Der Weg zum eigenen fotografischen Ausdruck
2., erweiterte und überarbeitete Auflage
Bruce Barnbaum, www.barnbaum.com
Übersetzung: Dr. Volker Haxsen
Lektorat: Miriam Metsch, Gerhard Rossbach
Copy-Editing: Alexander Reischert, Redaktion ALUAN
Layout und Satz: Petra Strauch, Bonn
Herstellung: Susanne Bröckelmann
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de
Umschlagfoto: Bruce Barnbaum
Druck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, 39240 Calbe (Saale)
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ISBN:
Print 978-3-86490-458-5
PDF 978-3-96088-274-9
ePub 978-3-96088-275-6
mobi 978-3-96088-276-3
2. Auflage 2017
Copyright © 2017 dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
Authorized translation of the English edition of »The Art of Photography«, 2nd edition © 2017 by Bruce Barnbaum. This translation is published and sold by permission of Rocky Nook, Inc., the owner of all rights to publish and sell the same.
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Meiner Mutter und in Gedenken meinem Vater gewidmet.
So lange ich denken kann,
haben sie mich darin bestärkt,
zu unterrichten.
DANKSAGUNGEN
1FOTOGRAFIE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION
Begeisterung
Bewertung der eigenen Reaktion
2WAS IST KOMPOSITION?
Wie das Auge sieht
Grundgedanke
Einfachheit
Ihren eigenen Standpunkt ausdrücken
Einfachheit versus Komplexität
3ELEMENTE DER KOMPOSITION
Kontrast und Tonwerte
Linien
Formen
Linien, Formen, Kontraste und Emotionen
Muster
Balance
Bewegung
Positiver/negativer Raum
Struktur
Kameraposition
Brennweiten und Bildausschnitte
Schärfentiefe
Verschlusszeit
Beziehungen
Anteilnahme am Motiv
Regeln, Erfolgsrezepte und andere Tücken
4VISUALISIERUNG
Schritt 1: Fotografisches Schauen und Sehen
Schritt 2: Bildkomposition
Schritt 3: Ihre Vorstellung des fertigen Bildes
Schritt 4: Vorschläge zum Vorgehen bei Problemen, sich das fertige Bild vorzustellen
Schritt 5: Strategieplanung bis zum fertigen Bild
Wie sich das Auge von der Kamera unterscheidet
Alternative Ansätze
5LICHT
Das Licht betrachten
Übungen, um das Licht exakter wahrzunehmen
Das Licht bestimmt die Form
Arten des Lichts bzw. der Lichtqualitäten
Wie das Licht vom Auge, Film oder Sensor wahrgenommen wird und das Quadratabstandsgesetz
6FARBEN
Der Farbkreis und die Farbkugel
Farbkomposition
Farbfamilien, Farbkontraste und ihre emotionalen Effekte
Subjektivität und Farbstimmung
Digitales Arbeiten in Farbe
Analoges Arbeiten in Farbe
Resümee
7FILTER
Filter für die analoge Schwarz-Weiß-Fotografie
Beispiele anhand einer hypothetischen Landschaft
Kontraststeuerung durch Filter
Infrarotfilm und -filter
Farbkorrekturfilter für die analoge Farbfotografie
Graufilter und Polarisationsfilter
Probleme in Verbindung mit Polfiltern
Digitale Polfilter
Digitale Filterung in der Schwarz-Weiß-Fotografie
Digitale Filterung in der Farbfotografie
8DAS ZONENSYSTEM FÜR AUFNAHMEN AUF SCHWARZ-WEISS-FILM
Ein kurzer Überblick
Wie der Film auf Licht reagiert – der Aufbau des Zonensystems
Die Übertragung von Negativdichten in die Tonwerte des Abzugs
Wie ein Belichtungsmesser arbeitet
Rückblick auf den Vorgang der Negativbelichtung
Einsatz des Zonensystems, um von der Realität abzuweichen
Das Zonensystem mit Farbnegativfilm
Das Zonensystem und das Quadratabstandsgesetz
Resümee
9DIE STEUERUNG DES KONTRASTS VON SCHWARZ-WEISS-NEGATIVEN – DAS ERWEITERTE ZONENSYSTEM
Übersicht über das Kapitel 9
Das Negativ während der Entwicklung
Die Balgen-Analogie
Die Ausnutzung der höheren Zonen
Schwarzschildeffekt
Beispiele für Verminderung und Steigerung des Kontrasts
Die Belichtungs- und Negativdichtenkurve und Platzierung der Schatten in Zone 4
Unterschiede zwischen Fotografie und Sensitometrie: Zeichnung versus Tonwert und die Zone 4 für die Schatten
Die Entwicklung des belichteten Negativs
Erläuterungen zur Ausgleichsentwicklung
Zweibad-Ausgleichsentwicklung für Negative
Entwicklungsverfahren für Plan- und Rollfilme
Das Zonensystem bei Kleinbild- und Rollfilmen
Filme und Entwickler
10DER ABZUG
Schwarz-Weiß-Fotopapiere
Kontrastwandel- versus Festgradationspapiere
Barytpapiere versus PE-Papiere
Schwarz-Weiß-Papierentwickler
Die Erstellung von Kontaktabzügen
Vorarbeiten für den fertigen Abzug
Erstellen Sie Probeabzüge, keine Probestreifen!
