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Cathy Cassidy

Die

Chocolate

Box Girls

Kirschenherz

Band 1

Aus dem Englischen

von Bettina Spangler

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Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

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1. Auflage 2014

© Cathy Cassidy, 2010

All rights reserved

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel

»The Chocolate Box Girls – Cherry Crush« bei

Penguin Books Ltd, London.

© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Bettina Spangler

Umschlaggestaltung: © init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

Umschlagmotiv: Anne-Lise Dugat/Nathan

jb · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-12251-5
V002

www.cbt-buecher.de

1

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Es gibt ein paar Dinge, die werde ich an der Clyde Akademie vermissen … Dinge wie Makkaroni mit Käse oder Fritten, Grießpudding mit Vanillesoße oder die Tatsache, dass ich im Kunstunterricht immer Ryan Cleggs Hinterkopf vor mir hatte. Klar gibt es auch Sachen, die mir kein bisschen fehlen werden, wie Mathetests und der Eintopf in der Schulkantine, und Kirsty McRae. Nein, Kirsty McRae werde ich nicht vermissen, nicht die Bohne … sie und ihre Freundinnen machen mich nämlich wahnsinnig.

Die haben echt alles … perfekte Frisuren mit schicken Strähnchen drin, perfekte Schuluniformen, die von der coolen Sorte, die es im TopShop auf der Buchanan Street gibt. Sie schreiben gute Noten, sind beliebt, die Lehrer mögen sie, und die Jungs sind verrückt nach ihnen.

Jeder will SEIN wie sie … mit Ausnahme von mir. Ich bin nicht wie Kirsty McRae, nicht ansatzweise. Meine Haare sind alles andere als perfekt, meine Schuluniform stammt aus dem Second-Hand-Laden, und auf meinem Rock hab ich einen leicht klebrigen Fleck, wo ich heute Morgen meinen Marmeladentoast hab fallen lassen. Meine Noten sind mies, in erster Linie wohl deshalb, weil ich meine Hausaufgaben immer erst im Bus auf dem Weg zur Schule erledige. Meine Lehrer mögen mich nicht, abgesehen vielleicht von meiner Englischlehrerin. Die meint nämlich, ich hätte eine sehr lebhafte Fantasie.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das jetzt als Kompliment gemeint ist oder nicht.

Jedenfalls kann ich echt nicht verstehen, was so toll sein soll an einem Mädchen wie Kirsty.

Sie ist noch nicht mal besonders nett. Als ich sieben war, hab ich sie zu uns nach Hause zum Abendbrot eingeladen. Da hat sie sich doch glatt beschwert, dass ihr die Schinkensandwiches nicht geschmeckt hätten, und wollte wissen, warum unser Goldfisch einen Namen hätte wie ein Hund. Ich wusste damals ja noch nicht, dass Rover als Hundename galt. Schätze mal, das war eben Dads Art von Humor.

Kirsty wollte auch wissen, wo meine Mom ist, und ich sagte einfach, ich hätte keine.

»Erzähl doch keinen Quatsch«, hatte sie entgegnet. »Jeder hat eine Mom. Wer kocht dir denn das Abendessen? Wer wäscht deine Wäsche und bügelt deine Klamotten?«

»Na, Dad natürlich.«

Na ja, ehrlich gesagt bügelt er meine Klamotten gar nicht. Er schüttelt die Sachen immer einfach nur aus und meint dann jedes Mal lachend, ein paar Falten würden keinem schaden.

»Sind sie geschieden?«, erkundigte sie sich daraufhin flüsternd. »Ist sie weggelaufen oder so?«

»Natürlich nicht!«

Kirsty zog die Brauen zusammen. »Bist du etwa adoptiert?«, fragte sie. »Weil du nämlich überhaupt nicht aussiehst wie dein Dad! Du siehst … keine Ahnung, irgendwie chinesisch aus, oder japanisch oder so.«

»Ich bin Schottin!«, protestierte ich. »Genau wie Dad!«

»Ich glaube nicht, dass er dein Dad ist«, sagte sie, und als sie sah, dass meine Augen sich mit Tränen füllten, fing sie an zu grinsen. Als ich am Montag darauf wieder zur Schule kam, hatte Kirsty bereits überall rumerzählt, ich wäre adoptiert und mein Dad würde in der McBean’s Schokoladenfabrik in der Produktionshalle den Boden wischen.

