Nicholas
Petrie
Tig3r
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch
von Thomas Stegers
Suhrkamp
In what distant deeps or skies
Burnt the fire of thine eyes?
On what wings dare he aspire?
What the hand, dare seize the fire?
Tyger, Tyger burning bright,
In the forests of the night:
What immortal hand or eye,
Dare frame thy fearful symmetry?
William Blake
Welcher Abgrund, welche Ferne
Barg die Glut der Augensterne?
Welche Flügel mag er schwingen?
Welche Hand das Feuer zwingen?
Tiger, Tiger, grelle Pracht
In den Dickichten der Nacht,
Wes unsterblich Aug und Hand
Wohl dein furchtbar Gleichmaß band?
William Blake
(Deutsch: Walter Wilhelm)
Steig nicht ins Auto.
June Cassidy hatte es oft genug zu hören bekommen. Von ihrer Mutter, von ihrem Selbstverteidigungstrainer, von ihren Freunden, immer und immer wieder.
Ganz egal, was passiert, steig niemals zu Fremden ins Auto.
Weil sie dich sonst haben.
Guter Rat.
Aber der nützte ihr jetzt wenig, weil die Männer sie bereits in das verdammte Auto gezerrt hatten.
Sie saß auf dem Rücksitz eines großen SUV, mit dem Rücken an der verschlossenen Seitentür, Plastikschellen an den Handgelenken, zwei Sitze weiter ein humorloser fettwanstiger Pseudoagent mit lüsternem Blick.
Ihre Möglichkeiten waren begrenzt.
Es war eine besonders anstrengende Woche gewesen, in einer ohnehin schwierigen Zeit.
Ihre Zeitung war aufgekauft worden, wie fast alle größeren Lokalzeitungen, und die neuen Eigentümer machten umgehend Schulden, um sich für ihre Investition zu belohnen. Als die Anzeigen rasant zurückgingen – schönen Dank auch, fucking Craigslist –, fing man an, Reporter zu entlassen, in erster Linie die investigativen Journalisten, die für ihre Storys oft Wochen oder gar Monate brauchten. June war jung, begabt, eine billige Arbeitskraft, weswegen sie sich länger als die meisten anderen hielt. Doch der Konkurrenzkampf war brutal und wurde mit jedem Tag gnadenloser.
Dann war endgültig Sense und June nur eine von vielen Freischaffenden mit einem Abschluss in Journalismus; in diesen hochtechnisierten Zeiten ungefähr so nützlich wie ein Diplom in Klingonisch oder, noch schlimmer, ein Master in Englisch.
Für eine alleinstehende, knapp Dreißigjährige war Selbständigkeit kein Ersatz für einen echten Job.
Ein Jahr lang hangelte sie sich von einem mickrigen Auftrag zum nächsten und versuchte, Leser auf ihren Blog zu lenken. Dann war Public Investigations an sie herangetreten, eine durch Crowdfunding finanzierte Nonprofitgruppe investigativer Journalisten, die sich einer Berichterstattung verschrieben hatte, zu der viele Zeitungen nicht mehr in der Lage waren.
Public Investigations leistete bewundernswerte Arbeit. Im Jahr zuvor hatten ihre Finanzjournalisten in einem ausführlichen Dossier den versuchten Bombenanschlag auf eine Bank in Milwaukee und den nachfolgenden Flashcrash aufgedeckt. PI verfügte jedoch nur über ein geringes Budget, so dass June im Grunde weiterhin freischaffend war, zwar mit einer Redaktion im Rücken, jedoch ohne Krankenversicherung und namentlich gezeichnete Artikel in der Chicago Tribune.
Trotzdem machte sie echte Fortschritte, pendelte zwischen ihrer Garagenwohnung in Seattle und dem kleinen Haus ihrer Mutter in Palo Alto, einer billigen Bleibe, um von dort aus die Westküste journalistisch abzudecken. Ihr Spezialthema: Privatsphäre im elektronischen Zeitalter. Nach Manning, Snowden und den NSA-Enthüllungen beherrschte es die Titelseiten, und sie konnte endlich wieder beruflich durchstarten.
Dann wurde ihre Mutter, Yoga-Fan und Vegetarierin, die täglich fünfhundert Meter schwamm, von einem Auto überfahren und starb. Der Fahrer beging Fahrerflucht. Das war eine Woche her.
Junes Mutter, Hazel Cassidy, ordentliche Professorin an der Stanford University, MacArthur Fellow und berüchtigte Nervensäge, vom Truck eines Klempners getötet. Mit sechzig.
Wie bei vielen Frauen war auch Junes Beziehung zu ihrer Mutter kompliziert gewesen. Ihre Berufswahl, ihre Freunde, ihre Frisur, alles kam auf den Prüfstand, obwohl ihre Mutter sie deswegen nie direkt angegangen war.
Hazels Markenzeichen waren unterschwellig aggressive, zweischneidige Komplimente. »Für mich wäre so ein Outfit ja nichts, aber dir steht es ganz gut.« Als Junes Serie über Datenvergehen in der Medizintechnik für den Pulitzerpreis nominiert worden war, schmiss Hazel für ihre Tochter eine grandiose Party, hatte aber auch Junes Ex-Freund dazu eingeladen, weil Junes neuer Freund Hazels hohen Ansprüchen nicht genügte.
Am Schlimmsten war, dass sie meistens recht hatte. Sie hatte recht, was das Outfit anging, und sie hatte recht, was den beschissenen Freund anging, eigentlich alle ihre Freunde. Manchmal schaffte June es, nicht gleich auf stur zu schalten und dabei zu übersehen, wie gut Hazel sie kannte und wie viel ihr an June lag.
Jetzt war sie tot, und alles würde leichter.
Was würde Hazel für eine bissige Bemerkung über ihre unmögliche Frisur machen.
Seit Hazels Tod war eine Woche vergangen, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.
Nachdem sie ein paar Tage gebraucht hatte, um die Trauerfeier vorzubereiten, und dann noch mal etwas Zeit, um alles zu verkraften, hatte sie in Palo Alto die Sachen ihrer Mutter geordnet, dabei viel geweint, sich an früher erinnert und versucht, sich neu zu sortieren.
