. Nicht gerade ein Lustspiel. Aber Reisinger hat es umgedeutet. So, dass es noch Hoffnung gibt. Samt Griechen im Schottenrock. – Warum nicht?

Erschrocken bemerke ich, dass im Zuschauerraum einige Leute sind und mich anstarren. Ich kneife die Augen zusammen. Vesna. Und der Autohändler. Ich gehe zu ihnen nach unten.

„Party ist von da viel besser“, sagt Vesna.

„Und man kann sitzen“, ergänzt Hans Tobler. „Wie war das Interview mit Paulus?“

„Er ist … nett. Und er gehört zu den wenigen, die sich noch so richtig für eine Sache begeistern können.“

„Er ist Schauspieler.“

Ich sehe ihn irritiert an.

Tobler lacht. „Damit will ich nicht sagen, dass er das bloß spielt. Sondern dass ein Schauspieler fähig sein muss zu den großen Gefühlen, damit er sie spielen kann.“

Vesna nickt und lächelt ihn an.

„Er hat gemeint, du sollst ihn dringend in Zypern besuchen. – Kennst du seine Freundin? Sie ist für die EU dort.“

„Er hat mir von ihr erzählt, genau gesagt erzählt er eigentlich immer von ihr, wenn er nicht gerade über sein ‚Othello‘-Projekt redet. Ich habe selten jemand getroffen, der so verliebt ist.“

„Sehr lange scheinen sie einander noch nicht zu kennen.“

„Ist schon richtig. Ein Jahr oder so. Er ist einer, der mit Beziehungen bisher kein großes Glück hatte. Er war mit dieser Deborah Weiss verheiratet, du kennst sie sicher aus allen möglichen Fernsehserien. Und als das mit dem Kommissar vorbei war, ist sie mit dem erstbesten Regisseur abgehauen. Jetzt kriegt sie sogar Unterhalt. Sie hat dem Gericht klargemacht, dass sie wegen ihm auf viele Engagements verzichtet hat. Dass sie immer seine Karriere vor ihre gestellt hat. Was ein totaler Quatsch ist.“

Irgendwie erinnere ich mich an die Geschichte sogar, ging durch alle Klatschmedien.

„Na ja. Jetzt scheint er sein Glück gefunden zu haben.“

„Deutsche EU-Beamtin. Auf Erstes klingt nicht besonders spannend“, mischt sich Vesna ein.

„Noch dazu eine, die die Hilfsgelder und die Sparpakete überwacht“, ergänze ich.

„Vielleicht hat er es gern streng?“, grinst Vesna.

„Sie ist sogar die Chefin in dem Hilfszirkus. Bevollmächtigte der EU oder so“, murmelt Hans. „Ich hab mich auch schon gefragt, wie Paulus zu der gekommen ist. Andererseits: Es muss schon welche geben, die auf unser Geld aufpassen.“

Ich lache. „Reisinger scheint viel Sympathie für die Griechen und Zyprern zu haben.“

„Weiß ich, manchmal ist er eben ein wenig naiv. Wobei eines klar ist: Die Hilfsgelder sind Kredite. Und wenn Zypern sie zurückzahlt, dann bekommt die EU sogar Zinsen. Nicht sehr viel, aber immerhin. Die Frage ist bloß, ob sie zurückgezahlt werden.“

„Darüber wird Reisingers Liebste schon wachen. Und er steuert die großen Gefühle bei. Eigentlich keine üble Mischung.“

Der Autohändler nickt. „Ganz abgesehen davon, dass sie auf den Fotos ziemlich gut aussieht.“

„Blond?“, fragt Vesna.

„Wie kommst du darauf?“, antwortet er.

„Weil Männer das gut finden.“

„So ein Unsinn.“

„Also was hat für Haarfarbe?“

„Blond. Aber …“

Ich gähne und bin mit einem Mal zum Einschlafen müde. Ich stehe auf.

„Was, du willst schon gehen?“, fragt Vesna erstaunt.

„Es ist nach Mitternacht.“

„Und das ist Bühnenparty. Geht erst jetzt so richtig los.“

„Finde ich auch“, sagt Tobler.

Ich winke den beiden.