Das tut er auch tatsächlich, zumindest manchmal, aber trotzdem, wie sie das gesagt hat, das war echt fies.

Kirsty McRae werde ich also garantiert nicht vermissen.

Wie aufs Stichwort kommt in dem Moment Kirsty in den Speisesaal gerauscht mit einer ganzen Schar von ihren schnatternden Freundinnen. Sie drängeln sich vor an die Spitze der Schlange, ehe sie rüberschlendern zu dem Tisch, an dem ich allein mit meinen Käsemakkaroni und den Fritten sitze. Klar merken die nicht mal, dass ich da bin. Sie plumpsen auf die Plätze neben mir mit ihren Salattellern, werfen ihr Haar zurück und legen neues Lipgloss auf. Dabei quatschen sie ununterbrochen über Jungs und Dates und Nagellack.

»Hey«, sagt Kirsty. »Sorcha, ich wette, du traust dich nicht, Miss Jardine mit einer Fritte zu bewerfen! Na los, die Wette gilt!«

Sorcha schnappt sich sofort eine Fritte von meinem Tablett und schleudert sie durch die Luft. Sie streift ganz kurz die Schulter der Rektorin im Tweedkostüm, ehe sie auf dem Boden landet. Miss Jardine blickt um sich, runzelt die Stirn, und ihr Blick richtet sich auf mich, und ich bin wie versteinert mit meiner Gabel voll Fritten und Makkaroni mitten in der Luft. Vorwurfsvoll kneift sie die Augen zusammen, doch fehlen ihr nun mal die Beweise, weshalb sie sich wieder ihrem Essen zuwendet. Kirsty kichert los, und ich bedenke sie mit einem eisigen Blick.

»Was glotzt du denn so?«, pflaumt sie mich an.

»Ach, nichts«, sage ich, aber mein Mund verzieht sich zu einem Grinsen. Genau das ist Kirsty nämlich … ein Nichts.

»Warum grinst du so dämlich? Du bist echt so was von krank, Cherry Costello!« Sie mustert mich abschätzig von oben bis unten, als wäre ich ein kleines, schleimiges Etwas, das sie auf ihrem Salatblatt gefunden hat, und ausnahmsweise schaffe ich es mal, ihrem Blick standzuhalten. Ich hebe mein Kinn an und lächle, woraufhin Kirstys Gesicht sich vor Wut verzerrt.

Dann wendet sie sich ihren Freundinnen zu. »Hey, wusstet ihr, dass Cherrys Mom ihre Tochter für so eine Versagerin hielt, dass sie sie einfach stehen hat lassen, um ans andere Ende der Welt zu ziehen? Wie fühlt sich das an, Cherry? Zu wissen, dass noch nicht mal die eigene Mutter es mit einem aushält?«

»Du weißt gar nichts über meine Mom«, sage ich ganz ruhig.

Kirsty lacht. »Oh doch, das tu ich, Cherry«, entgegnet sie. »Wir waren zusammen auf der Grundschule, schon vergessen? Deine Mom ist doch ein Filmstar, oder? In Hollywood? Zumindest hast du mir das in der fünften erzählt. Oder ist sie vielleicht Modedesignerin, in New York? Das hast du mir in der sechsten erzählt. Mal sehen, was war da noch so? Ach ja, Model, Sängerin, Balletttänzerin … in Tokio, Sidney, Mongolei. Ich schwör’s, Cherry Costello, du bist so ein verlogenes Biest!«

Kirsty lacht wieder, und ich hasse sie in diesem Moment, ich hasse sie wirklich, und wie.

»Lass sie in Ruhe, Kirsty«, sagt Cara, aber Kirsty weiß nie, wann es genug ist. Sie macht immer weiter und weiter, bis es zu spät ist.

»Deine Mom ist keine Schauspielerin, nicht wahr, Cherry?«, sagt Kirsty jetzt verächtlich, und die anderen, selbst Sorcha und Cara, kichern drauflos.