Offenbar hatte ihre Mutter an einem geheimen Softwareprojekt für das Verteidigungsministerium gearbeitet, was sie June gegenüber nie auch nur erwähnt hatte.
In einer schlaflosen Nacht wollte sie sich mit dem Kartenschlüssel ihrer Mutter und dem Code Zutritt zu deren chaotischem Büro in Stanford verschaffen. Sie redete sich ein, sie würde nur Familienfotos und die wenigen Pflanzen abholen, die Hazel nicht hatte vertrocknen lassen. Hauptsächlich aber wollte sie in Erinnerung an ihre Mutter den Ort auf sich wirken lassen, der Hazels besseres Zuhause gewesen war, ihren Computerraum.
Stattdessen fand sie das Schloss bereits aufgebrochen vor, die Tür von einem Stuhl aufgehalten. Zwei dicke, grantige Männer in dunklen Anzügen und mit Ausweisen vom Verteidigungsministerium packten den maßgeschneiderten Tig3r-Experimentier-Minicomputer ihrer Mutter und alle Ersatztreiber, die sie finden konnten, in einen Pappkarton. Auf ihrer Sackkarre stapelten sich bereits Archivboxen mit dem Inhalt des gesicherten und feuerfesten Aktenschranks, der offen stand wie eine Leiche für den Gerichtsmediziner.
Die Beamten zückten ihre Ausweise, viel zu kurz, um Namen zu erkennen, stellten aber demonstrativ die Pistolen in ihren Hüftholstern zur Schau. Der Blasse übernahm das Reden, während sein Blick über ihren Körper wanderte; der Dunkle sagte keinen Ton. Sie ließen sie im Türrahmen stehen mit der Warnung, diese Aktion sei geheim, und sollte ihr einfallen, auch nur darüber zu sprechen, müsse sie mit einer Anklage rechnen.
June sah ihnen hinterher, als sie mit der Sackkarre über den Flur abzogen, und sie dachte daran, dass ihre Mutter den Staat eigentlich immer gehasst hatte.
Warum sollte sie für das Verteidigungsministerium gearbeitet haben?
Anders ausgedrückt: Warum rückten diese Leute um drei Uhr morgens an?
Und warum nahmen sie den Tig3r mit, den launischen Minicomputer, und nicht den großen, ultraschnellen, flüssiggekühlten Cray, auf den ihre Mutter so stolz gewesen war?
June hatte den Kopf voll, und als sie sich am nächsten Tag endlich aus dem Bett quälte, stellte sie fest, dass kein Kaffee im Haus war. Wie, verdammt, hatte es so weit kommen können?
Ein Notfall. Sie stieg in die Kleider von gestern, hängte sich ihre Tasche um, schwang sich auf das alte, aber hochgetunte Schwinn-Singlespeed-Fahrrad ihrer Mutter und radelte zu Philz Coffee.
Auf der Middlefield Road überholte sie ein schwarzer SUV mit getönten Scheiben und drängte sie auf den Seitenstreifen ab. Auf dem Armaturenbrett rotierte ein Blaulicht. Das Fenster der Beifahrerseite glitt hinunter, und derselbe blasse Beamte von gestern Nacht quälte sich ein Lächeln ab.
Er sah ihr nicht ins Gesicht, sondern auf ihre Brüste, die durch den Gurt der Umhängetasche besonders betont wurden. Echt daneben, dachte sie. Das Verteidigungsministerium sollte sein Benimmbuch mal von einer Frau überarbeiten lassen.
»Fahren Sie bitte an den Rand, Ms Cassidy. Wir möchten uns ein paar Minuten mit Ihnen unterhalten.«
»Nicht jetzt«, sagte June verärgert. Sie hatte nicht genug Koffein intus, rasende Kopfschmerzen, seit Tagen keinen Sport mehr getrieben. Gerade erst hatten durch das Radfahren die Muskeln angefangen sich zu entkrampfen, da tauchte dieser Idiot auf. »Ich brauche unbedingt einen Kaffee.«
Der dicke SUV hatte sich ihrem Tempo angepasst. »Es dauert nur einen Moment«, sagte der Blasse. »Wir können bei Starbucks vorbeifahren, wenn Sie wollen.«
Der Beamte wollte einfach nicht begreifen. Außerdem würde sie niemals ein Starbucks betreten, keine zehn Pferde kriegten sie da rein. »Hören Sie«, sagte sie. »Ich habe es eilig. Schicken Sie mir eine E-Mail. Rufen Sie mich auf dem Handy an. Dürfte doch kein Problem für Sie sein, die Nummer herauszufinden.«
Der Beamte sah den Fahrer an, der nicht ganz so blass war, aber umso weniger Humor hatte. Warum trugen solche Leute bloß immer so hässliche Anzüge? Der Fahrer nickte.
»Ich arbeite für eine staatliche Behörde«, sagte der Blasse. »Wollen Sie sich einer rechtmäßigen Anordnung widersetzen?«
»Meine Güte, nein.« Obwohl sie sich allmählich fragte, ob das Anliegen tatsächlich rechtmäßig war. Nicht ihr Fachgebiet, aber mit ein paar Anrufen ließe sich das klären. »Nach der Mittagspause, okay? Ich habe jetzt eine Besprechung. Schicken Sie mir eine SMS.«
Der Beamte hob die Hand, der Fahrer scherte nach rechts aus und schnitt June mit dem schwarzen SUV den Weg ab, so dass ihr nichts anderes übrigblieb, als scharf zu bremsen, wollte sie nicht eines der geparkten Fahrzeuge schrammen.
»He, Sie Scheißkerl«, setzte sie an, kam aber nicht weiter, denn der Beamte sprang aus dem Auto und stieß ihr einen Elektroschocker in die Seite.
Es fühlte sich an, als hätte ein Gorilla zugeschlagen. Ihre Beine versagten, und sie brach über dem Lenker zusammen.
