3Alfred R. Mele

Willensfreiheit und
Wissenschaft

Ein Dialog

Aus dem Amerikanischen von Guido Löhrer

Suhrkamp

Wieder für meine Kinder (aber diesmal in chronologischer Reihenfolge):

Al, Nick und Angela

9Vorwort

Mein Sohn Nick und ich haben uns einmal darüber unterhalten, wie ich für Studierende oder eine noch größere allgemeine Leserschaft ein Buch über die wissenschaftlichen Herausforderungen für die Willensfreiheit schreiben könnte. Nachdem wir eine Zeitlang diskutiert hatten, kam uns – wie es schien, zur selben Zeit – derselbe Gedanke: Ich sollte einen Dialog schreiben. Und das tat ich auch. Die Arbeit daran hat mir sehr viel Vergnügen bereitet. Das Ergebnis ist dieses Buch, und ich hoffe, Sie haben ebenfalls Freude daran.

Ich betrachte Philosophie als ein Abenteuer. Man beginnt mit einer philosophischen Frage und versucht, eine vertretbare Antwort darauf zu finden. Die Ausgangsfrage führt zu weiteren Fragen, die ebenfalls nach Antworten verlangen. Manchmal kann man nicht absehen, welche Frage, welches Problem, welche Antwort als Nächstes kommt, und das macht die Arbeit spannend. Die übliche Art, ein philosophisches Buch für Studierende zu schreiben, kann die Begeisterung etwas dämpfen: Zu Beginn jedes Kapitels erzählt man seinen Lesern, was man tun wird und wie man es tun wird, dann tut man es, und anschließend ruft man ihnen in Erinnerung, was man getan hat. In einem Dialog können Gedanken auf eine natürlichere Weise aufkommen, verdeutlicht und beurteilt werden, was das Ganze fesselnder, vergnüglicher und spannender machen kann.

Nachdem meine Figuren zu verstehen versucht haben, was es bedeutet, Willensfreiheit zu besitzen, beschreiben sie und reagieren sie auf Experimente, die oft als die größten wissenschaftlichen Herausforderungen für die Existenz der Willensfreiheit gelten. Einige dieser Experimente stammen aus der Neurowissenschaft, andere aus der Sozialpsychologie. Die Leitfrage des Dialogs lautet: Wie überzeugend sind die maßgeblichen wissenschaftlichen Herausforderungen der Willens10freiheit? Sind sie so überzeugend, dass jeder gebildete Mensch in Sachen Willensfreiheit skeptisch sein sollte? Oder weisen sie möglicherweise auf Einschränkungen der Willensfreiheit hin, ohne die Skepsis gegenüber ihrer Existenz zu rechtfertigen? Vieles von dem, was meine Figuren zu sagen haben, antwortet unmittelbar auf meine Leitfrage. Mein vorrangiges Ziel ist es, dem Leser dabei zu helfen, die wissenschaftlichen Herausforderungen der Willensfreiheit zu bewerten und meine Leitfrage für sich selbst zu beantworten.

Für Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Buchs danke ich Joe Campbell, Washington State University; Rami El Ali, University of Miami; Andreas Falke, University of Florida; Meghan Griffith, Davidson College; Stephen Kearns, Florida State University; Benjamin McMyler, Texas A&M University; Chris Meyers, University of Southern Mississippi; Jason Miller, Florida State University; Eddy Nahmias, Georgia State University; Josh Shepherd, Florida State University; Bruce Waller, Youngstown State University. Besonderen Dank schulde ich Andrei Buckareff vom Marist College, der mit einer früheren Fassung dieses Buchs einen Probelauf in einem Seminar durchgeführt hat. Andrei leitete die Kommentare seiner Studierenden an mich weiter und schickte mir eigene Hinweise. Ich danke Josh Shepherd für die ursprünglichen Entwürfe der Diagramme und Angela Mele für den Umschlagentwurf der englischen Ausgabe und Kommentare zu einer frühen Fassung. Dieses Buch wurde durch die Förderung der John Templeton Foundation ermöglicht. Die hier geäußerten Ansichten decken sich nicht notwendigerweise mit denjenigen der John Templeton Foundation.