[ 2. ]

Irgendwie habe ich es wieder einmal geschafft, spät dran zu sein. Ich hetze durch das Großraumbüro des „Magazin“ Richtung Dschungelecke. Hier habe ich mir wenigstens etwas Privatsphäre geschaffen. Ich biege die Blätter eines meiner Riesenphilodendren zur Seite und sehe, dass jemand in meinem Sessel sitzt und aus dem Fenster schaut.

„He“, sage ich wenig gastfreundlich.

Der Jemand fährt herum und entpuppt sich als Britta Lang. Die hat mir gerade noch gefehlt. „Ich muss in die Redaktionskonferenz. Was machst du hier?“

„Oh. Klaus hat gemeint, du könntest mir sicher Material geben. Du warst gestern doch bei dem Theaterstück, ich hab es verpasst!“ Großer Augenaufschlag.

Aber ich bin die falsche Adresse für so etwas. „Soll er mir selbst sagen.“ Mir geht die neue Freundin des Chefredakteurs ziemlich auf die Nerven. Und nicht, weil sie groß, schlank und blond ist, sondern weil sie dem Klischee der dämlichen Blondine schon fast zu gut entspricht. „Und du hebst den Hintern aus meinem Sessel.“

Sie starrt mich an und steht langsam auf. Das war jetzt vielleicht doch ein wenig brutal. „Ich hab echt ein Problem gehabt gestern. Das Fotoshooting hat total lang gedauert, weil es immer wieder geregnet hat.“

„Und die haben im Finstern weitergeknipst? Die Party hat erst um zehn begonnen.“

„Wir haben dann … Innenaufnahmen gemacht.“

„Ich muss los.“

„Bitte! Nur ein paar Infos! – Klaus hat gesagt, du sollst …“

„Er ist bloß Chefredakteur. Jedenfalls für mich.“

Ich fetze die Philodendronblätter zur Seite und platze mit Volldampf in die Sitzung.

„Deine … neue Mitarbeiterin der Lifestyle-Redaktion hat mich aufgehalten“, fauche ich in Richtung Klaus.

Er hüstelt. „Oh, kein Problem.“

„Oder vielleicht doch.“

„Lass uns das später besprechen.“ Schon fast flehentlicher Blick. „Bitte.“

Ich seufze und lasse mich auf einen freien Sessel fallen. Soll Blondie an meinem Schreibtisch sitzen, aus dem Fenster schauen und warten. Sie kann lange warten. Weil nach der Sitzung treffe ich den griechischen Chor und Othello.

Ich lasse das übliche Geplänkel zwischen dem Chronikchef und einigen anderen über mich ergehen. Droch grinst zu mir herüber. Wie immer beteiligt er sich kaum an der Konferenz. Er kümmert sich bei uns im Blatt um Politik, und er macht, was er will. Er gilt als einer der angesehensten politischen Journalisten im Land. Und ich mag ihn. Auch wenn wir immer wieder zusammenkrachen. Was Blondie angeht, so sind wir uns allerdings einig: Wenn leitende Redakteure ihre Liebchen in den Laden schleppen, ist das bloß peinlich. Ob ihm die blonde Schönheit gar nicht gefalle, habe ich ihn vor ein paar Tagen gefragt. „Du bist mir lieber“, hat er geantwortet. „An dir ist mehr dran.“ Klar wollte er mich damit reizen. Er wollte, dass ich ihn frage, ob er das auf meine Figur bezieht. Aber in jede Falle tappe ich ihm nicht mehr.

Dann bin ich an der Reihe und erzähle von der EU-Serie, die das reale Leben der Menschen in der Union, die Welt abseits von Zahlen und Vorschriften beschreiben soll.

„So kommt man zu Dienstreisen, während überall gespart wird“, ätzt der Chronikchef. „Ganz abgesehen davon, dass wir aufpassen müssen, uns nicht von den Südländern über den Tisch ziehen zu lassen vor lauter Menschlichkeit. Die lachen bloß über uns und kassieren.“

„Sie sprechen jetzt von den arbeitslosen jungen Spaniern? Oder von den Griechen, die keine ordentliche Spitalsbetreuung mehr haben? Wissen Sie, dass selbst in Italien mehr als vierzig Prozent der unter Fünfundzwanzigjährigen ohne Job sind?“ Ich schaue ihm ins Gesicht.