»Nein«, flüstere ich, und meine Wangen glühen.

»Sie ist auch keine Modedesignerin oder ein Model oder eine Balletttänzerin, oder?«

»Nein …«

Mir kommt es so vor, als wäre es im gesamten Speisesaal schlagartig totenstill geworden. Sie alle wollen hören, was Kirsty zu sagen hat. Sie wollen sehen, wie ich einknicke.

»Das waren nur so Geschichten, die du dir zusammengereimt hast, Cherry, um interessanter zu wirken«, sagt Kirsty. »Ist es nicht so? Nur dass das nicht funktioniert hat, weil du nämlich nicht interessant bist, nicht ein bisschen. Und deine Mom auch nicht.«

Da ist ein stechender Schmerz in meiner Brust, der brennende, bittere Schmerz der Scham. Ich überlege krampfhaft, was ich darauf sagen könnte, eine clevere Bemerkung, eine Retourkutsche. Aber da ist nichts. Ich habe alle meine Träume, all meine Fantasien bereits verbraucht, und Kirsty hat sie sowieso schon alle als Lügen abgetan. Tja, vielleicht waren sie das sogar, auch wenn ein Teil von mir damals fest davon überzeugt war, dass alles der Wahrheit entspricht.

»Vermutlich ist deine Mom nichts als reine Zeitverschwendung, genau wie du«, sagt Kirsty total gemein.

Zornentbrannt rücke ich mit dem Stuhl zurück und springe auf. Meine Knie sind ganz weich, und meine Hände zittern, als ich nach meinem Teller greife. Ich sollte mein Essen einfach nehmen und abhauen, mich an einen Tisch am anderen Ende des Speisesaals setzen, wo Kirsty und ihre Clique mir nichts mehr anhaben können.

Genau das sollte ich tun.

Andererseits, vielleicht ist es ja an der Zeit, Kirsty McRae ein für alle Mal klarzumachen, was ich von ihr halte. Schließlich habe ich nichts mehr zu verlieren.

Ich nehme also meinen Teller voll Käsemakkaroni mit Fritten und kippe ihn Kirsty McRae kurzerhand über den Kopf. Dann sehe ich zu, wie ihr die zähe Käsepampe über die perfekten Haare mit den perfekten Strähnen läuft. Fritten kullern ihr über die weißen Ärmel und hinterlassen eine fettige Spur. Ihre milchweiße Haut hat überall Ketchupspritzer, dass es aussieht wie Blut.

»Oh. Mein. Gott«, sagt Sorcha.

Und dann, ganz langsam erst, zögerlich, beginnt der ganze Speisesaal zu klatschen und zu jubeln.

2

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Miss Jardine ist natürlich alles andere als beeindruckt. Sie sieht das Ganze nicht als eine Heldentat an, sondern als einen »bösartigen, lange im Voraus geplanten Übergriff auf eine Mitschülerin«, was in meinen Augen ein bisschen übertrieben ist. Ich meine, wenn ich das alles geplant hätte, dann hätte ich einen Tag gewählt, an dem es Eintopf gibt oder so was in die Richtung. Käsemakkaroni gehören nämlich zu meinen Leibspeisen.

Trotzdem ist Miss Jardine stinksauer, sie hat die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, dass sie fast nicht mehr zu sehen sind.

»Die arme Kirsty ist bei der Schulschwester, die ihr Erste Hilfe leistet«, erklärt sie mir. »Du kannst von Glück sagen, dass sie keine Verbrennungen erlitten hat oder unter schwerem Schock steht!«

Ich hebe eine Augenbraue. Die arme Kirsty? Von wegen. Ein schwerer Schock täte ihr vielleicht sogar mal ganz gut. Dann würde sie vielleicht aufwachen und vergessen, dass sie so eine fiese, gemeine Hexe war. Ist zwar ziemlich unwahrscheinlich, schätze ich, aber immerhin besteht die Chance.