111. Montagnachmittag

Alice liest in ihrem Lieblingscafé einen Zeitungsartikel auf ihrem Laptop.

Bob: Bitte schön, Alice. Ein Caramel-Kiss-Frappé. Genau das Richtige für einen Sommernachmittag in Tallahassee.

Alice: Super, danke. Das nächste geht auf mich.

Bob: Was liest du?

Alice: Einen Artikel darüber, wie eine Gruppe von Neurowissenschaftlern bewiesen hat, dass Willensfreiheit eine Illusion ist.

Bob: Glaubst du das?

Alice: Nein, aber …

Bob: Glaubst du an Willensfreiheit?

Alice: Na ja, nimm an, ich hätte Ja gesagt. Ich bin mir nicht sicher, wie viel dir das über mich sagen würde. Vielleicht ist ja das, was ich unter »Willensfreiheit« verstehe, nicht das, was du darunter verstehst. Genau genommen ist das, was ich darunter verstehe, vielleicht auch nicht das, was die Neurowissenschaftler darunter verstanden haben. Und vielleicht meinen auch die Wissenschaftler und die Journalisten damit ganz verschiedene Dinge.

Bob: Was verstehen die Neurowissenschaftler denn unter »Willensfreiheit«?

Alice: Ich weiß es nicht. Das steht nicht in dem Artikel. Dort steht auch nicht, was die Journalisten darunter verstehen oder was sonst jemand damit meint.

Bob: Okay. Dann sag doch mal, was du darunter verstehst.

Alice: Ich bin mir nicht ganz sicher. Im letzten Semester habe ich die Einführung in die Philosophie belegt. Willensfreiheit kam nicht vor, aber wir haben eine Reihe interessanter Themen behandelt, zum Beispiel Wissen. Die Professorin – ich 12habe ihren Namen vergessen – forderte uns auf, »Wissen« zu definieren. Sie formulierte es so: Was bedeutet es, wenn man sagt: »S weiß, dass p«? Jedenfalls …

Bob: Was bedeutet »S weiß, dass p« denn nun?

Alice: Wenn ich’s mir recht überlege, war sie vielleicht gar keine Professorin. Sie war ziemlich jung, vielleicht eine Masterstudentin.

Bob: Zurück zu »S weiß, dass p«! Können wir als Beispiel »Sam weiß, dass eine Professorin dein Philosophieseminar gehalten hat« nehmen?

Alice: Klar. Man könnte nun denken, damit Sam das weiß, genügt es, dass er es glaubt und dass es wahr ist. Also könnte man sagen, dass S weiß, dass p, heißt, dass S glaubt, dass p, wenn p wahr ist. Aber jetzt stell dir vor, Sam glaubt nur deswegen, dass eine Professorin das Seminar hält, weil er nicht mitbekommen hat, dass einige unserer Seminare nicht von Professoren, sondern von Masterstudierenden gehalten werden. Er denkt, alle Seminare werden von Professoren gehalten, und schließt daraus, Wie-auch-immer-sie-hieß sei eine Professorin gewesen. Nach allem, was Sam wusste, hätte seine Dozentin also auch eine Masterstudentin und keine Professorin sein können.

Bob: Verstehe. Sam wusste gar nicht, dass das Seminar von einer Professorin gehalten wurde, selbst wenn es so war. Er kann nämlich nicht zwischen Professorinnen, die Seminare halten, und Masterstudentinnen, die Seminare halten, unterscheiden.

Alice: So in der Art. Sam hatte keinen guten Grund zu glauben, die Dozentin sei eine Professorin und eben keine Masterstudentin, oder er war, wie die Dozentin immer sagte, nicht gerechtfertigt zu glauben, sie sei eine Professorin. Sie hat ständig von »gerechtfertigt« geredet.

Bob: Können wir dann sagen, dass Wissen gerechtfertigte wahre Meinung ist?

Alice: Ich nehme es an. Aber dann müssen wir fragen, wie 13viel Rechtfertigung man braucht. Ich glaube, hier kam dann eine abgedrehte Gehirn-im-Tank-Geschichte ins Spiel.

