Text: Ingeborg Bauer
Fotos: Ingeborg und Siegfried Bauer
Layout: Martin Bauer

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© 2011 Ingeborg Bauer
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-8448-5681-1

Inhalt

Die baltische Landschaft (I)

POLEN

Stettin

Die Backsteingotik der Ostseeländer

Kolberg

Stolp

Danzig

Geschichte Danzigs

Danzigs Altstadt

Johannes Hevelius

Daniel Gabriel Fahrenheit

Danzigs Rechtstadt

Danzigs Marienkirche

Die Astronomische Uhr

Hans Memling, „Das Jüngste Gericht“

Ein Kunst-Krimi

Stadtrundgang

Gedanken über Danzig

Marienburg

Geschichte des Deutschen Ordens

Die Marienburg

Frauenburg

Nikolaus Kopernikus und Frauenburg

Russische Exklave: Kaliningrad

Kaliningrad / Königsberg

Immanuel Kant und Königsberg

An der Ostsee: Rauschen

Auf der Nehrung: Rossitten

BALTISCHE LÄNDER

LITAUEN

Kurische Nehrung

Nidden

Thomas Manns Sommerhaus

Über Bäume

Bernstein – Gold der Ostsee

Klaipeda / Memel

„Ännchen von Tharau“

Königin Luise und Napoleon

Schliemann und Klaipeda

Wolfskinder

Vilnius / Wilna, die Hauptstadt Litauens

Stadtrundgang

Trakai, die Trakaier Seen und die Karäer

„Berg der Kreuze“ bei Siauliai

Figur des Denkers (I): Walther von der Vogelweide

Figur des Denkers (II): Hans Holbein d.Ä. und die „Graue Passion“

Figur des Denkers (III): Der baltische Schmerzensmann

Drei Orte der baltischen Aristokratie:

Orellen, Gutshof unter den Eichen in Lettland

Eindruck eines Ortes

Siegfried von Vegesack und Orellen

Rundale, das lettische Versailles

Gut Palmse in Estland

Gut Palmse heute

Gut Palmse und Eduard Keyserlings „Am Südhang“

LETTLAND

Riga, die Hauptstadt Lettlands

Geschichte Rigas (I)

Die Hanse

Geschichte Rigas (II)

Die Schwarzhäupter

Riga und der Jugendstil

ESTLAND

Tallinn / Reval, die Hauptstadt Estlands

Zwei Bilder: Estland und die Jahreszeiten

Das Weichbild Tallinns

Geschichte Tallinns

Stadtrundgang

Der Heilige Nikolaus und seine Kirchen

Motiv des Totentanzes:
„Der Totentanz“ von Bernt Notke in der
Nikolaikirche (I)

HAP Grieshaber, „Totentanz“: Junge Frau

Christopherus in der Nikolaikirche

Die baltische Landschaft (II)

Estland

Estnisches Freilichtmuseum: Rocca al Mare
------

Was macht man mit einem Tyrannen
(Lettland)

Ort hinter der russischen Grenze

RUSSLAND

St. Petersburg und die russischen Zaren

Peter der Große

Katharina die Große

Elisabeth (I.) Petrowna

Paul I.

Alexander II.

Württemberg und seine Verbindung zur Zarenfamilie

St. Petersburg und seine Schlösser

Winterpalast und Eremitage

Peterhof

Zarskoje Selo: Katharinenpalast

Pawlowsk

St. Petersburg, die Stadt

Der Newskij Prospekt (I)

Das Literatur-Café am Newskij Prospekt

Der Newskij Prospekt (II)

Der Liteiny Prospekt

Joseph Brodsky, „In eineinhalb Zimmern“

Joseph Brodskys „Piter“ (I)

Dostojewskij im Hotel Radisson Sonya, Liteiny Prospekt 5/19

Joseph Brodskys „Piter“ (II)
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Ostsee, Baltisches Meer

Über das Wasser

Erinnerung an St. Petersburg

Anhang: Texte

Anmerkungen

Literatur

Die baltische Landschaft (I)