»Cherry, dein Verhalten ist absolut inakzeptabel«, schnaubt Miss Jardine. »Was hat Kirsty McRae dir denn getan?«

Ich blinzele. Tja, wo soll ich da anfangen? Sollte ich wohl erwähnen, dass sie mal meine Sportsocken das Klo runtergespült hat, nur so zum Spaß? Oder dass sie irgendwann allen erzählt hat, sie hätte meinen Dad gesehen, wie er verkleidet als menschlicher Schokoriegel kostenlose Exemplare des McBean’s-Taystee-Riegels verteilt hat?

Oder sollte ich erwähnen, was für Dinge sie zu den anderen Kids so sagt, und zwar zu denen, die sie ÜBERHAUPT nicht ausstehen kann? Letzten Monat, in Kunst, da hat sie Janet McNally ihren hüftlangen Zopf abgeschnitten, mit dem Papierschneidegerät. Sie hat noch nicht mal Ärger bekommen deswegen. Sie hat einfach behauptet, sie sei nicht mal in die Nähe des Papierschneidegeräts gekommen, und irgendwie gab man dann Janet die Schuld.

Schon verrückt.

»Sie hat mich eine Lügnerin genannt, Miss«, flüstere ich.

Miss Jardine mustert mich über ihre Brille hinweg. »Lügnerin … nun ja, das ist eine schwere Anschuldigung«, sagt sie. »Trotzdem, eine Reihe von Lehrern und Schülern haben sich bereits beschwert über dein … sagen wir mal … Talent, die Wahrheit ein wenig auszuschmücken.«

Ich blinzele. Hat mich unsere Rektorin eben echt auch als Lügnerin abgestempelt?

»Wie es aussieht, Cherry, hast du gewisse Startschwierigkeiten hier auf der Clyde-Akademie«, fährt sie fort. »Ich muss schon sagen, ich mache mir ein wenig Sorgen. Mir ist ja bewusst, dass du eine eher unkonventionelle Kindheit hattest, aber letzten Endes ist das keine Entschuldigung für deine Lügengeschichten. Wie ich gehört habe, hast du Miss Mercer vergangene Woche erzählt, du könntest deine Hausaufgabe in Kunst nicht abgeben, weil eine Ziege sie aufgefressen hat. Also wirklich, Cherry. Eine Ziege? Hier in Glasgow? Erwartest du allen Ernstes, dass wir dir die Geschichte abnehmen?«

Tja, das tu ich wirklich. Weil es nämlich die Wahrheit ist. Wir waren an diesem Wochenende gerade zu Besuch in den Borders bei Freunden von Dad von der Kunstschule, und ich hab über eine Stunde in der Sonne gesessen und sorgfältig eine Zeichnung von Dads Geige angefertigt. Ich war so stolz auf diese Zeichnung. Und dann, während wir zu Abend aßen, gelangte die Ziege des Nachbarn irgendwie in den Garten. Sie hat meine Zeichnung aufgefressen, die Ecke der Picknickdecke angekaut und meine Sonnenbrille exakt in zwei Hälften gebissen.

Ich hoffe bloß, das Vieh hat sich ordentlich den Magen verdorben.

»Wenn man zu oft schwindelt, Cherry, kommt irgendwann der Punkt, wo die Leute nicht mehr auf einen hören«, fährt Miss Jardine fort. »Kennst du die Fabel von dem Jungen, der ständig ›Wolf‹ schreit?«

»Ja, Miss«, antworte ich kraftlos.

Dann erzählt sie mir eine endlos lange Geschichte von einem kleinen Jungen, der die ganze Zeit lügt, bis er eines Tages einen Wolf sieht und es seiner Familie sagt, nur dass ihm jetzt keiner mehr glaubt. Der Wolf frisst ihn einfach auf.

Die Moral von dieser Geschichte ist klar. Wenn ich nicht endlich aufhöre, Lügenmärchen zu erzählen, frisst mich irgendwann der böse Wolf, und das ist dann ganz allein meine Schuld.

»Diese Flunkereien müssen ein Ende haben«, sagt sie. »Ehe das Ganze noch mehr außer Kontrolle gerät. Und nach den Sommerferien werde ich ein wöchentliches Treffen mit dem Schulpsychologen organisieren. Der heutige Vorfall sieht dir so gar nicht ähnlich, dennoch ist das alles besorgniserregend. Wir wollen dir nur helfen, Cherry. Nicht nur, was das zwanghafte Schwindeln betrifft, nein, auch in Bezug auf deine offensichtlichen Probleme mit deiner Selbstbeherrschung.«

Die Zornesröte kriecht mir über die Wangen. Zwanghaftes Schwindeln? Probleme mit meiner Selbstbeherrschung? Was will mir Miss Jardine hier eigentlich sagen?