Bob: Was für eine Geschichte?

Alice: Oh, vor fünfzig Jahren wurde die Erdoberfläche durch einen Atomkrieg zerstört. Aber kurz bevor das passierte, hat eine Neurowissenschaftlerin dein Gehirn aus deinem Schädel genommen, es in einen Tank mit einer lebenserhaltenden Flüssigkeit gelegt und an ein Computerprogramm angeschlossen, das dein Gehirn mit einer langen Abfolge von Erfahrungen versorgt, die von echten Erfahrungen nicht unterschieden werden können. Dann haben ihre Mitarbeiter den Tank und den Computer in einem tiefen Loch verbuddelt.

Bob: Hey, das erinnert mich an Matrix, einen wirklich guten Film. Hat deine Professorin – entschuldige, deine Dozentin – die Idee daher?

Alice: Nein, sie stammt von einem Philosophieprofessor namens Hilary Putnam, das war schon lange vor Matrix.

Bob: Jedenfalls ist die Geschichte verrückt. Ich bin erst zwanzig. Also konnte mein Gehirn nicht vor fünfzig Jahren aus meinem Körper geholt werden. Ende der Geschichte.

Alice: Woher willst du das wissen?

Bob: Was wissen? Dass ich zwanzig bin?

Alice: Ja.

Bob: Ich habe eine kleine Kopie meiner Geburtsurkunde im Portemonnaie. Hier, sieh sie dir an!

Alice tut so, als überprüfe sie die Geburtsurkunde.

Alice: Woher willst du wissen, dass das deine Geburtsurkunde ist?

Bob: Glaubst du etwa, sie ist gefälscht?

Alice: Nein, ich …

Bob: Ah, ich verstehe. Woher ich weiß, dass es überhaupt eine Geburtsurkunde ist? Wenn die verrückte Geschichte wahr ist, wird meine Wahrnehmung einer Geburtsurkunde auch bloß 14vom Computer erzeugt. Ich habe überhaupt keine Geburtsurkunde in der Hand. In Wirklichkeit habe ich auch gar keine Hand. Wir sind nicht in einem Café, und …

Alice: Genau. Und woher willst du wissen, dass die irre Geschichte nicht wahr ist? Wenn du das nicht weißt, dann weißt du auch nicht, dass du zu jung dafür bist, dass sie wahr sein könnte.

Alice und Bob sehen einen Freund kommen.

Cliff: Hey! Was geht?

Bob: Hi Cliff. Am Anfang haben wir uns darüber unterhalten, ob Neurowissenschaftler nachgewiesen haben, dass es keine Willensfreiheit gibt. Aber irgendwie sind wir bei Matrix gelandet.

Cliff: Ah, Matrix. Wirst du die rote oder die blaue Kapsel wählen? Denkt an die Stelle, an der Neo diese wichtige Entscheidung treffen muss! Da geht’s wirklich um Willensfreiheit.

Alice: Kann schon sein. Aber worauf ich mit dem Gedankenexperiment hinauswollte, das Bob an Matrix erinnert hat, war bloß eine allgemeine Bemerkung über Wörter. Wir glauben zu wissen, was wir mit manchen Wörtern meinen – Wörter wie »wissen«, »gut« und »gerecht« –, bis wir anfangen, ein wenig darüber nachzudenken, was wir damit meinen. Für »wissen« habe ich dazu das Matrix-Gedankenexperiment benutzt. Eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass es sich mit »Willensfreiheit« vielleicht genauso verhält. Vielleicht haben wir keine besonders gute Vorstellung davon, was wir unter »Willensfreiheit« verstehen, bis wir versuchen, sie zu definieren. Oder wenn schon keine Definition, dann wenigstens so etwas Ähnliches.

Cliff: Verstehe. Glaube ich zumindest. Ich werde dir sagen, was ich mit »Willensfreiheit« meine: tun können, was man will.

Bob: Meinst du, alles tun können, was man will? Als ich klein war, wollte ich wie Superman fliegen und mit einem einzigen 15Satz über Wolkenkratzer springen. Natürlich konnte ich das nie. Heißt das, ich hatte als Kind keine Willensfreiheit?