„Ich spreche von den …“

„Stopp!“, ruft Klaus, der ja an sich ganz vernünftige Chefredakteur. Britta hat tatsächlich auf mich gewartet. Dass sie in der Zwischenzeit in meinen Sachen gestöbert hat, glaube ich nicht. Dazu ist sie zu wenig neugierig. – Was ist das jetzt? Ein Vorwurf? Ich erzähle ihr dann doch ein wenig über die Party und die Gäste, Fotos gibt es ja genug. „Die Krimiserie mit Kommissar Hinter war die erste, die ich als Kind sehen durfte“, sagt sie. „Und jetzt kann ich über ihn schreiben, cool.“

Aber ja doch. Ich sehe auf die Uhr. „Ich muss weg. Meeting mit Othello.“

Sie starrt mich an, klimpert mit den Augenlidern. „Ähhh … lebt der noch?“

Man packt es nicht.

Sie lacht. „Das war ein Scherz!!! Ich hatte Literatur als Freifach!“

Die Griechen, nun in Jeans statt im Kilt, haben Desdemona mitgebracht. Othello käme wohl erst später, er verschlafe immer. Wir sitzen in einer Nische im Café Museum. Es ist Mittag. Mir knurrt der Magen. Desdemona, die eigentlich Clara Langström heißt, verputzt bereits die zweite Portion Toast mit allem Möglichen dazu. „Gooood, gut“, stöhnt sie. Die griechischen Zwillinge starren sie bewundernd an.

Ich gönne mir einen Wiener Würstelteller und kriege Frankfurter, Debreziner, kleine Burenwürstel und Käsekrainer mit Senf, Kren, Gurkerl und Schwarzbrot und will eigentlich gar nichts mehr wissen. Auch wenn es ganz spannend ist, was die griechischen Zwillinge erzählen. Dass sie Paulus Reisinger sehr mögen, selbst wenn ihnen seine Europa-Euphorie manchmal auf die Nerven geht. Weil, wenn man mitbekomme, was die EU in ihrem Land aufführe, dann sei es kein Wunder, dass Merkel und Co nicht besonders beliebt seien.

„Und was hat Griechenland aufgeführt, dass es pleiteging?“, frage ich.

Da kenne man sich zu wenig aus, sicher seien die meisten ihrer Politiker Gangster, das schon. Aber das sei anderswo nicht anders.

„Und niemand hat sie gewählt?“

Einer der ununterscheidbaren Zwillinge hebt die Hände. „Wir waren viel im Ausland, wir haben sie nicht gewählt.“ Na dann.

Desdemona mischt sich erst später ein. Und, sieh an, sie hat nicht nur Schauspiel, sondern auch Politikwissenschaften studiert. – Ob Paulus Reisinger davon gewusst habe, als er sie engagiert hat? Sie lacht. „Ich lasse das in meinem Lebenslauf als Schauspielerin weg, es könnte einige abschrecken. Aber er hat von uns verlangt, dass wir politisch zu Europa Stellung nehmen. Es hat ihm offenbar gefallen, was ich gesagt habe. Und erst da habe ich ihm erzählt, dass ich auch Politik studiert habe. Das ist mein erstes längerfristiges Engagement.“ Das alles kommt in ausgesprochen gutem Englisch daher.

Als Othello erscheint, ist es gegen halb drei. Er schaut ordentlich zerknautscht aus.

„Mein Held“, spottet Clara.

„Jetzt könnte ich nicht einmal eine Fliege erwürgen“, stöhnt er.

Ich habe keine Lust, auch ihn noch etwas zur Politik zu fragen. „Sie spielen üblicherweise in Zypern?“

„Ja. Man sollte es nicht glauben, es gibt nicht nur das antike Kourion-Theater bei uns. Ich mache zeitgenössisches Theater in Nikosia, aber sie haben die Förderungen auf null gestellt.“

„Und was bedeutet das?“

„Wir haben die Produktionen auf null gestellt. Ende. Aus. Zumindest vorläufig. Und dumm, dass ich anders als Paulus nicht an die zweite Chance für alle glaube. Schon gar nicht mit Typen wie diesen.“ Er deutet auf die Zwillinge und grinst. Sie grinsen zurück.