Abwedeln und Nachbelichten
Integration des ganzen Prozesses: Visualisierung, Belichtung, Entwicklung und Abzug
Nachbelichten bei Kontrastwandelpapieren
Fortgeschrittene Dunkelkammertechniken
Begutachtung, Bewertung und der Mythos des »Dry-down«-Effekts
Bleichen
Abschließendes Fixieren des Bildes
Kontrolle von Lokal- versus Gesamtkontrast
Bildformate
Selentonungen
Andere Toner
Chemische Färbung
Verarbeitung zu archivfesten Abzügen
Das Tonen, Verstärken und Abschwächen von Negativen
Kalt-, Neutral- und Warmtonpapiere
Übersicht über die Möglichkeiten der Kontraststeuerung
Grenzenlose Kontraststeuerung nach der Entwicklung von Schwarz-Weiß-Filmen
Farbvergrößerungen
Am Schluss zählt das Endprodukt
Scannen des Films
11DAS DIGITALE ZONENSYSTEM
Grundlagen der digitalen Aufnahme
Der nutzbare Dynamikumfang des Sensors
Von der Theorie zur Praxis hervorragender Digitalaufnahmen
Das Histogramm – Herzstück des digitalen Zonensystems
Das RAW-Konvertierungsprogramm – die Entwicklung der RAW-Aufnahme
High-Dynamic-Range (HDR)-Bilder – das erweiterte Zonensystem der digitalen Fotografie
Panoramen und andere zusammengesetzte Bilder
12DIE WERKZEUGE ZUR DIGITALEN BILDBEARBEITUNG
Der Werkzeugkoffer von ACR
Zusammenfassung von ACR
Der Werkzeugkoffer von Photoshop
Schlussbemerkungen
13ANALOG UND DIGITAL, KUNST UND TECHNIK
Kunst, Technik und deren Relevanz
Analog oder digital fotografieren
Schlussgedanken
14DIE ZERSCHLAGUNG FOTOGRAFISCHER MYTHEN
Mythos #1
Mythos #2
Mythos #3
Mythos #4
Mythos #5
Mythos #6
Mythos #7
Mythos #8
Mythos #9
Mythos #10
15PRÄSENTATION
Aufziehen von Abzügen mit Heißklebefolie
Herstellung von Positionierungshilfen für den Abzug
Ausflecken, Radieren und Beheben von kleinen Schäden
Der letzte Schliff für den Abzug
16FOTOGRAFISCHER REALISMUS, ABSTRAKTION UND KUNST
Fotografie als Kunst
Fotografie und Malerei – ihre gegenseitige Beeinflussung
Einige persönliche Beispiele
Die Kraft der Abstraktion
Nach außen und nach innen gerichtete Fragen
Die Macht der Fotografie
17DER INTUITIVE ZUGANG ZUR KREATIVITÄT
Intuition in der Wissenschaft
Vermeidung der Intuition
Das Verstehen und Missverstehen der Intuition
Beispiele für einen intuitiven Ansatz
Die Anwendung der Intuition in Ihrer Fotografie
Schlussfolgerungen
18IN RICHTUNG EINER PERSÖNLICHEN PHILOSOPHIE
Flexibilität
Bildende Kunst
Jenseits der bildenden Künste
Bestimmung und Erweiterung Ihrer Interessen
Grenzen der Fotografie
Entwicklung eines persönlichen Stils
Selbstkritik, Austausch und Studium
ANHANG A
TESTEN VON MATERIALIEN UND AUSRÜSTUNG IN DER ANALOGEN FOTOGRAFIE
Filmempfindlichkeitstest
Kontrastentwicklungstest
Objektivschärfe- und Bildkreistest
Balgentest
Dunkelkammerbeleuchtungstest
Vergrößerer-Ausleuchtungstest
Vergrößerungsobjektiv-Schärfetest
ANHANG B
VERGRÖSSERER-LICHTQUELLEN
INDEX
NUR WENIGE BÜCHER sind das Werk von Einzelpersonen unter Ausschluss der restlichen Menschheit. Und so bildet auch mein Buch in dieser Hinsicht keine Ausnahme, sodass ich gleich mehreren Personen und Organisationen danken möchte, die mir dabei geholfen haben, es zu verfassen.
Erstens möchte ich mich bei meinen vielen Workshop-Teilnehmern bedanken, die meine ersten Abhandlungen und Manuskripte gelesen, mich bei der Weiterentwicklung der niedergeschriebenen Konzepte ermutigt und zusätzliche Themen angeregt haben. Andere Teilnehmer machten mich auf Fehler und auf beim ersten Lesen schwer verständliche Passagen aufmerksam. Zusammengenommen gründet sich die Qualität dieses Buchs auf Hunderte oder gar Tausende »Co-Lektoren«, die mein Schreiben in den letzten 35 Jahren verbessert haben.
Zweitens muss sich eine ganze Reihe von Leuten erwähnen, die mir bei dem Einstieg in die digitale Fotografie geholfen haben. Besonderer Dank gilt Bennett Silverman für seine großartige Hilfe und des Verfassen des Kapitels über digitale Fotografie in der ersten Ausgabe dieses Buchs. Neben Ben danke ich Rajmohan Murali, Ron Reeder, Don Rommes und Franz Messenbaeck für ihre wundervolle und benötigte Hilfe mich ins digitale Boot zu hieven.