Cliff: Ach so, das wäre dann wohl Superduperwillensfreiheit. Ich versuch es anders. Wie steht es hiermit: Man hat Willensfreiheit bei dem, was man will, wenn man es tun kann. Also hattest du keine Willensfreiheit, wie Superman zu fliegen. Aber ich habe die Willensfreiheit, ein Caramel-Kiss-Frappé zu bestellen. Ich möchte eins bestellen und kann das auch tun. Wart’s nur ab!

Alice: Aber du hast doch immer gesagt, dass du Frappés hasst. Was ist los? Warum willst du jetzt eins?

Cliff: Du hast recht. Fast hätte ich eins bestellt. Was ist hier los?

Bob: Möchtest du, dass ich dir ein Frappé hole, Cliff?

Cliff: Warte mal. Das ist komisch. Ich komme gerade von einem Hypnose-Experiment. Die Hypnotiseurin sagte mir, ich könnte mich dabei ertappen, etwas zu wollen, was ich vorher noch nie gewollt habe. Etwas Harmloses. Ich wette, das ist es.

Alice: Glaubst du immer noch, du kannst dir aus freien Stücken ein Frappé holen?

Cliff: Vielleicht jetzt, wo mir eingefallen ist, warum ich dieses seltsame Verlangen nach einem Frappé habe. Aber hätte ich einfach eins bestellt, wäre wohl eher die Hypnose daran schuld gewesen.

Bob: Also möchtest du deine Definition der Willensfreiheit nochmal ändern? Ich glaube, dafür gibt es auch noch ein paar andere Gründe. Stell dir vor, während du heute Abend herumspazierst, droht dir jemand, dich zu erschießen, wenn du ihm nicht dein Geld und das Handy gibst. Du willst ihm beides geben, damit er dich nicht erschießt, und du kannst es auch. Aber hast du wirklich Willensfreiheit, wenn es darum geht, ihm Geld und Handy zu geben?

Cliff: Ich bin mir nicht sicher. Aber ich gebe zu, es ist kompliziert. Ich dachte, ich wüsste, was »Willensfreiheit« bedeutet, aber jetzt bin ich verwirrt. Das hat Alice wohl vorhin 16gemeint. Gönnt mir eine Philosophie-Pause und lasst mich herausfinden, was ich trinken möchte!

Alice: Willst du immer noch das Frappé?

Cliff: Ja, aber ich werde meinen üblichen Milchkaffee bestellen. Selbst wenn die Hypnotiseurin in mir den Wunsch nach dem Frappé geweckt hat, bezweifle ich, dass sie mich dazu bringen kann, es zu mögen.

Während Cliff geht, um seinen Milchkaffee zu bestellen, setzt sich Deb, eine weitere Freundin, dazu.

Deb: Cliff sieht merkwürdig aus, irgendwie durcheinander. Was hat er denn?

Bob: Er hat heute an einem Hypnose-Experiment teilgenommen. Vermutlich liegt es daran. Aber wir haben auch über Willensfreiheit gesprochen, und das hat mich etwas durcheinandergebracht. Vielleicht ist es mit Cliff das Gleiche.

Deb: Willensfreiheit, aha. Haben wir die?

Alice: So weit sind wir überhaupt nicht mehr gekommen, obwohl wir damit eigentlich angefangen haben. Wir haben darüber geredet, was »Willensfreiheit« bedeuten könnte.

Deb: Was für ein Zufall! Heute Morgen habe ich genau darüber einen kurzen Artikel von einem Philosophieprofessor im Phi-Kappa-Phi-Forum gelesen. Er ist noch in meinem Rucksack.

Während Deb das Magazin herauskramt, kommt Cliff zurück. Er nippt an einem Frappé.

Cliff: Ich wusste, dass ich es nicht mögen würde.

Bob: Warum hast du es bestellt? Ich dachte, du hättest dich für den Milchkaffee entschieden.