»Ich werde nach den Sommerferien nicht mehr hier sein, Miss Jardine«, erkläre ich so höflich wie möglich. »Mein Dad hat sich verliebt. Er gibt alles auf, was er hier hat, und will zu seiner neuen Freundin in ihr großes Haus auf einer Klippe in Somerset ziehen. Wir werden eine richtige Familie sein, und wir werden ein Vermögen verdienen mit dem Verkauf von Luxus-Biopralinen.«

Miss Jardine bedenkt mich mit einem langen, bedauernden Blick.

»Also wirklich, Cherry, das ist genau das, wovon ich hier rede!« Sie schnaubt. »Natürlich ziehst du nicht in ein Haus auf den Klippen in Somerset! Dein Vater arbeitet in der McBean’s Schokoladenfabrik, wo er Taystee-Schokoriegel herstellt und die missglückten Exemplare aussortiert. Und die sind weder Bioqualität, noch wird irgendjemand ein Vermögen damit verdienen. Und ich denke, da sind wir uns einig. Ich weiß wirklich nicht, wo du diese Ideen immer hernimmst!«

»Aber, Miss …«

»Ich gehe doch davon aus, dass dein Vater uns in Kenntnis gesetzt hätte, wenn du uns verlassen würdest, denkst du nicht?«, sagt sie.

Ich streife mit den Fingern über den Umschlag in meiner Tasche. Dads Brief an Miss Jardine trage ich jetzt schon seit fünf Tagen mit mir herum, von Tag zu Tag sieht er zerknitterter aus. An einer Ecke hat er einen Fleck, weil mir gestern die Flasche Orangenlimo ausgelaufen ist, und dann ist da noch ein klebriger blauer Klecks, weil mein Kugelschreiber zerbrochen ist. Es bringt jetzt nicht viel, ihn ihr auszuhändigen, wenn Miss Jardine sowieso überzeugt ist, dass die ganze Geschichte, wir würden an den Rand einer Klippe ziehen, erstunken und erlogen ist.

Ja, stimmt schon, dass mein Dad in der McBean’s Schokoladenfabrik arbeitet. Zumindest noch die nächsten vierzehn Tage. Dann hängt er die Schürze an den Haken und holt sich seine allerletzte Lohntüte ab sowie eine letzte kostenfreie Tüte voller aussortierter Taystee-Riegel, diejenigen, bei denen die Keksschicht fehlt oder die Verzierung aus weißer Schokolade obendrauf oder die irgendwie eingedellt aussehen. Ich werde diese Schokoriegel vermissen.

Dann werden wir uns allmählich ans Packen machen, werden unser bisheriges Leben vor uns ausbreiten und es sorgfältig in Kartons und Mülltüten stecken. Dann verladen wir unser ganzes Hab und Gut in Dads roten Minivan und düsen los in den Sonnenuntergang. Tja, vielleicht nicht unbedingt in den Sonnenuntergang, weil mein Dad in aller Herrgottsfrüh aufbrechen will, aber ihr wisst schon, was ich meine.

Wir werden nämlich wirklich in ein Haus auf den Klippen ziehen, in Somerset. Miss Jardine hat ja keinen Schimmer, wie bizarr mein Leben ist.

»Keine Lügen mehr, Cherry«, sagt sie.

»Äh … nein, Miss.«

»Und selbstverständlich möchte ich, dass du dich bei Kirsty McRae entschuldigst.«

»Na schön«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Miss Jardine begleitet mich zum Büro der Schulschwester, wo Kirsty zusammengekrümmt auf einem weichen Sessel sitzt, Limonade schlürft und Kekse knabbert. »Kekse sind das beste Mittel gegen Schock«, sagt sie grinsend.