Der Mann legte ihr Plastikhandschellen an, befreite sie von dem Fahrrad, hob sie wie eine Stoffpuppe hoch und warf sie auf den Rücksitz.
Der Fahrer checkte die Rückspiegel. »Was machen wir mit dem Fahrrad?«
»Liegen lassen«, sagte der andere, hob die Umhängetasche vom Boden auf und setzte sich neben June. Er holte ein Handy aus der Hosentasche, drückte eine Taste und sagte: »Wir haben sie.«
Der SUV schob sich rückwärts in den morgendlichen Verkehrsfluss, das Blaulicht blinkte noch immer und vermittelte den Eindruck von Wichtigkeit und Eile, und nur ein leises Knirschen war zu hören, als der rechte Hinterreifen über das alte Fahrrad rollte.
Das Auto hinter dem SUV bremste ab, um dem verbogenen Fahrradrahmen auszuweichen, und sein Fahrer war die einzige Person, die sich fragte, was hier geschehen war.
Der schwarze SUV war da schon längst untergetaucht.
June brannte die Haut, da, wo der Elektroschocker sie berührt hatte. Zum Glück war sie nicht verletzt, es tat nur weh, wie nach einem langen Training in der Kletterhalle. Der Sturz über den Fahrradlenker hatte ihr mehr zugesetzt. Vor allem hatte sie Angst. Sie saß in einem fremden Auto, mit fremden Männern. Eine Angst, die rasch in Wut umschlug.
Sie war sich jetzt sicher: Diese Männer arbeiteten nicht für eine staatliche Behörde, Dienstmarke und Blaulicht hin oder her. Niemals hätten offizielle Vertreter einen Elektroschocker benutzt, sondern die Polizei vor Ort losgeschickt und June ordentlich vorgeladen.
Aber was wollten sie überhaupt von ihr?
Es konnte nur etwas mit dem Computerraum ihrer Mutter zu tun haben.
Sie registrierte aufmerksam ihre unmittelbare Umgebung. Die hinteren Autotüren waren verriegelt, und der Fahrer schaute auf die Straße und in die Spiegel. Die nachlässige Art, mit der ihr Sitznachbar sie beobachtete, konnte nur bedeuten, dass er in ihr keine Bedrohung sah, bloß ein kleines wehrloses Mädchen. Bis er anfing, nach ihr zu schielen, sie in ihren Handschellen abzuchecken, als wollte er sie, wenn das alles hier vorbei wäre, zum Essen einladen.
Als hätte er nicht kapiert, dass er sie mit einem scheiß Elektroschocker niedergestreckt und verschleppt hatte.
Sie kannte diesen gewissen Blick von dem Kerl, der sie im ersten Semester an der Uni mit Everclear versetztem »Punsch« stockbesoffen gemacht hatte, damit er sie in der Garderobe seiner Studentenverbindung vergewaltigen konnte. Einer der Typen, die glaubten, Mädchen gingen auf Partys, um sich volllaufen und dann flachlegen zu lassen, man täte doch nur ein gutes Werk, und ein Nein bedeutete eigentlich Ja; Typen, die sich für so unwiderstehlich hielten, dass ein Mädchen ihnen niemals ernsthaft eine Abfuhr erteilen würde.
Sie hatte die Vergewaltigung bei der Campus-Police angezeigt, doch seine Kumpel von der Verbindung verbreiteten Lügengeschichten, sie habe sich betrunken und ihn angemacht. Der Ermittler konnte nicht viel ausrichten. Sie wusste nicht mal, ob er ihr überhaupt glaubte.
Statt die Wut in sich hineinzufressen, beschloss sie, dieses Ereignis als eine Lektion in Sachen mangelndes Urteilsvermögen zu begreifen und als Ansporn, endlich Verantwortung für sich zu übernehmen. Sie ging nicht mehr auf Massenpartys, besuchte Selbstverteidigungskurse und trank nur noch das, was sie sich selbst eingegossen hatte.
Gewalt hatte sie immer abgelehnt, geriet auch nicht leicht in Rage. Aber sie war bekannt dafür, nachtragend zu sein. Das Selbstverteidigungstraining war Mittel zum Zweck. Sie wollte sich schützen, mehr nicht. Sie holte mehrmals tief Luft, reicherte ihr Blut mit Sauerstoff an, steigerte ihre Wut bis zur Weißglut und wartete auf die nächste rote Ampel.
Als der Fahrer sich in die Spur nach Old Middlefield einordnete, wusste sie, dass ihr die Zeit davonlief. Einmal auf dem Freeway, und sie wäre ihnen ausgeliefert. Dort gab es keine Ampeln. Sie sah das Schild, Las Muchachas, spannte die Bauchmuskeln an, hielt sich mit der linken Hand an der Kopfstütze des Fahrers fest, schwenkte zur Seite und trat dem Mann, ihrem potentiellen Vergewaltiger, frontal ins Gesicht.
Sie trug schwere Wanderschuhe, und ihre Beine waren vom vielen Joggen und Radfahren kräftig, so dass der Tritt ihn mit voller Härte traf. Er kippte nach hinten und versuchte sie abzuwehren, doch sie trat weiter zu, so fest sie konnte – ins Gesicht, an den Hals, die Oberarme.
Als er endlich in die Offensive ging, mit seinen Patschhänden nach ihr ausholte, beugte sie sich vor und nahm ihn in Polizeigriff, schlang die andere Hand um seinen kleinen Finger und bog ihn nach hinten, gar nicht so einfach mit Handschellen, aber sehr wirkungsvoll. Das blutige, fleischige Gesicht des Möchtegernvergewaltigers verzerrte sich, und er schrie vor Schmerz, der Fahrer brüllte irgendwas und versuchte, an den Rand zu fahren. Sie hätte sich diese Aktion vorher gründlich überlegen sollen, doch jetzt steckte sie mittendrin und durfte nicht aufgeben, denn die Alternative wäre völlig inakzeptabel.