Eine ganze Reihe von Personen war mir über die Jahre eine große Hilfe und Inspiration. Das sind vor allem:
Jay Dusard, der mich in das Bleichen mit Kaliumhexacyanoferrat eingeführt und all die Jahre mit neuen Ideen versorgt hat. Er ist ein guter Freund von mir, ein fabelhafter Workshop-Mitarbeiter und mein bester, ehrlichster Kritiker;
Ray McSavaney, der mir bei dem Aufbau meines ersten eigenen Workshop-Programms, den Owens Valley Photography Workshops, geholfen und die Idee des extrem verdünnten Negativentwicklers (Ausgleichsentwicklung) nahegebracht hat, um große Negativkontraste beherrschen zu können. Seine künstlerische Weise das Leben anzugehen hat mich stets inspiriert und ich werde Ray für immer als Freund und vollkommenen Künstler vermissen;
Don Kirby, der nicht nur mit mir gemeinsam viele Workshops geleitet hat, sondern mit mir auch gewandert ist, sich mit mir in den Lower Antelope Canyon abgeseilt hat, bevor dieser durch und durch kommerzialisiert wurde, und mit mir überall im unübertroffenen Utah-Canyon-Gebiet gecampt hat. Daneben lieferte er mir auch wertvolle Erkenntnisse über den Wert der Negativmaskierung und hat mich dabei unterstützt, meine kreativen und pädagogischen Fähigkeiten auszubauen;
Heike Maskos, eine Workshop-Teilnehmerin, die mit mir bei früheren Auflagen dieses Buchs eng zusammengearbeitet hat, sodass es sich besser las, besser aussah … womit Heike sich als eine viel größere Hilfe erwies, als sie es jemals zugeben würde;
Alexander Ehhalt, der dieses bis dahin nur im Selbstverlag erschienene Buch Gerhard Rossbach, dem Verlagsgründer von Rocky Nook, vorgestellt, mit mir an diesem und weiteren Büchern gearbeitet hat und mir ein verlässlicher Freund und Mitdozent von Workshops geworden ist;
Reed Thomas, ein wunderbarer Freund und gelegentlicher Mitdozent, der mir die Augen geöffnet und meinen Horizont in Richtung alternativer Sichtweisen eines jeden Motivs erweitert hat;
Morten Krogvold, der mich mit seinen kraftvollen Bildern und seiner Fähigkeit Fotografen dazu zu animieren, das Beste aus sich heraus zu holen und sie tief im Innern zu berühren, sehr inspiriert hat; und, allen voran, meine Frau Sonia Karen, die die ganzen herrlichen Dinge im Verlauf meiner fotografischen Laufbahn überhaupt erst ermöglichte, indem sie mich nach Kräften unterstützt und mir in allen Phasen meiner Unternehmungen geholfen hat. Sie ist die ruhige, großartige Perle meines Lebens!
Jedem von ihnen und jedem anderen, der mir Ideen, Techniken und Tipps jeder Art geliefert hat, möchte ich ein ausdrückliches Dankeschön für seinen Beitrag zu diesem Buch sagen.
DIE FOTOGRAFIE IST EINE FORM NONVERBALER KOMMUNIKATION. In ihrer höchsten Ausprägung überträgt sich der Gedanke einer Person, des Fotografen, auf eine andere, den Betrachter. Diesen Aspekt teilt sich die Fotografie mit anderen künstlerischen nonverbalen Ausdrucksformen wie der Malerei, der bildenden Kunst und der Musik. Eine Sinfonie von Beethoven etwa kann den Hörer unmittelbar ansprechen, ein Bild von Rembrandt übermittelt dem Betrachter womöglich eine Botschaft und eine Statue von Michelangelo vermag mit ihren Bewunderern zu kommunizieren. Auch wenn Beethoven, Rembrandt und Michelangelo nicht mehr unter uns weilen, um ihre Werke zu erläutern: Diese Art von Kommunikation findet auch weiterhin so statt.
Fotografie ist eine Form nonverbaler Kommunikation.
Fotografie kann auf die gleiche Weise kommunikativ wirken. Für mich hat schon das Wort Fotografie eine viel tiefere Bedeutung als allgemein geläufig. Eine echte Fotografie erhebt sich mit ihrer ganz universellen Qualität über das jeweilige Motiv oder die Geschehnisse hinaus. Wenn ich mir Porträts der Fotografen Arnold Newman oder Diane Arbus anschaue, stellt sich bei mir das Gefühl ein, die Porträtierten zu kennen, obwohl ich ihnen doch nie persönlich begegnet bin. In gleicher Weise betrachte ich Landschaftsaufnahmen von Ansel Adams, Edward Weston oder Paul Caponigro und bin von der Wuchtigkeit der Felswände, der Zartheit der kleinen Blumen, der geheimnisvollen Stimmung des nebligen Waldes überwältigt. Und das, obwohl ich doch selbst nie dort vor Ort war, wo sie ihr Stativ aufgebaut hatten. So geht es mir auch mit der Straßenfotografie eines Henri Cartier Bresson, wenn ich in seinen Bildern das mitreißende Gefühl jenes entscheidenden Augenblicks miterlebe, der für immer festgehalten wird – und doch habe ich ihm in diesem Moment nicht über die Schulter geschaut. Selbst bei einem von Jerry Uelsmann fotografierten Baum, der im Raum zu schweben scheint, stellt sich bei mir jenes dem Bild innewohnende surrealistische Kribbeln ein. Dies alles spüre ich, weil mich der Künstler mit seiner Aussage erreicht hat. Das Foto sagt alles, Weiteres erübrigt sich.
Ein bedeutsames – und damit erfolgreiches – Foto hat mindestens eine der folgenden Wirkungen: Es ermöglicht oder erzwingt sogar Dinge zu erkennen, die der Betrachter schon oft angeschaut hat, ohne sie jedoch wirklich wahrzunehmen. Es zeigt ihm etwas, was er noch nie gesehen hat. Es wirft Fragen auf – mitunter mehrdeutig oder unbeantwortbar – und wirkt daher geheimnisvoll, lässt Zweifel aufkommen oder erzeugt ein Gefühl von Unsicherheit. Mit anderen Worten: Das Foto erweitert unseren Blickwinkel und den eigenen gedanklichen Horizont. Es ruft Bewunderung, Erstaunen, Erheiterung, Mitgefühl, Erschrecken oder eine von vielen anderen möglichen Emotionen hervor. Es lässt die Realität in einem anderen Licht erscheinen, regt neue Fragen an und schafft seine eigene Welt.