Fahren durch die baltische Landschaft
unter dem Eindruck von Avo Pärts
Musik: “Spiegel im Spiegel”

Hell klingen die Birken
gleichförmig die Untermalung
von schwerer Erde.
Über den Wipfeln die lichte
Leichtigkeit des Windes.
Es wechselt das Weiche
mit härteren Tönen.
Weiße Wolken und am Boden
der Sommerschnee lichter Flechten
die einzelne sprechende Geste
eines Astes. Überhaupt
die Dramatik der Kiefern
das Leuchten ihrer rotbraunen
Stämme das wechselnde Spiel
von Licht und Schatten
und all dies fügt sich ein
in den Dreiklang einer Triade
des schlagenden Herzens.

Der Dreiklang glockenhell
oder tiefgründig tragend
akzentuiert die Monotonie
der Wälder Wiesen und Felder
die abgeerntet ihre goldbronzenen
Töne in Streifen variieren und
unterbrochen werden
vom Flügelschlag der Vögel
Storchenweiß auf Frühlingsgrün.
Sich auf den Seen spiegelndes
Schilfrohr Kindheitsgedanken
beschwörend – ein Spiegel im Spiegel -
und all dies begleitet
vom Dreiklang der hellen Glöckchen
dem vibrierenden Streichen
der Instrumente – über das Erdreich
strömende Töne der Ruhe
ein Raunen dann Schweigen:
Stille — — —

Der Dreiklang von Wald Wasser
und wehendem Wind spiegelt
den Dreiklang der Töne
das Schlagen des Herzens
in gelassen schreitenden Akkorden
als flösse dem Leben des Einzelnen
eine zusätzliche Kraft aus diesem
in sich ruhenden flachen Land.
Das gleitende Fließen des Birkenlaubs
das kraftstrotzende Kiefernrot
sturmerprobt Kräfte schöpfend
aus der Schwere des Erdreichs
so streichen die Klänge
hell durch Wipfel und Kronen
und dunkel glättend über
Wurzeln und Moose
über Heide und Flechten.

Das Einfließen der Landschaft
in den Rhythmus des schlagenden Herzens,
die Abfolge von Tag und Nacht
im lichten Dämmern des kurzen Sommers
im Dunkel der langen Winter.
Ein Abbild des Lebensvollzugs
von den ersten fröhlichen Schritten
in die Ernsthaftigkeit späterer Jahre.
Und doch: ein Atemschöpfen und Lauschen.
Dieses Land erzählt vom Gleichmaß
vom Verfugen von Höhen und Tiefen
von einem Sich-Einpendeln
zwischen Hell und Dunkel
um Ruhe zu finden
die Stille
im Schweigen
von Wald Wasser und Wind.

POLEN

Stettin (Szczecin)

Stettin liegt an der Odermündung. Die Oder teilt sich in zwei große Flussläufe und in zahlreiche Arme auf, die Inseln ausgrenzen. Die Stadt liegt am westlichen Ufer der Westoder. Ihr höchster Punkt ist das Stettiner Stadtschloss der Herzöge von Pommern, das im Stil der Renaissance wiedererrichtet wurde. In diesem Schloss wuchs Sophie Auguste Friederike, Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die spätere Zarin Katharina die Große, auf. Am 2. Mai 1729 wurde sie in Greifenheims Hause auf dem Marien-Kirchhof geboren 1), einem eher bescheidenen Haus in der späteren Großen Domstraße. Die Stadt an der Oder erhält in Katharinas Memoiren keinen großen Stellenwert. Einem Briefpartner, der Stettin einen Besuch abstatten will, wird sie später folgendes mitteilen: „Was wollen Sie dort? Sie werden dort Niemand [!] vorfinden… Bestehen Sie aber auf Ihrem Stücke, so erfahren Sie, daß ich […] im linken Flügel des Schlosses gewohnt habe und erzogen wurde, daß ich drei gewölbte Stuben neben der Kirche innehatte und daß der Glockenturm an meine Schlafstube stieß. Dort unterrichtete mich Mademoiselle Cardel und hielt Herr Wagner seine Prüfungen mit mir ab; von dort aus hatte ich täglich zwei [!] oder dreimal in lustigen Sprüngen zu meiner Mutter zu eilen, welche das andere Ende des Schlosses bewohnte. Alles dieses bietet durchaus kein Interesse dar, wenn Sie nicht etwa auf den Einfall gerathen [sic!], daß das Locol [sic!]einen gewissen Einfluß auf die Production [sic!] leidlicher Kaiserinnen zu üben geeignet sei; in diesem Falle müßten Sie dem Könige von Preußen empfehlen, dort eine entsprechende Baumschule dieser Art anlegen zu lassen.“ 1) Dennoch schickte Katharina II. an den Magistrat ihrer Geburtsstadt Gedenkmünzen, die sie später in Russland aus besonderen Anlässen prägen ließ.