Cliff: Oh, zu guter Letzt habe ich mich entschieden, eine Münze zu werfen, und es kam Frappé dabei heraus. Redet ihr immer noch über Willensfreiheit?

17Alice: Jepp. Und Deb will uns gerade erzählen, was ein Philosophieprofessor darüber sagt.

Cliff: Wie heißt er?

Deb: Alfred Mele.

Cliff: Nie von ihm gehört.

Alice: Na ja, ich auch nicht, aber was sagt er?

Deb: Er beschreibt drei unterschiedliche Auffassungen davon, was »Willensfreiheit« bedeutet, und benutzt dazu die Analogie mit einer Tankstelle. Es gibt Normal-, Super- und Premiumbenzin, und es gibt die Normal-, die Super- und die Premium-Bedeutung der Willensfreiheit.

Cliff: Also sind einige Bedeutungen teurer als andere, oder was?

Bob: Hey, sollte Willensfreiheit nicht umsonst oder zumindest billig sein? Benzin ist teuer.

Alice: Lass hören, was der Philosoph zu sagen hat!

Deb: Es ist ein kurzer Artikel, und der Verfasser geht nicht auf die Details ein. Aber vielleicht können wir das ja tun.

Alice: Mal sehen.

Deb: Bei der billigsten Bedeutung von »Willensfreiheit« geht es darum, dass man ein kompetenter Entscheidungsträger ist, der nicht manipuliert, gezwungen oder genötigt worden ist. Man wird nicht hypnotisiert, niemand hält einem eine Pistole an den Kopf oder bedroht einen usw. Wenn man eine Entscheidung treffen muss, zum Beispiel, wie man den Abend verbringen will, dann ist man in der Lage, eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, und trifft sie auch. Man wägt die Gründe, Pro und Contra, gegeneinander ab und entscheidet sich auf dieser Basis.

Cliff: Hey, was sollen wir heute Abend machen?

Alice: Das können wir später entscheiden, Cliff.

Cliff: Okay. Zurück zur Philosophie. Das klingt nach einer wirklich billigen Willensfreiheit. Wenn das alles ist, haben wir sie auch alle. Stimmt’s? Was ist mit der alten Willensfreiheit-vs.-Determinismus-Sache? Wenn der Determinismus wahr ist, 18kann es trotzdem kompetente Entscheidungsträger geben, die informierte Entscheidungen treffen. Und normalerweise wird man nicht hypnotisiert oder bedroht. Aber würde der Determinismus die Willensfreiheit nicht trotzdem ausschließen?

Bob: Was meinst du mit »Determinismus«, Cliff?

Cliff: Mein Physiklehrer auf der Highschool hat es mir vor einigen Jahren erklärt. Es ist die Vorstellung, dass eine vollständige Beschreibung des Universums zu irgendeinem Zeitpunkt – vor fünfzig Jahren, kurz nach dem Urknall oder sonst wann – zusammen mit einer vollständigen Liste aller Naturgesetze alles andere impliziert, was über das Universum wahr ist, inklusive all dessen, was jemals geschehen wird.

Bob: Was meinst du mit »impliziert«?

Cliff: Die Grundidee ist folgende: Eine Aussage impliziert eine andere, wenn notwendig gilt, dass bei Wahrheit der ersten Aussage auch die zweite wahr ist. Wir fragen: »Impliziert Aussage A Aussage B?« Und wenn es unmöglich ist, dass die erste Aussage wahr ist, ohne dass die zweite Aussage wahr ist, dann lautet die Antwort: Ja. Wenn also Aussage A eine vollständige Beschreibung des Universums vor einer Milliarde Jahren ist, zusammen mit einer Liste aller Naturgesetze, und B die Aussage ist, dass Ed in zehn Sekunden hereinspaziert und »Hey« sagt …

Ed, ein weiterer Freund, spaziert herein.

Ed: Hey.

Bob: Du hast ihn kommen sehen, Cliff. Du kannst mir nichts vormachen.

Cliff: Vielleicht, vielleicht auch nicht, Bob. Hey, Ed, nimm dir einen Stuhl!

Deb: Hi, Ed. Cliff, bitte bring deinen Satz zu Ende. Ich glaube, ich hab’s kapiert, aber ich möchte sichergehen.