Darüber hinaus ist es der Aspekt des »Realismus«, der Millionen von Menschen für Schnappschüsse und Selfies zu Smartphones, Digitalkameras und gelegentlich noch Kleinbildkameras greifen lässt. Und dieser unmittelbare Alltagsbezug verleiht der Fotografie eine Bedeutung, die sie wesentlich von anderen Kunstgattungen unterscheidet. Beleuchten wir dieses Phänomen mit ein paar Beispielen aus der Geschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts hat Lewis Hine mit seinen Studien über Kinder in der Fabrikarbeit eine Brücke zwischen künstlerischer Fotografie und sozialer Gerechtigkeit geschlagen, als diese Bilder das Inkrafttreten von Gesetzen zum Schutz vor Kinderarbeit beförderten. In den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts schärften Ansel Adams, Edward Weston und einige mehr mit ihren Landschaftsaufnahmen das öffentliche Bewusstsein für die Umwelt. Es war im Wesentlichen die Macht der Bilder, die von Mitte bis Ende es vorigen Jahrhunderts eine ganz Reihe von Nationalparks, Parks von Bundesstaaten und ausgewiesenen Naturschutzgebieten hat entstehen lassen. Und zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise waren es neben anderen Margaret Bourke-White, Walker Evans und Dorothea Lange, die mittels ihrer Kunst der amerikanischen Öffentlichkeit jene von Sand- und Staubstürmen geprägten Lebensbedingungen in den großen Getreideanbaugebieten nahegebracht haben. Heutzutage ermöglicht der Vergleich von Gletscheraufnahmen mit denen aus dem letzten Jahrhundert den sichtbaren Beweis für den Klimawandel und seine damit verbundenen weitreichenden Probleme. (Leider ist der Widerstand gegen diese offensichtlichen Fakten zu groß, um auf diesem Gebiet schnelle Fortschritte zu erzielen.) Dennoch lässt sich festhalten: Bei gekonnter Nutzung kann die Fotografie die einschlägigste aller Kunstformen sein (siehe Abb. 1-1).
In diesem Buch befassen wir uns mit der Fotografie als ausdrucksstarke Kunstgattung und deren Funktion der Dokumentation und weniger mit der alltäglichen Spaßfotografie der reinen Erinnerungskultur. Für die »bildliche Formulierung« einer wirklich bedeutenden Aussage muss der Fotograf über das normale Maß der persönlichen Beteiligung hinaus in die betreffende Welt eintauchen, sei sie nun real oder künstlich geschaffen. Er muss in sie hineinwachsen, um ein tiefes Verständnis von ihr zu erlangen – von ihrer Struktur im Großen sowie den Nuancen im Detail. Diese Grundsätze gelten für alle Bereiche der Fotografie gleichermaßen.
Doch wie findet der Fotograf den Weg dahin, starke Bildaussagen von emotionalem Gehalt mit seinen Bildern zu transportieren? Eine komplizierte Frage – ohne die Möglichkeit einer eindeutigen Antwort. Und doch ist es die entscheidende Frage, welche sich jeder ernsthafte Fotograf während allen Phasen seines Schaffens stellen und für sich individuell beantworten muss. Meiner Meinung nach spielen dabei sowohl persönliche als auch praktische Aspekte zentrale Rollen. Auf der persönlichen, inneren Ebene stellen sich insbesondere zwei Fragen:
Die erste Frage zielt darauf ab, was mir wichtig ist. Es ist höchst unwahrscheinlich, gute Fotografie abzuliefern, wenn einen das Motiv nicht ernsthaft interessiert. Die zweite Frage geht dem nach, wie ich mich persönlich ausdrücken möchte und wie andere meine Werke wahrnehmen sollen. Anders ausgedrückt: Wie sollen meine Fotos aussehen, damit andere meine Intention der Bildaussage erfassen können? Auf der rein praktischen Ebene stehen deshalb Entscheidungen zu Bildgestaltung und -komposition, Belichtung, Lichtführung, Kameraausrüstung, Dunkelkammer- und Digitaltechniken, Präsentation des fertigen Bildes und dergleichen an, die das persönliche Konzept umsetzen sollen.
Beginnen wir mit der ersten der zwei persönlichen Fragen, jener nach den Interessen: Nur Sie selbst können diese Frage beantworten. Und es ist von fundamentaler Bedeutung, dass Sie dies auch tun. Sie werden nur in dem Ausmaß bedeutende Fotografie hervorbringen, wie Sie sich persönlich für Ihr fotografisches Sujet interessieren. Aber nicht nur das: Sie müssen sich auf solche Bereiche fokussieren, die Ihnen wirklich am Herzen liegen.
Warum? Stellen Sie sich doch einmal folgende Frage: Ist es Ihnen im Rahmen eines gewöhnlichen Gesprächs jemals gelungen, etwas Bedeutsames hervorzubringen, wenn Sie das Thema nicht einen Deut interessierte und Sie keine persönliche Meinung dazu hatten? Es ist schier unmöglich! Sie haben einfach nichts zu sagen, weil es Sie schlichtweg kalt lässt. In der Regel hält dies die meisten Leute allerdings trotzdem nicht davon ab, den Mund aufzumachen. Und genau wie diese Leute dann über Themen reden, die sie nicht wirklich interessieren, machen sie auch Bilder von Dingen, die sie nicht wirklich interessieren – die Ergebnisse sind dann auch erwartungsgemäß durch die Bank langweilig.