»Geben Sie mir den verdammten Elektroschocker«, knurrte sie. Sein Finger war kurz davor zu brechen, sein Gesicht von ihrer Geländesohle wie zermanscht, doch jetzt hatte sie ihn vollends gegen sich aufgebracht und wollte ihm nicht noch näher zu Leibe rücken. Er war größer und stärker als sie, und der beengte Raum ließ sich nicht zu ihrem Vorteil nutzen. Sie wusste nicht, wann er auf den kleinen Finger scheißen würde. Wenn er den Schocker wieder einsetzte, umgekehrt sie in den Schwitzkasten nahm oder ihr gar mit der Faust ins Gesicht schlug, wäre sie erledigt. Sie rief nochmal laut und deutlich: »Geben Sie mir den verdammten Schocker!«
»Okay«, sagte er und fasste in die Tasche, doch seine Schweinsäuglein verrieten ihr seine Absicht, und als der Elektroschocker zum Vorschein kam, brach sie ihm den Finger. Sie spürte es knacken, nur ein kleiner schwacher Knochen, trotz der feisten Pranke. Er heulte auf, hatte aber offenbar die gleiche Überlegung angestellt wie sie, denn er bewegte den knisternden Elektroschocker in ihre Richtung.
Sie hatte seinen Finger nicht losgelassen, zog kräftig an ihm, drehte ihn, so dass der Knochen knirschte. Jaulend ließ der Kerl den Elektroschocker fallen. Jetzt musste sie loslassen, um die Waffe vom Boden aufzuheben, doch den Tausch machte sie gerne, denn der SUV steuerte den Straßenrand an, und gleich musste sie auch noch mit dem Fahrer fertigwerden.
Der Kerl drückte seine verletzte Hand an die Brust, ein Bein rutschte vom Sitzpolster. June stützte sich mit dem Knie ab und versetzte ihm einen saftigen Tritt in den ungeschützten Schritt. Sie spürte die Weichteile und wusste, sie hatte getroffen, als er sich wimmernd zusammenkrümmte.
Sie schwenkte zur Seite, rammte dem Fahrer die Zange des Elektroschockers in den Nacken und hielt den Abzug sekundenlang gedrückt, bis es nach verschmortem Fleisch roch.
Der SUV verlor bereits rasch an Fahrt. Die durch den Elektroschock ausgelösten Zuckungen des Fahrers führten dazu, dass er die Bremse durchtrat. Die Räder blockierten, und die Reifen schmierten über den Asphalt.
June kniete auf dem Rücksitz, wurde durch den abrupten Halt seitlich über die Mittelkonsole geschleudert und prallte mit Schulter und Arm auf das Armaturenbrett. Die Handschellen waren ein Problem, doch June klammerte sich förmlich an den Elektroschocker, kam schließlich auf die Beine und hielt dem Fahrer ein zweites Mal den Schocker in den Nacken, auf den Hemdkragen, bis der Mann zusammensackte. Als der Wagen aufhörte zu schlingern, brachte sie die Gangschaltung in Parkstellung, beugte sich nach hinten und zappte dem zusammengerollten Möchtegernvergewaltiger in den Hosenboden. Er zuckte und schrie und wurde gegen die Autotür gequetscht, aber sie drückte ihm den funkenschlagenden Schocker so lange in den Hintern, bis der Stoff sich an den Kontaktstellen schwarz färbte. Seine Schließmuskeln versagten, der Gestank brachte sie zum Würgen.
Sie stieß die Tür auf und fiel aus dem Auto auf den leeren Bürgersteig, als wäre sie aus einem Albtraum erwacht. Sie musste sich zwingen, die hintere Tür zu öffnen und die Taschen des Mannes zu durchsuchen. Kein Kinderspiel mit gefesselten Händen, und als sie das hässliche kleine Messer mit dem furchtbaren Wellenschliff gefunden hatte, schnitt sie sofort die Plastikbänder durch und steckte das Messer in die eigene Tasche. In dem Schulterholster des Mannes steckte eine Pistole, die sie nicht anrührte, und in der Innentasche des Jacketts ein Portemonnaie und ein Ausweismäppchen. Sie nahm beides an sich.
Der Fahrer stöhnte, und sie stieg wieder vorne ein und zappte ihn in die Brust. Sie ließ auch ihm seine Pistole, doch um an sein Portemonnaie in der Gesäßtasche zu kommen, musste sie erst den Sicherheitsgurt lösen, die Tür öffnen und ihn halb auf die Straße stoßen.
Die Portemonnaies und Dienstausweise wollte sie in ihren Besitz bringen, weil sie sich als Journalistin bestens mit der Macht des Wissens auskannte. Sie wollte verhindern, dass die Arschlöcher mit ihren gefälschten Ausweispapieren einfach so durchkamen, wenn die Polizei auftauchte. Und ihnen die Pistolen zu belassen würde es für sie noch schwieriger machen, sich herauszureden.
Mittlerweile hatte der SUV jede Menge Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Quer über zwei Spuren hatte er knapp ein Backsteinmäuerchen, die Einfriedung eines Parkplatzes, verfehlt und war kreischend auf dem Bürgersteig zum Stehen gekommen. Hinter dem Fond, der noch eine Spur blockierte, stauten sich Autos, und die Fahrer schauten aus halb geöffneten Türen auf das Geschehen.
In der finsteren Hölle des zurückweichenden Adrenalins hatte June sich genug Geistesgegenwart bewahrt und nahm ihre Umhängetasche wieder an sich. Sie warf die Portemonnaies und den Elektroschocker hinein, holte ihre Chicago-Cubs-Mütze heraus, zog sich den Schirm mit zitternden Händen tief in die Stirn und suchte den schnellsten Fluchtweg, bloß runter von der Straße, und fragte sich noch, ob sie den Mann auf der Rückbank vielleicht getötet hatte und wie viele Überwachungskameras ihr Gesicht eingefangen hatten.
Was ging hier eigentlich ab?
Sie rannte in eine Anlieferstraße neben einer Autowerkstatt, schlängelte sich zwischen verwilderten Bepflanzungen hindurch, die als Abgrenzungen zu den Parkplätzen herhalten mussten, überquerte die Independence, gelangte in eine geschützte Mini-Mall und traute sich in eine Boutique, die sich Glad Rags nannte. Zielstrebig steuerte sie die Toiletten im hinteren Bereich an, sank in einer Kabine zu Boden und brach, mit der Tasche auf dem Schoß, in krampfartiges stummes Schluchzen aus.