Mir ist das alles total schnuppe, weil Kirsty nämlich immer noch die Makkaronipampe in ihrem kastanien-karamellfarben gesträhnten Haar kleben hat. Und sie riecht sogar ganz leicht nach Käse. Ich bin so fies und freue mich insgeheim darüber.

»Cherry will dir etwas sagen, Kirsty«, sagt Miss Jardine.

Kirsty fängt an zu strahlen, und in ihren Augen blitzt so was wie Triumph auf.

»E-es tut mir leid, Kirsty«, stammele ich.

Natürlich tut es mir nicht leid, nicht die Bohne. Und Miss Jardine möchte doch sicher nicht, dass ich lüge? Man erwartet von mir, dass ich neue Saiten aufziehe, dass ich ab jetzt offen und ehrlich bin. Keine Lügen mehr.

Ich sehe Kirsty McRae fest in die Augen. »Es tut mir echt richtig leid … dass … du so eine gemeine, hinterlistige, FIESE KLEINE HEXE bist.«

Das ist der Moment, in dem Miss Jardine mir verkündet, dass ich von der Schule suspendiert bin und einen Verweis kriege und auch noch nachsitzen muss, möglicherweise für den Rest meines Lebens.

3

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Miss Jardine ruft natürlich gleich bei Dad an und erzählt ihm alles brühwarm. Sie hat ihn an der Strippe, sobald er von der Arbeit heimkommt, noch ehe er eine Chance hatte, sich umzuziehen. Meine Verbrechen sind offenbar derart unverzeihlich, dass man keine Minute länger warten kann.

Ich verstecke mich hinter der Küchentür und lausche.

Dad versucht sein zerstrubbeltes Haar zu glätten und seinen McBean’s-Overall abzustreifen, während er gleichzeitig ein ernstes Gesicht macht und zuhört. Miss Jardine hat immer diese Wirkung auf Leute.

Zwischendurch entstehen immer wieder längere Pausen, und es wird viel geseufzt. Dad sagt ziemlich oft »verstehe«, und zwar in einem recht besorgten Ton. Was erzählt Miss Jardine ihm nur? Dass ich zum Schulpsychologen muss? Dass ich durchgeknallt und gewalttätig bin und in einer Fantasiewelt lebe?

Wenn ihr mich fragt, ist sie jetzt aber diejenige mit der lebhaften Fantasie.

Dad schaltet MTV ein, und wir setzen uns zusammen aufs Sofa und essen Bohnen auf Toast und als Nachspeise die missglückten Taystee-Riegel. Keiner von uns macht sich die Mühe, die Schuhe auszuziehen.

»Miss Jardine hat mir erzählt, dass du dir wieder irgendwelche Geschichten ausgedacht hast«, sagt Dad, während er auf seinem Toast rumkaut. »Offenbar hat sie meinen Brief nicht bekommen, in dem ich ihr die Sache mit dem Umzug erkläre?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Mein Stift ist ausgelaufen und hat ihn ruiniert«, gebe ich zu. »Und meine Limo auch. Daher musste ich es ihr so erzählen. Ich befürchte, sie hat mir nicht geglaubt. Sie meinte, ich würde in einer Scheinwelt leben!«

»Na, tust du das nicht?«

Ich verkneife mir ein Grinsen. Dad hört das Wort »Lügen« nicht gern. Wann immer Lehrer im Laufe der Jahre es benutzt haben – und das haben sie, gar nicht mal so selten –, dann hat er ihnen eigentlich immer sofort erklärt, dass ich keine Lügnerin bin, sondern eine sehr fantasievolle Geschichtenerzählerin, und wenn sie das nicht sähen, sollten sie sich vielleicht besser mal die Augen überprüfen lassen.

Das bringt mich zum Lächeln. Aber trotzdem gebe ich in letzter Zeit mein Bestes, Dad von den Elternabenden in der Schule fernzuhalten, nur für den Fall.

Es ist großartig, wenn der eigene Dad an einen glaubt, einen unterstützt und gegenüber bösartigen Lehrerinnen verteidigt. Es ist toll, zu wissen, dass Dad mich kreativ und fantasievoll findet. Und trotzdem ist da eine leise Stimme in meinem Kopf, die sich fragt, ob es manchmal nicht doch einfacher wäre, schlichtweg bei der Wahrheit zu bleiben.