Lassen Sie uns bei dieser Analogie bleiben. Nehmen Sie irgendeinen großen Redner, sagen wir Winston Churchill oder Martin Luther King, und bitten diesen dann eine flammende Rede etwa über das Sticken zu halten. Er könnte es nicht – denn er hätte nichts dazu zu sagen. Es wäre nicht sein Gebiet, nicht seine Passion. Nur auf seinem Gebiet kann die ganze Rede- und Überzeugungskraft zur Geltung kommen. Den großen Fotografen ist bewusst, was sie fesselt und was sie langweilt. In gleichem Maße wissen sie um ihre Vorzüge und ihre Grenzen. Sie konzentrieren sich auf ihre Interessen und Stärken. Sie mögen sich vielleicht gelegentlich auf anderen Gebieten versuchen, um ihren Horizont zu erweitern oder an ihren Schwächen zu arbeiten – und das sollte ein jeder tun! Aber sie verwechseln nicht Experimentieren mit pointierter Aussage.
Weston hat keine flüchtigen Momente in Sekundenbruchteilen eingefangen, Newman keine Landschaftsaufnahmen gemacht. Uelsmann fotografierte keine sozial Benachteiligten, Arbus verzichtete auf surrealistische Bildeffekte durch Sequenzen. Jeder dieser großen Fotografen hat sich auf seine Interessengebiete und Fähigkeiten konzentriert. Es ist durchaus denkbar, dass jeder von ihnen auch in anderen Bereichen ganz anständige Werke hervorgebracht hätte, aber diese wären vermutlich weder von jener großen Konstanz noch ähnlich beeindruckend wie ihr zentrales Schaffen. Sie wie alle anderen großen Fotografen zeichnet aus, dass sie sich nahezu ausschließlich im Rahmen ihrer größten Stärken bewegt haben.
Das wichtigste Indiz für Ihr Interesse ist Begeisterung. Die Wichtigkeit von Begeisterung kann ich gar nicht genug betonen. Vielleicht kennen Sie die Sentenz, dass die wichtigsten menschlichen Eigenschaften für Erfolg auf jedem Gebiet Begeisterung, Talent und Arbeit seien, aber auch zwei dieser Eigenschaften ausreichen, wenn nur die Begeisterung dazu zähle. Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Im Bereich der Fotografie äußert sich diese Begeisterung für mich in einer unmittelbaren emotionalen Reaktion auf ein Motiv. Diese zeigt sich darin, dass wenn mich ein Motiv visuell fasziniert, ich es sofort fotografiere oder aber zumindest einen prüfenden zweiten Blick darauf werfe, ob sich ein Foto lohnt. Das ist natürlich rein subjektiv. Diese positive gefühlsmäßige Reaktion ist mir außerordentlich wichtig. Ohne sie fehlt es mir an Spontaneität und schon wird das Fotografieren anstrengend. Mit ihr ist die Fotografie pure Freude.
Ich habe in der Dunkelkammer schon bis 3, 4 oder gar 5 Uhr morgens gearbeitet. Das mache ich nicht für Geld, sondern aus Hingabe.
Begeisterung äußert sich auch darin, dass man immer weitermachen möchte, trotz aller Müdigkeit oder Erschöpfung. Begeisterung und Enthusiasmus vermögen das zu überspielen und tragen Sie bei Ihrer Tätigkeit weiter. Auf Rucksacktouren habe ich häufig noch weiterfotografiert, als sich die anderen schon zur Ruhe gelegt hatten, weil mich die Umgebung derart faszinierte. Auf einer Sierra-Club-Reise 1976 kamen wir nach einer langen und schwierigen Bergwanderung endlich am Biwak an. Alle waren erschöpft. Als aber das Abendessen auf dem Feuer war, bin ich noch eben auf einen nahegelegenen Grat geklettert, um den Mount Clarence King (3950 Meter) im späten Abendlicht zu erleben. Es war eine komponierte Fuge aus Granitgestein (Abb. 1-2). Ich habe die anderen aus der Gruppe von oben herbeigerufen, um diesen faszinierenden Anblick zu teilen. Doch selbst ohne Rucksack oder Fotoausrüstung zeigte sich niemand gewillt hochzuklettern. Ich war somit der Einzige, der diese Aussicht genossen hat!
Genauso habe ich schon bis 3, 4 oder 5 Uhr morgens in der Dunkelkammer an neuen Bildern gearbeitet, weil das jeweils nächste Negativ immer so vielversprechend aussah, dass ich herausfinden wollte, ob es einen tollen Abzug hergibt. Ebenso habe ich kürzlich viele Stunden am Computer damit verbracht, meine RAW-Dateien in fertig bearbeitete TIFFs zu verwandeln, obwohl es schon reichlich spät geworden war. Ich konnte einfach nicht bis zum nächsten Tag damit warten. So ist das eben mit Dingen, die man nicht für Geld, sondern aus Hingabe tut.
Wenn ich draußen während des Fotografierens bei einem Motiv keine initiale Regung verspüre, sehe ich mich eben nach etwas anderem um. Ich zwinge mich nie zum Fotografieren, etwa um eine kreative Hürde zu überspringen. Einige Kollegen raten in derlei Fällen dazu, einfach irgendetwas abzulichten, damit so der Bann gebrochen werde. Das ist reiner Blödsinn. Warum Zeit vergeuden und Material verschwenden im Wissen, dass nichts Gutes dabei herauskommt? Schließlich ist das Betätigen des Auslösers kein sportlicher Akt, für den man sich warmmachen müsste. Deshalb sollten Sie es auch nicht tun.