Sie erlaubte sich nur wenige Minuten, mehr brauchte sie nicht. Nachdem sie sich mit dem Handrücken über die Augen gewischt, kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt und ihren Lippenbalsam nachgezogen hatte, war ihr Verstand wieder voll einsatzfähig, ihre professionelle Paranoia auf Hochtouren, ihre Wut nunmehr eiskalt.
Sie war stinksauer.
Die Männer waren in den Computerraum ihrer Mutter eingebrochen, und sie hatten June auf der Straße überfallen. Konnte sie sich gefahrlos an die Polizei wenden? Überhaupt, wo sollte sie hingehen, nachdem sie die relativ sichere Damentoilette erst mal verlassen hatte? Zum Haus ihrer Mutter? Eher nicht. Sollte sie bis nach Seattle fahren, in ihre eigene Wohnung?
Wenn nicht, wohin sonst?
Im Geist ging sie die Orte durch, wo sie hingehen, die Personen, die sie anrufen konnte. Oder würde sie dadurch noch mehr Menschen in Gefahr bringen? Verdammte Scheiße.
Allmählich gewann sie ihre Selbstbeherrschung zurück, die sie wie ein Schutzmantel umgab. Sie schlenderte durch den Laden und suchte sich einen Wendepulli aus Fleece mit Kapuze und einen Schlapphut aus. So konnte sie sich in drei oder vier verschiedene Personen verwandeln, falls ihre Verfolger die Aufnahmen der Überwachungskameras auswerteten.
Ihre Augen waren rot und verquollen von dem Heulkrampf. Die matronenhafte Verkäuferin hinter der Theke sah sie freundlich an. »Alles in Ordnung, meine Liebe?«
June hatte sich mit verschiedenen Variationen der Wahrheit auf diese Frage vorbereitet. »Ich habe mich gerade von dem allerschlimmsten Mann getrennt«, sagte sie. »Er hat es mir verdammt schwergemacht. Ich musste praktisch aus seinem Auto springen, um von ihm loszukommen.«
»Oh je«, sagte die ältere Dame mitfühlend. June hatte den richtigen Ton getroffen. »Männer sind absolute Scheißkerle.«
»Ich habe die Nase voll von ihnen«, sagte June und zog ihre Kreditkarte hervor. »Gestrichen voll.«
»So überflüssig wie ein Kropf«, sagte die Frau mit einem Augenzwinkern, als sie den Betrag abbuchte. »Möchten Sie eine Tüte?«
»Ach, wissen Sie was? Ich ziehe die Sachen gleich an«, sagte sie. »Würden Sie mir einen Gefallen tun? Ehrlich gesagt, habe ich nämlich Angst, dass er draußen steht. Ich will ihm auf keinen Fall über den Weg laufen. Darf ich Ihren Hinterausgang benutzen?«
Draußen fand sie ein altes Mountainbike, das an einem Geländer lehnte, nicht angeschlossen, ein Geschenk des Himmels. Irgendwann würde sie es dem Besitzer zurückgeben, sagte sie sich und wusste doch im selben Moment, dass sie sich etwas vormachte. Sie fuhr los und musste sich zwingen, nicht über die Schulter zu blicken.
Vor dem Haus ihrer Mutter kauerte am Straßenrand noch ein schwarzer SUV, der irgendwie amtlich aussah. June radelte einfach weiter. Zum Glück blockierte das Auto ihrer Mutter die Einfahrt, June hatte die Schlüssel nicht gefunden und ihren eigenen alten Subaru Kombi um die Ecke geparkt.
Sie sah in ihrer Umhängetasche nach, ob ihr eigener Autoschlüssel noch drin war, zusammen mit den übrigen Utensilien ihrer beruflichen Existenz: Notebook und Hülle, Handy, Notizheft, Stifte. Sie ging nie ohne sie aus dem Haus.
Sie lehnte das Fahrrad an einen niedrigen Zaun, stieg in ihr Auto und fuhr leise davon.
Sie hatte keine Ahnung, wohin.
Als Peter Ash hinter der Biegung des schmalen Pfads den Bären sah, hatte er gerade daran gedacht, einen Schnapsladen zu überfallen. Oder eine Tankstelle. Er wog seine Chancen ab.
Zu Fuß, mit Rucksack, tief in den Redwoods, wie man tiefer nicht drin stecken konnte. Obwohl die meisten Mammutbäume in den Jahrzehnten zuvor gefällt worden waren, gab es noch immer einige Schutzgebiete von beträchtlicher Größe entlang der kalifornischen Küste mit ausreichend Bergen und undurchdringlichen Wäldern, um sich richtig zu verlaufen. Aus dem dichten Unterholz in den tiefen wasserreichen Talsohlen ragten Mammutstämme von mehreren Metern Durchmesser in den Nebel wie knorrige Säulen, die den Himmel tragen.
Mit Küstennebel hatte Peter jedoch nicht gerechnet. Anhaltend, seit Tagen, Sichtweite unter dreißig Meter. Das weiße Rauschen im Hinterkopf schlug knisternd Funken.
Es war das weiße Rauschen, das in ihm den Wunsch entstehen ließ, einen Schnapsladen zu überfallen.
Der nächste war mindestens einen Fünftagesmarsch von hier entfernt, der Plan also rein theoretisch. Doch im Geist ging er ihn Schritt für Schritt durch.
Es sollte ohne Waffe passieren, denn ein bewaffneter Raubüberfall hätte sicher eine längere Haftstrafe zur Folge, als er bereit war in Kauf zu nehmen. Schließlich wollte er nicht in einem regulären Gefängnis eingesperrt werden, eine Zelle beim örtlichen Sheriff würde reichen, ein paar Tage, höchstens. Er richtete sich auf eine Nacht ein. Wie er allerdings den Überfall ohne Waffe bewerkstelligen sollte, dieses Problem hatte er noch nicht gelöst.
