Konrad Lischka

Das Netz verschwindet

Das offene Internet, seine Gegner und wir

1. Das freie Netz fließt in Datensilos

Vor einigen Monaten unterhielt ich mich mit einer Schülerin. Wir redeten über die Wikipedia. Einige Lehrer an ihrer Schule seien richtig fortschrittlich, erzählte die Schülerin: Man dürfe bei den Hausaufgaben Wikipedia als Quelle nutzen, wenn man nur richtig zitiere. Ich fragte, ob sie dabei schon mal einen Fehler oder eine Lücke in einem Wikipedia-Artikel gefunden hätte. »Nein«, antwortete sie. Meine Frage schien ihr merkwürdig vorzukommen. »Und kannst du dir vorstellen, einmal einen Artikel zu verbessern oder einen neuen zu schreiben, wenn etwas in der Wikipedia fehlt?«, fragte ich weiter. Das konnte sie sich gut vorstellen – aber erst, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass jeder Artikel in der Online-Enzyklopädie verbessert werden kann und dass alle Texte von Freiwilligen geschrieben und geprüft werden. Das war in ihrem doch so fortschrittlichen Unterricht nie Thema gewesen.

Ich frage Menschen gerne, ob sie die Wikipedia nutzen und ob sie eigentlich wissen, wie die Mitmach-Enzyklopädie entsteht. Das Ergebnis meiner Gespräche ist natürlich nicht repräsentativ, und mein Vorgehen methodisch fragwürdig, aber erschüttert bin ich trotzdem: Egal ob 16 oder 46 Jahre alt – alle nutzen die Wikipedia, aber kaum jemand weiß, dass sie das Ergebnis von Freiwilligenarbeit ist und dass jeder mitmachen kann. Die Mehrheit der von mir Angesprochenen nimmt es einfach als gegeben hin, dass die Texte und Fotos in der Online-Enzyklopädie aktuell, richtig und vollständig sind. Wie es dazu kommt, wissen nur wenige. Das ist schade, denn wie jeder Blick in irgendeine S-Bahn zeigt: Noch nie haben so viele Menschen so intensiv Computer genutzt wie heute (auch wenn die Computer derzeit meist Smartphone heißen und nicht mehr alle beige sind). Was für großartige Wissensspeicher, Landkarten, Recherchen, Übersetzungsarbeiten, Programme, Analysen und Debatten könnten entstehen, wenn jeder einzelne S-Bahn-Fahrer 10 Minuten seiner täglichen Smartphone-Zeit für ein gemeinnütziges Mitmach-Projekt nutzen würde!

Wir stehen genau jetzt an einer Schwelle: Noch nie haben so viele Menschen wie heute so intensiv das Internet genutzt. Doch zeigen diese vielen Menschen nur noch vergleichsweise wenig Interesse an dezentralen Medien, von Blogs über selbstorganisierte Plattformen wie Wikipedia bis hin zu offenen Kommunikationsinfrastrukturen.

Chatdienste wie WhatsApp oder Snapchat mit zentralisierter, von einem Unternehmen kontrollierter Infrastruktur und zum Teil fragwürdigem Gebaren bei der Sicherheit dominieren. Erprobte offene und flexible Standards wie zum Beispiel bei Chatsoftware das sogenannte Extensible Messaging and Presence Protocol (XMPP) sind nie ein Massenprodukt geworden. Auf Basis dieses Protokolls können Clients und Server Nachrichten oder Statusmeldungen austauschen, und eine kurze Zeit lang unterstützte sogar Facebook Chat XMPP, aber das ist Jahre her. Für manche Geschäftsmodelle haben offene Standards keine Vorteile, für Nutzer hingegen immer: Jeder kann auf Basis von XMPP Chat-Infrastruktur betreiben, verschlüsseln, neue und bessere Software schreiben, ohne ein Unternehmen um Erlaubnis bitten zu müssen. Solchen auf offenen Standards und der aktiven Mitarbeit der Nutzer beruhenden Angeboten ziehen aber immer mehr Menschen geschlossene Dienste vor.