Aber in dem Moment, wo ich diesen Adrenalinstoß verspüre, suche ich penibel nach der besten Kameraposition, dem passendsten Objektiv, wähle Filter für die optimale Wirkung, nehme Belichtungsmessungen vor bzw. überprüfe sorgsam das Histogramm und belichte mit größter Sorgfalt bei optimaler Blende und Verschlusszeit. All diese Dinge sind wichtig und erfordern Konzentration sowie Einsatz. Die initiale Reaktion auf das Motiv ist spontan, die folgenden Schritte sind es dagegen nicht!
Ich bin der Überzeugung, dass dieser Ansatz für Fotografen jeder Qualifikation gilt, vom Anfänger bis zum Experten. Wenn man auf etwas Wichtiges trifft, wird es sich auch offenbaren. Es wird einen packen und man wird es sofort spüren! Sie müssen sich dann nicht erst fragen, ob es Sie wirklich interessiert oder die Begeisterung ausreicht, um zur Kamera zu greifen. Wenn Sie diese spontane Regung nicht verspüren, haben Sie eben auch kein Bedürfnis, die Botschaft des Motivs zu vermitteln. Meiner Meinung nach liegen die Beweggründe für die meisten Schnappschüsse darin, dass man entweder jemand anderem damit einen Gefallen tun möchte oder aber zeigen will, wo man gewesen ist. Keiner dieser Gründe ist von persönlicher Interpretation und Ausdruck getragen, noch zeugt er von jenem inneren Drang. Fotos vor dem Hinweisschild des Yellowstone-Nationalparks belegen bestenfalls, dass man dort gewesen ist, und dienen wie fast 100 % aller Selfies dem reinen Vergnügen und der Erinnerung, ohne den geringsten künstlerischen Anspruch zu erheben.
Es hat mich immer wieder berührt, wie Menschen mit ihren kreativen Tätigkeiten – wissenschaftlich, künstlerisch oder sonst wie – wegen fehlender Begeisterung ohne Chance auf Erfolg blieben. Begeisterung kann nicht aus sich heraus geschaffen werden. Man hat sie … oder eben nicht! Man kann sich sicherlich zunehmend für eine Sache interessieren und auch begeistern, aber zu erzwingen ist dies nicht. Wenn Sie keine Begeisterung für eine Unternehmung entwickeln, dann probieren Sie lieber gleich etwas anderes. Sind Sie hingegen von etwas begeistert, dann gehen Sie ihm nach! Seien Sie einfach ehrlich zu sich selbst, wenn es darum geht, was Sie wirklich zu begeistern vermag.
Es hat mich immer wieder berührt, wie Menschen in ihren kreativen Tätigkeiten wegen fehlender Begeisterung ohne Chance auf Erfolg blieben.
Fragen Sie sich, wo es Sie hinzieht, was Sie bewegt. Sehr wahrscheinlich werden Sie die besten Aufnahmen in Ihrem Interessengebiet machen, wo Sie zunächst noch ohne Kamera unterwegs sind. Wenn Sie aufrichtig an Menschen interessiert sind, sodass Sie sie ausgiebig kennenlernen und ihre Eigenheiten ergründen wollen, dann sind wahrscheinlich Porträts Ihre größte Stärke. Wenn Sie in der persönlichen Begegnung die äußere Fassade von Menschen zu hinterfragen bestrebt sind, wird es so kommen, dass Sie auch mit der Kamera in der Hand tiefer vordringen und die »wahre« Person zeigen können. Auch wenn ich mich selbst nicht als Porträtfotografen bezeichnen würde, so habe ich doch einige Personen aufgenommen, die ich kenne und schätze und die mir etwas bedeuten (Abb. 1-3).
Faszinieren Sie Ereignisse oder aktionsgeladene Veranstaltungen wie etwa im Sport? Sind Sie gerne live dabei, wenn es um die Ecke gekracht hat, ein Feuer gelöscht werden muss oder ein Prominenter in die Stadt kommt? Wenn dem so ist, dürfte vermutlich Fotojournalismus oder Straßenfotografie Ihre Sache sein. Der letztgenannte Aspekt umfasst den großen Bereich der unbeobachteten Schnappschüsse, die von Henri Cartier-Bresson, Weegee und anderen zu einer Kunstform erhoben wurden. Ihr Ansatz unterscheidet sich vom formellen Porträt dadurch, dass das Foto in der Regel ungestellt und mitunter ohne Wissen des Porträtierten entsteht. Dieser Zweig der Fotografie (die sicherlich anspruchvollste Form der Dokumentarfotografie) zieht diejenigen an, die das Unerwartete und Flüchtige fasziniert.
Lassen Sie uns diesbezüglich noch einen Aspekt berücksichtigen: Die eindrücklichsten Werke dieses Genres lenken nicht so sehr auf das Geschehen als solches, sondern auf die Auswirkungen auf die Beteiligten oder Beobachter. Oftmals verrät die menschliche Reaktion und Interaktion sehr viel mehr über uns und unsere Welt als die Begebenheit selbst. Schlichter Bildjournalismus ist allzu oft vom Ereignis an sich gelenkt und selten genug kommt er über eine reine Wiedergabe der Geschehnisse hinaus … und wird damit echte Kunst.