Er konnte seine Hand in eine Papiertüte stecken und so tun, als hätte er eine Waffe. Irgendetwas müsste er in der Hand halten, damit es realistisch aussah. Eine Banane?
Echt jetzt, das war unter seiner Würde.
Jeder respektable Schnapsverkäufer hätte ihn ausgelacht. Hoffentlich riefen sie trotzdem die Polizei, die ihn in einen Streifenwagen verfrachten und dann, wenigstens, in eine Arrestzelle stecken würde. Vielleicht über Nacht, vielleicht für ein paar Tage. Es wäre ein berechenbares Risiko.
Das Problem war der Wald. Dicht und dunkel, die Wolkendecke dick und tief, den Himmel hatte er seit Wochen nicht gesehen. Das weiße Rauschen ließ ihn einfach nicht in Ruhe, nicht mal hier draußen, meilenweit von jeder sogenannten Zivilisation entfernt. Es nervte. Seit Jahren hatte er sich vorgenommen, einmal in den Redwoods zu wandern. Jetzt war er endlich in dem grünen Paradies, und es machte keinen Spaß.
Peter Ash war groß und schlaksig, Muskeln und Knochen, kein Gramm zu viel. Das schmale Gesicht kantig, die Ohrläppchen leicht spitz, das dunkle Haar ein unbändiger Wuschelkopf. Er hatte breite knochige Hände und die nachdenklichen Augen eines Werwolfs eine Woche vor der Verwandlung. Irgendein Körperteil war immer in Bewegung, auch jetzt, beim Wandern in den Bergen, zuckten die Fingerspitzen im Einklang mit seinem inneren Metronom, das niemals stillstand.
Er war Lieutenant bei den U. S. Marines gewesen, im Irak und in Afghanistan stationiert, acht Jahre, mit mehr Einsätzen, als ihm lieb gewesen war. Bei den Bodentruppen, der Speerspitze. Mit dem Krieg hatte er vor zwei Jahren abgeschlossen, aber der Krieg noch nicht mit ihm. Der hatte ihm ein Souvenir hinterlassen. Er nannte es das weiße Rauschen, eine seltene Form des posttraumatischen Stresssyndroms, das sich als Klaustrophobie äußerte, eine heftige Reaktion auf geschlossene Räume.
Es war erst zu Hause aufgetreten, wenige Tage nach der Entlassung.
Wenn er ein Gebäude betrat, war ihm zunächst nur unwohl. Er spürte ein feinkörniges Gefühl im Genick, wie ein elektrostatischer Schaum, eine Minibatterie unter der Haut. Allmählich steigerte sich diese Empfindung. Der Schaum verwandelte sich in einen Funkenschlag, ein knisterndes Unbehagen im Hirnstamm, eine schwere Dissonanz am Rand des Hörvermögens. Der Nacken verspannte sich, und mit dem Muskelkrampf hoben sich die Schultern. Wenn sich dann noch die Brust verengte und er Atemnot bekam, hielt er Ausschau nach dem nächsten Ausgang. Nach zwanzig Minuten überfiel ihn regelrecht Panik, er fing an zu hyperventilieren, und der Kampf-oder-Flucht-Mechanismus setzte ein.
Meistens entschied er sich für Flucht.
Über ein Jahr lang war er mit Rucksack in den Bergen im Westen des Landes unterwegs gewesen, hatte versucht, wieder in die Normalität zurückzufinden. Es hatte nicht funktioniert. Schließlich hatte er sich letztes Jahr dazu durchgerungen, seine Kuschelecke zu verlassen und einigen Freunden zu helfen. Danach war es etwas besser. Er dachte, er würde Fortschritte machen. Aber die Freunde waren in ihr altes Leben zurückgekehrt und Peter wieder seiner eigenen Wege gegangen. Irgendwas war passiert. Irgendwie hatte er den Boden unter den Füßen verloren.
So sehr, dass selbst eine Wanderung durch die nebligen Redwoods reichte, um die Funken im Kopf zum Sprühen zu bringen.
Daher die Idee, sich einsperren zu lassen. Um diesen Mist ein für alle Mal aus dem Körper zu schaffen.
Er hielt es nicht für eine gute Idee.
Dann sah er den Bären.
Er war knapp dreißig Meter vor ihm, ein Stück hangabwärts von dem schmalen Pfad, der sich die Bergflanke entlangzog.
Zuerst sah er nur eine gefleckte braune Form, ungefähr so groß wie ein Volkswagen Käfer, mit Fell bedeckt, die versuchte, einen halb verfaulten Stamm den Berg hinunterzurollen.
Peter musste erst noch ein paar Schritte weitergehen, bis ihm klar wurde, dass die braune Form ein Bär war.
Der Weg führte durch dichten Primärwald, zu steiles Gelände für kommerzielle Bewirtschaftung. Es war Mitte März und der Bär vermutlich auf Nahrungssuche. Die Larven unter dem Stamm lieferten in dieser noch mageren Jahreszeit dringend benötigtes Protein. Der Bär brummte vor sich hin, während er in der Erde wühlte, ein bisschen wie Peters Vater, wenn er die Ladefläche seines Trucks saubermachte. Das Tier war ganz vertieft in seine Tätigkeit und hatte das menschliche Wesen in seiner Nähe noch nicht bemerkt.
Peter blieb stehen.
Schwarzbären kamen in den unzulänglicheren Waldgebieten an der Westküste häufiger vor, aber sie waren kleiner, ausgewachsen wogen sie durchschnittlich hundertfünfzig Kilo. Fühlten sie sich bedroht, konnten sie viel Schaden anrichten, doch normalerweise scheuten sie Konfrontationen mit Menschen. Peter hatte Schwarzbären schon durch einfaches Klatschen und Rufen von ihren Lagerplätzen vertrieben.
Das hier war kein Schwarzbär.