Bloß das Problem ist, die Geschichten fallen mir völlig spontan ein. Eine Lehrerin fragt mich, wo denn mein Geschichtsaufsatz ist, und schon hab ich eine detaillierte Story im Kopf, von wegen, in der Nacht zuvor sei in unsere Wohnung eingebrochen worden, und die Polizeibeamten mussten meinen Aufsatz als Beweismittel sicherstellen, damit man ihn auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren untersuchen konnte. Einmal hab ich meine Sportsachen vergessen, und da hab ich meiner Lehrerin erzählt, unsere Waschmaschine sei kaputt und habe alles in schmale Streifen zerhäckselt, fast wie Spaghetti, ehe sie dann die Küche unter Wasser setzte und die Decke zum Einsturz brachte, sodass sie in der Wohnung unter uns landete.

Das klingt doch so viel besser, als einfach nur zu sagen: »Ich hab ihn vergessen.« Es klingt so viel interessanter und farbenfroher und viel mehr nach Abenteuer. Das Problem an der Sache ist nur, dass die Lehrer da in der Regel anderer Meinung sind. Sie bevorzugen die Wahrheit, selbst wenn sie total öde und grau und langweilig ist.

Ist es denn wirklich solch ein Verbrechen, über eine rege Fantasie zu verfügen?

»Ich habe ihr alles erklärt«, sagt Dad gerade. »Miss Jardine ist der Ansicht, du hättest dich nicht allzu gut eingelebt an der Clyde-Akademie. Sie denkt, ein Neuanfang wäre das Beste für dich.«

»Ich hab mich super eingelebt!«, entgegne ich total empört.

Tja, vielleicht nicht ganz … aber ich wurstele mich eben so durch, oder nicht? Aus Miss Jardines Mund klingt alles so viel schlimmer, als es in Wirklichkeit ist, man denkt, das alles wäre voll dramatisch. Und dabei wäre nichts von alledem geschehen, wenn nicht Kirsty gewesen wäre, eh klar.

»Sie hat es so oder so verdient«, sage ich. »Kirsty McRae meine ich.«

Dad hebt eine Augenbraue. »Ist das die Kirsty, die mal zum Abendessen zu uns kam, als du sieben warst, und dir die ganzen Taystee-Riegel weggegessen hat, weshalb du weinen musstest?«

»Genau die.«

»Tja … vielleicht.« Er seufzt.

Kirstys damaliger Besuch sorgte für einigen Wirbel, aber witzigerweise war ich ihr gleichzeitig auch dankbar. Denn nur wegen ihr fing ich an, Fragen zu stellen, die ich ansonsten nie gestellt hätte.

Ich war erst sieben, mir war nie in den Sinn gekommen, wissen zu wollen, wo meine Mom abgeblieben war oder weshalb ich so anders aussah als Dad oder die anderen Kids in der Schule.

»Bin ich adoptiert?«, hatte ich Dad ein paar Tage danach gefragt. Er hat die Augen verdreht und mich in die Arme genommen und meine Tränen fortgewischt, und später hat er mir dann ein Foto von meiner Mom gezeigt, jung und wunderschön und mit einem Lachen im Gesicht. Ihr rabenschwarzes Haar wehte im Wind am Strand von Largs. Ich war erst sieben, doch selbst damals war mir klar, dass ich eines Tages aussehen würde wie sie. Dunkle, mandelförmige Augen, hohe Wangenknochen, die Haut wie Milchkaffee.

Ihr Name war Kiko, sie war Japanerin. Ich bin also Halb-Japanerin, und ich hab es damals noch nicht mal gewusst.

Ich hatte meine Mom nie vermisst, bis ich dieses Foto sah, ich schwöre es. Von da an aber konnte ich an nichts anderes mehr denken als an sie. Ich hab mir in der Bibliothek Bücher über Japan geholt. Ich hab endlos viele Filzstiftzeichnungen von dunkelhaarigen Damen in Kimonos angefertigt, die ihre Sonnenschirme durch die Luft wirbeln lassen, obwohl meine Mom auf dem Foto Jeans und einen Pulli anhat. Ich träumte von Pagoden und Kirschblüten und von tapferen Samuraikriegern.