Fühlen Sie sich von reinem Design oder Farbarrangements angezogen? Vielleicht wäre dann die abstrakte Fotografie etwas für Sie. Brett Weston war ein Paradebeispiel für einen technisch klassisch orientierten Fotografen, der schlichte Silbergelatine-Abzüge gemacht hat, aber dennoch fast jedem seiner Motive eine abstrakte Note verlieh. Experimentelle Techniken wie Mehrfachbelichtungen, Fotomontagen, Doppel- und Mehrfachabzüge, Solarisationen, alternative Bildverfahren, die fast grenzenlosen Möglichkeiten der Digitaltechnik für minimale bis zu radikalen Manipulationen und alle anderen vorstellbaren Ansätze sind hier willkommen. Die einzigen Hürden sind mangelnde Vorstellungskraft oder geringe Experimentierfreude.
Möglicherweise liegen Ihre Interessen auch ganz woanders. Gehen Sie auf die Suche. Wenn Sie sie nicht festmachen können, probieren Sie einfach ein paar Genres aus. Ich habe meine Interessen mittlerweile diesbezüglich sortiert. Heutzutage fotografiere ich ein breit gefächertes Spektrum, habe aber auch mit einem eher begrenzten Gebiet begonnen: der Natur. Nach und nach kam die Architekturfotografie hinzu, von der aus sich weitere Themengebiete mit gelegentlichen Ausflügen in gänzlich unbekannte Terrains ergaben. Von Frederick Sommer stammt das Zitat: »Subject matter is subject that matters!« (»Die Thematik ist das Thema, das wirklich zählt!«) Mir wurde klar, dass es keinen Grund gibt, sich unnötig zu beschränken.
Mein ursprüngliches Interesse an der Natur war allumfassend. Ich fühlte mich zu Bäumen, Bergen, Wiesen, reißenden Flüssen, winzigen Tautropfen bei Sonnenaufgang und Millionen anderer Naturerscheinungen hingezogen … und so ist es heute noch. Witterung und die Gewalt von Stürmen, das Wechselspiel von Klima und Landschaftsformationen sowie der Friede einer ungestörten Stille verzaubern mich. Geologie finde ich sehr spannend und jene Kräfte, die Berge und Schluchten erzeugen, versetzen mich in Erstaunen. All diese Phänomene finden sich bei meinen Fotografien in meiner Interpretation mit meiner Empathie und Begeisterung wieder. Auch ohne die Kamera würde ich innerlich jubeln, aber mit ihr kann ich diesen Jubel zum Ausdruck bringen, meine Begeisterung mittels meiner Interpretation teilen.
1976 kam ich in der Nähe des Yosemite-Nationalparks an einer Gruppe Pappeln vorbei. Sie waren abgestorben infolge der Flutung durch einen Biberdamm. Die Formation dieser toten Bäume war einzigartig, das Licht allerdings viel zu hart für ein gutes Foto. Aufgrund meiner Vertrautheit mit dem Wetter in der Sierra Nevada verriet mir der Blick zum Himmel anhand der Wolkenformationen, dass sich für die nächsten beiden Tage ein Sturm ankündigte. Wenn ich also am Folgetag zurückkäme, könnte ich mit etwas Glück weiches Sonnenlicht durch Dunst oder leichte Bewölkung erwarten. Wie erwartet fand ich dort am nächsten Mittag eine dünne Wolkenschicht vor, die Vorstufe eines unmittelbar bevorstehenden Sturms, und ich konnte meine Aufnahme machen. Mein Wissen über das Wetter hat sehr geholfen, jenes Bild zu realisieren, das mir vorschwebte (Abb. 1-4).
Eine fremdartige Landschaft und mein Faible für Naturgeschichte motivierten mich Ende 1978/Anfang 1979 zu einer Reihe von Ausflügen, täglich ein bis zwei Wanderungen, in das weitläufige Gebiet der südkalifornischen Santa Monica Mountains. Die Gegend war damals von Buschfeuern heimgesucht worden. Zwei Wochen nach dem Feuer führten mich meine Wanderungen zu spektakulären Aussichtspunkten, durch die seidenartige Schwärze der Berge und Täler – und mit der Zeit erlebte ich die spektakuläre Wiederbelebung der Region (Abb. 1-5). Aus dieser viermonatigen Schaffensperiode habe ich zehn Bilder für ein limitiert aufgelegtes Portfolio namens »Aftermath« erstellt. Daraus wurde ein großes fotografisches Projekt, das sich bei mir aus meinem Faible für Naturgeschichte dieser Region unter diesen speziellen Bedingungen entwickelt hat.
1978 begann ich mit der Fotografie in den engen, gewundenen Sandsteinschluchten im Norden von Arizona und im Süden von Utah. Mein lebenslanges Interesse und mein akademischer Hintergrund in Mathematik und Physik haben meine visuellen Interpretationen dieser Schlitzschluchten reichlich genährt. Ich sehe in ihnen geschwungene Kurven wie in Galaxien und andere, im Werden begriffene Himmelskörper. Das Wechselspiel von Formen und Linien zieht mich genauso in den Bann wie Darstellungen von Gravitations- und elektromagnetischen Kraftfeldern, die Staub und Gase im Weltraum anziehen und dadurch Planeten, Sterne und Galaxien entstehen lassen. Oder aber auch jene subatomaren Kräfte, die Atome und Kerne zusammenhalten. Für mich ist jeder Gang durch die Schlitzschluchten ein Gang durch die Milliarden Jahre des Raum-Zeit-Kontinuums. Eben dieses versuche ich durch meine Fotos zu vermitteln (Abb. 1-6).