„ ‚Othello‘ ist trotzdem ein nettes Projekt. Und es ist eine Möglichkeit, international Fuß zu fassen. Ich habe auch schon in einigen griechischen Fernsehfilmen gespielt.“

„Damit ist allerdings nicht mehr viel los bei uns“, ergänzt ein Zwilling. „Keiner würde kapieren, dass der Staat Filmproduktionen unterstützt, wenn die Leute nicht einmal genug haben, um halbwegs leben zu können.“

„Und das alles in der einen EU.“ Ich sage es in die Runde.

Desdemona alias Clara nickt. „Wir brauchen neue Solidarität.“

Othello verdreht die Augen. „Es würde schon reichen, wenn sie uns nichts dreinreden.“

Und der eine Zwilling sagt mit feurigem Blick auf Desdemona: „Man muss eben seine Chancen nützen.“

Ich habe am Naschmarkt vollreife Kirschparadeiser bekommen. Und kleine Wolfsbarschfilets um den halben Preis. Weil alle die großen wollten. Frisch seien sie trotzdem, hat mir der Fischhändler versichert. Ich kenne ihn schon lange und vertraue ihm. Ich werde sie nach einem sardischen Rezept zubereiten. Sieht so aus, als wären Oskar und ich heute Abend beide zu Hause. Ist schon mehr als eine Woche her, als uns das zum letzten Mal gelungen ist.

Ich verzichte darauf, zurück ins „Magazin“ zu fahren. Wozu bin ich nicht angestellt, sondern bloß mit fixem freiem Vertrag unterwegs? Um unabhängig zu sein. Zumindest ein wenig. Ich kann auch daheim arbeiten.

Ich fahre mit dem Lift nach oben, schließe die Tür auf. Gismo maunzt mich an.

„Keine Oliven“, sage ich zu meiner Katze. „Wir sind in der Krise. Frag den griechischen Chor.“

Sie maunzt lauter, man könnte es schon Gebrüll nennen. Ihr orangeroter Streifen auf der Brust leuchtet. Der Schwanz ist hoch aufgerichtet. Es kann einfach nicht sein, dass sie die Oliven riecht. Ich habe sie extra in einen Plastiksack getan und diesen in den Sack mit den Fischen gesteckt. Ich stelle meine Beute auf den Boden. Sie schlägt ihre Krallen zielgerichtet in den Sack mit den ach so gut verborgenen Oliven.

„Okay, ich hab dich nicht drangekriegt, Alte“, sage ich und freue mich darüber. Letztes Jahr habe ich geglaubt, sie hat einen Schlaganfall oder so etwas, dabei ist sie nur von zu hoch oben abgerutscht und hat sich die Pfote verletzt. Siebzehn ist meine Katze jetzt und noch immer gut drauf. In letzter Zeit ist ihr Fell allerdings etwas verfilzt. Und sie hasst es, sich kämmen zu lassen. Aber Oliven riecht sie immer noch. Durch drei Verpackungsschichten und trotz Fisch.

Sie frisst entzückt. Natürlich kriegt sie dann auch ein Beutelchen mit Futter für die Katze in reifen Jahren. – Ob ihr die Oliven guttun? Sie liebt sie, das ist wichtiger. Vor Kurzem hat eine Hundertjährige im Fernsehen auf die Frage, ob sie sich nicht Zigaretten und Wein abgewöhnen wolle, gesagt: „Warum sollte ich ohne Genuss leben?“

Recht hat sie.

Trotzdem. Zuerst setze ich mich an den Laptop und arbeite an meiner Geschichte über „Othellos Erben“. Die griechischen Zwillinge sind von Desdemona hin und weg. Wird sie sich für einen von ihnen entscheiden? Oder nimmt sie beide? Wer weiß. Vielleicht nimmt sie auch keinen von ihnen. Drei blonde Frauen: Britta, die neue Liebe unseres Chefredakteurs, Clara Langström, die naturblonde Schauspielerin, und Dagmar Wieser, Reisingers liebste EU-Beamtin. Sie scheinen einander trotzdem nicht ähnlich zu sein. Dämlich, den Charakter an der Haarfarbe festzumachen.