»Verlassen wir Glasgow jetzt ernsthaft?«, erkundige ich mich nun bei Dad.

»Ja, das tun wir«, sagt Dad. »Miss Jardine sind wir los. Und Kirsty McRae auch …«

Ich lache. Wir stoßen mit unseren Coladosen an und trinken auf die Zukunft. Dann versucht Dad, im Fernsehen auf Fußball umzuschalten, weshalb wir um die Fernbedienung raufen. Es gelingt mir, sie ihm wegzuschnappen und sie quer durchs Zimmer zu schleudern, sodass sie mit einem lauten Platsch im Goldfischglas landet, wo Rover sie skeptisch beäugt.

Mit dem Packen lassen wir uns Zeit. In der ersten Woche der Schulferien räume ich mein Zimmer auf und werfe einen ganzen Haufen an kaputtem Plastikspielzeug, verstaubten Comics und ausgelatschten Turnschuhen weg, die sich über die Jahre so angesammelt haben. Die meisten von den Sachen habe ich das letzte Mal gesehen, als ich sieben war. Ich miste eine Tüte Bücher, zwei Tüten Brettspiele und Kuscheltiere und eine ganze Mülltüte an zu kleinen Klamotten für den Second-Hand-Laden aus. Dad wirft noch ein paar Tüten mit seinen eigenen Sachen auf den Haufen, lädt das Ganze hinten in den roten Minivan und macht dann einen kleinen Ausflug zur Müllhalde mit einem kurzen Zwischenstopp beim Second-Hand-Laden.

Als Dad schließlich seinen letzten Arbeitstag in der Fabrik hat, wirkt unsere Wohnung langsam richtig leer, total unheimlich. Selbst meine Schätze sind sorgfältig verstaut in einem großen Taystee-Riegel-Karton – der Kimono, der Papiersonnenschirm, der Fächer und das Foto meiner Mom.

Es fühlt sich komisch an, irgendwie kommt es mir vor wie Verrat, dass ich all diese besonderen Sachen einfach so wegpacke. Beängstigend.

»Ein Mädchen braucht eine Mutter«, sagt Mrs Mackie, die alte Dame von nebenan immer. »Paddy gibt ja sein Bestes, aber …« An dieser Stelle verstummt sie dann immer und schüttelt traurig den Kopf.

Ich habe Mrs Mackie schon oft erklärt, dass manche Mädchen auch ganz gut ohne Mutter klarkommen, dazu müsse sie sich nur mich und Paddy ansehen. Ich glaube nicht, dass sie mir das abgenommen hat, und damit hatte sie völlig recht. Sie kannte mich um einiges besser, als ich jemals zugegeben hätte. Ich wünschte, meine Mom wäre immer noch hier, um all die Dinge zu tun und zu sagen, die man von Müttern erwartet, wenn ihre Töchter das Teenageralter erreicht haben. Klar tu ich das. Ein altes Foto nützt einem nicht viel, wenn man unzählige Fragen hat zu Periode oder BHs oder Jungs … oder dazu, warum man immer wieder Freunde verliert.

Es gibt eben Dinge, über die kann man mit seinem Dad nicht reden.

Es ist ja nicht so, als hätte ich mir nie überlegt, wie es wohl wäre, wenn Dad jemanden kennenlernen würde. Ich stelle mir da immer jemand Hübsches, Cooles vor, eine Frau, die mit mir über Mädchensachen und das Erwachsenwerden quatscht, die mit mir Kleider und Schuhe shoppen geht. Oder vielleicht eine, die ein bisschen mollig ist und nett, die Apfelkuchen bäckt und mich in den Arm nimmt, wenn ich traurig bin. Ich hatte mir hundert verschiedene Versionen der Frau ausgemalt, die meine neue Mom sein würde, und habe Kirsty McRae gegenüber so getan, als wären sie real.

Aber es war eine neue Mom, nach der ich mich sehnte, mehr als alles andere auf der Welt wollte ich das.

Mir war nur nie klar gewesen, dass das auch einen Haken haben könnte.