Dieser Bär war rotbraun, mit einem ausgeprägten Höcker, und er war sehr groß. Ein Grizzly. Grizzlys standen ganz oben in der Nahrungskette, verhielten sich oft sehr aggressiv und sollen auch schon Wanderer getötet haben. Klatschen würde diesen Bären wenig beeindrucken. In seinen Ohren wäre es eher eine Aufforderung, sich an den gedeckten Tisch zu setzen.
Die gefährlichste Zeit für Begegnungen mit Grizzlys war der Herbst. Sie mussten sich Fettpolster anfressen, um den Winter zu überstehen.
Danach kam das Frühjahr, wenn sie völlig ausgehungert aus dem Winterschlaf erwachten. So wie jetzt.
Peter war vom wochenlangen Wandern schlank und kräftig. Seine Kleidung strapaziert von Stein und Sträuchern, der Rucksack eng an den Rücken geschnallt, um leichter durchs Unterholz kriechen zu können. Zweimal hatte er seine Lederschuhe neu besohlen und die gepolsterten Schäfte flicken lassen, nachdem Mäuse sie wegen der Salzablagerungen angeknabbert hatten, während er eingewickelt in seine Bodenplane geschlafen hatte.
Er war sehr viele Kilometer gewandert in den Bergen.
Jetzt fragte er sich, wie schnell er rennen konnte.
So leise wie möglich trat er den Rückzug an, erst einen Schritt, dann einen zweiten. Vielleicht konnte er ja einfach im Nebel untertauchen.
Ein Wanderveteran, den er mal kennengelernt hatte, nannte den Braunbären Mister Griz, als Ausdruck des Respekts. Die Fakten hatte er wie eine Litanei heruntergeleiert. Mister Griz kann bis zu einer halben Tonne wiegen. Mister Griz erreicht auf kurzen Strecken eine Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern. Seine starken Kiefer können Bowlingkugeln zermalmen. Mister Griz frisst alles. Nur wenn er sich bedroht fühlt oder hungrig ist, greift er Menschen an. Mister Griz hat keine natürlichen Feinde.
Der Bär beschäftigte sich noch immer mit dem morschen Baumstamm. Peter wich wieder einen Schritt zurück, den dritten, dann den vierten. Etwas schneller als die ersten beiden.
Ein Rückzug angesichts einer überwältigenden Macht. Ohne Ehrverlust, selbst für einen U. S. Marine.
Angeblich war der kalifornische Grizzlybär ausgestorben. Doch dieser war ein sehr großes Exemplar, und es war bekannt, dass große Männchen auf Partnersuche weite Entfernungen zurücklegten. Die Grenze zu Oregon verlief hundert Kilometer nördlich von hier, und in diesem dunklen Primärwald schien alles möglich.
Fünf Schritte. Sechs. Wie viel dieser spezielle Grizzly wog oder worauf er Appetit hatte, Peter war es egal, und er wollte es auch nicht herausfinden. Er hatte die Biegung des Wegs fast erreicht. Irgendwann wäre das eine hübsche Anekdote zum Erzählen.
Dann spürte er an den Nackenhaaren ein leichtes Lüftchen. Der Wind, bisher im Gesicht, hatte sich gedreht.
Jetzt saß er in der Klemme.
Grizzlys haben ein mäßiges Sehvermögen und ein gutes Gehör, aber ihr Geruchssinn ist ausgezeichnet. Und die Bergbrise blies dem Bären Peters wochenalten Wandermief und den Geruch aus seinem Rucksack direkt ins Gehirn. Zum Proviant gehörte auch ein köstlicher Trailmix aus Cashewkernen und Mandeln, Erdnüssen, Rosinen und Schokochips.
Viel leckerer als Larven unter einem Baumstamm.
Grunzend hob der Bär den Kopf.
Peter ging etwas schneller rückwärts, spürte das Adrenalin in seiner Blutbahn rauschen und erinnerte sich an den Rat des Veteranen.
Nicht wie eine Bedrohung erscheinen oder wie ein gefundenes Fressen. Wegrennen ist keine gute Idee, weil Bären schneller sind als Menschen. Nur Beutetiere rennen weg.
Lieber seinen Rucksack absetzen, hatte der Veteran geraten, um dem Bären etwas zum Beschnüffeln zu geben, und sich langsam zurückziehen. Wenn der Bär angriff, sollte man sich in Embryohaltung auf den Boden legen und mit den Armen Gesicht, Kopf und Nacken bedecken. Man würde vielleicht übel zugerichtet, aber höchstwahrscheinlich nicht getötet.
Peter war nicht der Embryo-Typ.
Der Bär, gute zweieinhalb Meter groß, stand aufrecht auf den Hinterläufen, schwang seinen gewaltigen Kopf in Peters Richtung und schnupperte wie ein Sommelier im Silicon Valley.
Mmh. Lecker Trailmix.
Peter trat wieder einen Schritt zurück. Und noch einen.
Der Bär ließ sich auf die Vorderpfoten fallen und griff an.
Peter warf den Rucksack ab und nahm die Beine in die Hand.
Er war mit Tieren groß geworden. Hunde im Garten, Pferde in der Scheune, frei herumlaufende Hühner und Katzen. Vor einem Jahr hatte er einen Hund adoptiert, besser gesagt, der Hund hatte ihn adoptiert, es war nicht ganz klar. Am Ende hatte der Vierbeiner ein besseres Zuhause gefunden, als Peter ihm bieten konnte.
Trotzdem, er liebte Tiere, sogar Grizzlys, jedenfalls theoretisch. Und besonders liebte er das Prickeln, wenn ein Raubtier in der Nähe war. Er fühlte sich dadurch lebendiger.
Der Bär ließ sich durch den Rucksack nur für wenige Sekunden ablenken, für Peter reichte es gerade noch, um hinter der Biegung auf die unteren Äste eines Baums zu springen. Der Bär war ihm dicht auf den Fersen und riss ihm ein Stück Gummisohle vom Schuh. Peter konnte froh sein, dass es nicht seinen Fuß erwischt hatte.