Cliff: Lass es mich so sagen: Wenn der Determinismus wahr ist, kann die Aussage A in meinem Satz unmöglich wahr sein, 19ohne dass es auch wahr ist, dass Ed genau dann hier hereinspaziert ist, als er es tat.

Bob: Zwingt einen der Determinismus also dazu, bestimmte Dinge zu tun?

Cliff: Überhaupt nicht. Der Determinismus ist kein Zwang. Er ist bloß eine Weise, wie ein Universum ist, wenn eine Aussage über dieses Universum, wie Aussage A, alle anderen Aussagen darüber impliziert. Hier ist ein anderes Beispiel für eine Implikation, eines, das überhaupt nichts mit Determinismus oder Willensfreiheit zu tun hat. Aussage A ist »Hier gibt es Tische und Stühle« und Aussage B »Hier gibt es Tische«. Aussage A impliziert Aussage B, weil es unmöglich ist, dass Aussage A wahr ist, ohne dass Aussage B wahr ist.

Ed: Worüber redet ihr denn bloß?

Alice: Alles hat damit angefangen, dass ich Bob von einem Zeitungsartikel darüber erzählt habe, wie eine Gruppe von Neurowissenschaftlern bewiesen hat, wir hätten keine Willensfreiheit. Irgendwann haben wir darüber gesprochen, was »Willensfreiheit« bedeuten könnte. Und dann hat Deb angefangen, von einem Paper zu reden, das sie darüber gelesen hat. Der Verfasser ist ein Philosophieprofessor. Er spricht von drei verschiedenen Bedeutungen von »Willensfreiheit«. Deb hat eine von ihnen beschrieben, und Cliff meinte, das sei keine Willensfreiheit, weil sie den Determinismus nicht ausschließt.

Ed: Ach ja, Kompatibilismus. Das ist die Auffassung, dass die Willensfreiheit mit dem Determinismus kompatibel ist.

Bob: Hast du dir den Ausdruck gerade ausgedacht?

Ed: Nein, ich habe ihn in einem Philosophieseminar gehört. Philosophieprofessoren mögen ps, qs und Ismen.

Bob: Kennst du den Unterschied zwischen Philosophieprofessorinnen und Masterstudentinnen, die Philosophieseminare halten?

Ed: Was?

Alice: Okay, Jungs. Können wir zur zweiten Bedeutung von 20»Willensfreiheit« dieses Philosophieprofessors weitergehen, dem Analogon zum Superbenzin an seiner philosophischen Tankstelle? Deb, was hat er gesagt?

Deb: Ihm ist klar, dass manche und vielleicht sogar viele das, was Ed Kompatibilismus genannt hat, nicht akzeptieren würden. Darum hat er versucht, eine Bedeutung von »Willensfreiheit« zu beschreiben, die sie mit dem Determinismus inkompatibel macht. Hier mischt er der »Normal«-Willensfreiheit etwas bei, was er »tiefe Offenheit« nennt.

Alice: Was meint er denn damit?

Deb: Es beginnt etwa so. Wenn die Dinge ein bisschen anders gewesen wären, hätte man sich manchmal anders entschieden, als man es tatsächlich getan hat. Wäre Cliff zum Beispiel etwas besser gelaunt gewesen, hätte er Ed vielleicht einen Kaffee besorgt. Aber für tiefe Offenheit reicht das nicht. Dazu ist es nötig, dass dir mehr als eine Option offenstand, gegeben alles so, wie es sich zu diesem Zeitpunkt wirklich verhielt – deine Stimmung, all deine Gedanken und Gefühle, dein Gehirn, deine Umgebung, ja das ganze Universum und seine komplette Geschichte.

Cliff: Folglich gehört zu dem, was er sagt, dass man diese Art von Willensfreiheit nicht besitzt, wenn der Determinismus wahr ist. Wenn der Determinismus wahr ist, hättest du dich anders entscheiden können, wenn sich die Dinge vorher ein bisschen anders verhalten hätten; wenn du beispielsweise besser beziehungsweise schlechter gelaunt gewesen wärst. Wenn der Determinismus aber wahr ist, konnten die Dinge in Anbetracht dessen, was schon geschehen ist, natürlich kein bisschen anders sein. Aber …

Ed: Ich schätze, das wäre dann bloß oberflächliche Offenheit.