Mit der Zeit wurde mir klar, dass sich einiges dessen, was mich an der Natur faszinierte, in der Architektur wiederfand. Architektur kann etwas Erhabenes und Überwältigendes an sich haben. Sie kann wunderbare Abstraktionen, Linien und Muster aufweisen. Sie kann ohne Zuhilfenahme weiterer Lichtquellen fotografiert werden und ähnelt in dieser Hinsicht stark der Landschaftsfotografie. Diese Hinwendung zu menschengemachten Strukturen war also eine logische Weiterentwicklung meiner Interessen.
Nach zehn Jahren kommerzieller Architekturfotografie unternahm ich 1980/81 meinen ersten ernsthaften Anlauf einer persönlichen Interpretation von Architektur – mit den Kathedralen Englands. Vor meiner ersten Begegnung mit einer Kathedrale hatte ich religiöse Strukturen generell gemieden, sie waren einfach nicht mein Ding. Als ich die Kathedrale von Ely jedoch das erste Mal sah, war ich von ihrer Erhabenheit regelrecht überwältigt. Meine tiefe Verbundenheit mit der klassischen Musik erschien mir in den Strukturen der Kathedrale wie kristallisiert: Harmonien, Kontrapunkt, Rhythmus und Melodien in Stein gemeißelt. Auch sah ich in dieser Architektur mathematische Gleichungen, quasi Allegorien der Unendlichkeit, in der nahegelegene Säulen und Bögen die dahinterliegenden einrahmten, welche die wiederum dahintergelegenen umgaben und so zu einer scheinbar endlosen Reihe werden ließen. Ich habe meinen flexiblen Reiseplan so gestaltet, dass ich möglichst viele Kathedralen innerhalb meines zweiwöchigen Aufenthalts besichtigen konnte. 1981 bin ich dann für fünf weitere Wochen zurückgekehrt, um diese herrlichen Zeugnisse der Zivilisation zu fotografieren und in ihnen aufzugehen (Abb. 1-7).
Mit der Zeit hat sich mein Interesse an der Architektur, vor allem an großen Industriebauten, zu einer fortwährenden Studie über die Zentren der Metropolen entwickelt. Auch diese Serie fußt auf meinem mathematischen Hintergrund, da ich die geometrischen Verhältnisse zwischen den Gebäuden und ihre verwirrende Wirkung auf das Raumgefühl durch die visuelle Interaktion sehr mag. Diesen Aspekt der urbanen Strukturen finde ich höchst spannend (Abb. 1-8).
Mein Verhältnis zur Architektur ist allerdings ambivalent: Denn außer den Kathedralen gefällt mir – mit Ausnahme einiger weniger Industriebauten – sonst fast keine Architektur. Sie erscheint mir in der Regel kalt, abweisend, unpersönlich und grundhässlich. Die meisten dieser riesigen Betonklötze sind rein funktional ohne jeden Sinn für Ästhetik erbaut worden. Für mich drücken sie das kollektive Desinteresse der modernen Gesellschaft an der Menschheit und der Natur aus. Diesem Gefühl habe ich in meinen Bildkompositionen mit ihren übertriebenen Geometrien Ausdruck zu verleihen versucht.
Mit den Jahren sind meine Arbeiten zunehmend abstrakter geworden. Sie wurden gewagter in der Formensprache, subtiler in der Bildtechnik. Meine Motivbereiche werden sich vermutlich zukünftig erweitern und zugleich werde ich mich mit Motiven aus der Vergangenheit näher befassen, um neue Einsichten zu gewinnen, die mir zuvor entgangen sind. Solche Wandlungen und Weiterentwicklungen sind für jeden Künstler enorm wichtig, um Stagnation und künstlerischer Senilität zuvorzukommen.
Eines ist mir im Laufe der Jahre überraschend klar geworden: Das Motiv als solches wird schlussendlich mit der fortschreitenden Entwicklung von individueller künstlerischer Sehweise, Vorstellung und (fotografischer) Lebensphilosophie zweitrangig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Natur des Motivs völlig unbedeutend wäre. Ganz im Gegenteil! Schließlich hat sie ja aufgrund der persönlichen Relevanz Sie überhaupt erst dazu bewogen, zu fotografieren. Dann einmal in ihren Bann geraten, wird deutlich, dass Ihre persönliche Sichtweise (z. B. aufgrund Ihrer Art der Bildgestaltung) einzigartig ist. So entsteht eine direkte Entsprechung zwischen dem Künstler und seiner Kunst. Die Sichtweise des Fotografen ist ein Widerhall seiner gesamten Lebensauffassung, ganz gleich, um welches Motiv es sich handelt. Nur Edward Weston konnte Edward Westons Fotos machen, nur W. Eugene Smith die Bilder eines W. Eugene Smith, nur Imogen Cunningham die Bilder einer Imogen Cunningham … ganz einfach weil jeder große Fotograf seine ihm eigene Sichtweise hat, die sich durch sein ganzes Schaffen zieht.
Es wäre daher für jeden ernsthaften Fotografen von Wert, sich zu fragen, warum die eigenen Interessen dort liegen, wo sie sind, oder warum sie sich eventuell wandeln. Die daraus resultierende Selbsterkenntnis hilft die Interessen besser zu verstehen und ist auch Bestandteil einer gelungenen visuellen Kommunikation. Beginnen Sie mit Ihren Hauptinteressengebieten und bleiben Sie erst einmal dabei. Es ist unerheblich, ob Ihr Themengebiet eng oder weit gefasst ist. Sie werden sich in andere Bereiche hineinentwickeln, wenn Sie den inneren Drang dazu verspüren – wenn also Ihr Inneres Sie dazu drängt, ein bestimmtes Foto zu machen, das aus Ihrem bisherigen Werk heraussticht.
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