Er kletterte höher, half sich mit Haltegriffen in der weichen dicken Rinde. Es war ein Jungbaum, hoch und aufrecht wie ein Fahnenmast. Er klammerte sich mit Armen und Beinen an den Stamm, während unten am Boden Mister Griz brüllte und die Vordertatzen in das Holz hieb. Scheinbar hatte er keine Lust, hinterherzuklettern. Der Baum schwankte hin und her, und Peter klopfte das Herz bis zum Hals.
Leben, leben! Ich lebe.
Lieber hier sein, als hinter einem Schreibtisch versauern.
»Böser Bär«, rief er. »Du böser Bär, du.«
Nach einigen Minuten gab Mister Griz auf und trabte der Geruchsfahne des Trailmix hinterher. Peter musste noch drei Meter höher klettern, um einen stabilen Ast zu finden, der sein Gewicht trug, und schon fragte er sich, wie lange er hier wohl ausharren musste, da kehrte der Bär zurück, den Rucksack über den Boden schleifend. Er ließ sich am Fuß des Baums nieder und fing an, mit Begeisterung den Sack auszuweiden.
Nach einer Stunde wanderte der Proviant für zwei Wochen durch das Verdauungssystem des gewitzten Bären, zusammen mit Nothandy, warmer Unterwäsche und einem fünfzehn Meter langen Kletterseil.
»Das Wort Allesfresser kriegt bei dir eine ganz neue Bedeutung, Mister Griz«, rief Peter ihm von seiner hohen Warte aus zu.
Danach machte sich der Bär einen Spaß daraus, Peters Schlafsack, Regenausrüstung und Ersatzkleidung zu zerfetzen. Peter rief ihm etwas von schlechter Kinderstube zu.
Mister Griz zerriss gerade Peters superleichtes Zelt, als es wieder zu regnen anfing. Dicke Tropfen prasselten herab.
Peter seufzte. Er hatte das Zelt wirklich gemocht.
Und sei es nur als Regenschutz.
In seinen knapp über dreißig Jahren auf dieser Welt hatte er schon viele ungewöhnliche Schlafplätze gehabt. Die ersten sechs Monate soll er in einer Kommodenschublade geschlafen haben. Als Teenager, im ständigen Kleinkrieg mit seinem Vater, hatte er sein Nachtlager häufig im Pferdestall aufgeschlagen, selbst in den strengen Wintermonaten, die im Norden von Wisconsin keine Seltenheit waren. Er hatte in Zelten geschlafen, in Booten, unter freiem Himmel und in der Fahrerkabine seines 68er Chevy Pick-ups. Im Irak und in Afghanistan hatte er in einer ausgebombten Zigarettenfabrik gepennt, in einem geplünderten Palast, auf Gefechtsvorposten und in Humvees, gepanzerten Landfahrzeugen, und an vielen anderen möglichen und unmöglichen Orten.
Auf einem Baum hatte er noch nie übernachtet.
Es war gar nicht so leicht. Der Dauerregen hatte seine Kleider durchnässt. Als das Adrenalin nachließ, kehrte das weiße Rauschen zurück, ein Zischen im Hinterkopf, was zu dem Schlafproblem noch hinzukam. Die Arme um den Baumstamm geschlungen, schlossen sich seine Augen leise zuckend, und Mister Griz’ Schnarchen sang ihn in den Schlaf. Dann plötzlich, zitternd vor Kälte, erwachte er ruckartig mit dem Gefühl, er würde fallen, und panisch suchte seine Hand nach Halt.
Die Nacht dauerte ewig.
In den wachen Momenten wanderten seine Gedanken zum letzten Winter, als er allein in der Wüste von Utah campen war. Die öde Leere hatte in ihm die Sehnsucht nach hohen Bäumen geweckt, weswegen er sich auf den Weg durch die grandiose Weite von Nevada bis hinauf in das durstige fruchtbare California Central Valley und die überentwickelten Städte der nördlichen Bay Area gemacht hatte.
In Clearlake, Kalifornien, hatte er seinen Pick-up in der Garageneinfahrt eines ehemaligen Kameraden der U. S. Marines abgestellt und war durch Reihenhaussiedlungen und Mini-Malls, Weingärten und Kuhweiden bis zum Südende des Mendocino National Forest gewandert, von da aus weiter Richtung Norden. Manchmal markierte Wanderwege, manchmal Wildpfade entlang, manchmal querfeldein auf den bewaldeten Bergkämmen, um die Regenwolken und den Nebel unter sich zu lassen und der Sonne näher zu sein. Es war noch zu früh im Jahr für blauen Sommerhimmel, aber im Sommer wäre der Wald von Menschen überlaufen.
Stattdessen war er einem Bären begegnet.
Als es hell genug war, schaute er nach unten und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Seine Ausrüstung war zerfleddert, sein Proviant verzehrt. Mister Griz saß immer noch da, gewaltiger denn je, und schnarchte vor sich hin.
Eine Tasse Kaffee würde jetzt guttun, dachte er.
Aber das konnte er sich aus dem Kopf schlagen.
Bestimmt war auch aus seinem Kaffeevorrat Bärenfutter geworden.
Er schaute nach oben. Er saß rittlings auf einem Ast eines noch relativ jungen Stamms in einem Wald von ausgewachsenen Mammutbäumen. Zwar konnte er nicht weit sehen bei dem Nebel, aber zehn, fünfzehn Meter waren es sicher noch bis zur Baumkrone. Bei den älteren Bäumen wären es eher sechzig bis siebzig Meter.
Der Regen hatte in der Nacht nachgelassen, und obwohl der Nebel immer noch dicht war, hatte sich etwas verändert. Der Dunst über ihm leuchtete schwach, grünlich von der Vegetation, erfüllt von dem Sauerstoff, den Riesen ausatmen. Vielleicht war irgendwo weiter oben die Sonne herausgekommen. Durch das Licht erschien der Wald wie eine Kathedrale.
Er schaute wieder nach unten: Mister Griz schlief, der Rucksack samt Inhalt zerstört. Das weiße Rauschen meldete sich zurück, er fror, er war durchnässt und übermüdet.
Er sah wieder nach oben: die Aussicht auf Sonne und Wärme und einen weiten Blick.
Was ist? Willst du ewig leben?
Er lachte und fing an zu klettern.