Cliff: Richtig. Und wie ich gerade sagen wollte: Wenn der Determinismus wahr ist, kannst du dich nicht anders entscheiden, wenn die Sachlage vor deiner Entscheidung exakt dieselbe ist. Aber wenn der Determinismus falsch ist, steht die Tür für die tiefe Offenheit offen.

21Deb: So ist es gedacht. Diese zweite Bedeutung von »Willensfreiheit« fügt der ersten etwas hinzu. Also denken wir uns wieder einen kompetenten Entscheidungsträger, der nicht manipuliert, gezwungen oder genötigt wird. Und dann fügen wir tiefe Offenheit hinzu. Wenn die Person eine informierte Entscheidung trifft und genau zu diesem Zeitpunkt auch eine andere Entscheidung treffen konnte, besitzt sie zu diesem Zeitpunkt diese Art von Willensfreiheit.

Alice: Und wenn du sagst: »konnte eine andere Entscheidung treffen«, meinst du nicht, sie hätte eine andere treffen können, wenn die Dinge, bevor sie sich entschied, ein bisschen anders gewesen wären, stimmt’s? Du meinst, sie konnte unter exakt denselben Umständen eine andere Entscheidung treffen.

Deb: Richtig.

Ed: Mir fällt gerade etwas anderes ein, was manche Philosophieprofessoren sehr gern mögen: mögliche Welten. Sie sind so etwas Ähnliches wie Paralleluniversen, aber nicht genau. Jedenfalls kann man die Sache mit dem Entscheidungsträger – nennen wir ihn Zeke – folgendermaßen beschreiben: In der aktualen Welt hat Zeke beschlossen, heute Abend ins Warehouse zu gehen, um Billard zu spielen. Aber in einer anderen möglichen Welt, in der vom Urknall bis zum Moment, in dem er ins Warehouse zu gehen beschloss, alles gleich war, geschah etwas anderes. Vielleicht hat er beschlossen, zu Hause zu bleiben und stattdessen zu lernen, oder noch eine Zeitlang weiterüberlegt, was er machen soll, oder was auch immer. Wichtig ist, dass die Dinge, bevor er sich entscheidet, überhaupt nicht anders sein müssen, damit etwas anderes geschieht. Das ist die Sache mit der tiefen Offenheit.

Bob: Für mich klingt das irgendwie zufällig, so als ob Zekes Gehirn eine Münze wirft oder würfelt oder so was.

Deb: Ja, das klingt merkwürdig. Soll ich euch aber noch die dritte Bedeutung von »Willensfreiheit« erklären, bevor wir darüber reden?

22Cliff: Hey, vielleicht sollten wir heute Abend ins Warehouse gehen. Ich weiß zwar nicht, wer Zeke ist, aber vielleicht treffen wir ihn dort zufällig.

Alice: Lasst uns das mit heute Abend später entscheiden! Ich möchte gern wissen, was diese dritte Bedeutung von »Willensfreiheit« ist.

Bob: Okay, Deb. Schieß los!

Deb: Um die dritte Bedeutung, das Analogon zum Premiumbenzin, zu bekommen, fügt der Professor der zweiten etwas hinzu: Geist beziehungsweise eine Seele. Etwas, das nicht physisch ist.

Bob: Das macht Willensfreiheit zu etwas Übernatürlichem.

Deb: Richtig. Der Professor scheint diese Bedeutung von »Willensfreiheit« nicht sonderlich zu mögen, aber er führt sie trotzdem an.

Bob: Jetzt wird es wirklich tief; zu tief für mich. Und ich muss bald gehen; ich muss an die Arbeit. Was haltet ihr davon, wenn wir uns heute Abend wirklich im Warehouse treffen?

Nach einigem Geplänkel sind alle einverstanden, sich gegen 22 Uhr im Warehouse zu treffen.