Das Schloss der Herzöge von Pommern erstrahlt heute in reinem Weiß und eine farbenfreudige Uhr erhält dabei als Blickfang zentrale Bedeutung. Sie wird geschmückt durch die Wappentiere der Herzöge, deren Familienname mit dem der Vögel einhergeht: aufrecht schreitende Greifen. Auch das Wappen Pommerns trägt den Kopf eines solchen roten Fabeltiers. 1637 starb der letzte „Greifen“herzog, danach wurde Stettin schwedisch. Im Nordischen Krieg, den Peter der Große gegen Schweden führte, schlug sich Preußen unter Friedrich Wilhelm I. schließlich auf die Seite Russlands, und so kam Stettin im Stockholmer Frieden von 1720 in preußischen Besitz und wurde Garnisonstadt. Katharinas Vater, Christian August von Anhalt-Zerbst, befehligte als Generalmajor das Infanterieregiment Nr.8 in Stettin. 1806 ergab sich Stettin den Napoleonischen Truppen kampflos und befand sich danach bis 1813 unter französischer Besatzung. 1815 avancierte die Stadt zur Hauptstadt Pommerns. Die Eisenbahnverbindung Berlin - Stettin brachte der Stadt einen großen Aufschwung. Als preußische Stadt war sie ursprünglich protestantisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Polen nach Westen verschoben, die deutschen Bewohner vertrieben und die Polen rückten nach. Die heutige vorwiegend polnische Bevölkerung ist katholisch. Der polnische Adler aber schaut nach Westen.

Heute ist die Stettiner Altstadt ein Tableau, auf dem aus großen freien Flächen immer wieder markante Gebäude auftauchen: die Backsteingotik der Ostseeländer. In der Mitte die Jacobikirche (1375-1404), deren Vorbild die Lübecker Marienkirche ist, am südlichen Rand die Johanneskirche, eine Gründung der Franziskaner, im Norden die Peter-und-Pauls-Kirche. In Stettin findet zum ersten Mal auf dieser Reise eine Nikolaikirche Erwähnung. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Stettin schon 1278 Mitglied der Hanse war. Aber davon soll später, in Tallinn, die Rede sein.

Die Backsteingotik der Ostseeländer

Schon die Romanik bediente sich des Backsteins, doch verbinden wir die entsprechende Architektur meist mit der Gotik, weil die Kirchen in der Regel im gotischen Stil weiterentwickelt wurden. Aber auch die Renaissance benutzte den Backstein. Dem liegt ein Mangel zugrunde: es gab keine ausreichenden Vorkommen an Naturstein. Lange Zeit benutzte man zum Bauen Holz. Doch wurden schon in frühchristlicher Zeit Kirchen aus Ziegelmauerwerk errichtet, man denke nur an die Kirchen Ravennas. Hier stand der Gedanke im Vordergrund, sich von den heidnischen Tempeln der Antike abzusetzen.

Im flachen Land, das an die Ostsee grenzt, gab es ausreichend Lehm, der für die Ziegelherstellung Verwendung finden konnte. Ziegel wurden nicht in den Bauhütten hergestellt, sondern von dafür spezialisierten Zulieferern. Die für repräsentative Bauten benutzten - und um solche handelt es sich ja bei der Backsteingotik - wurden im sogenannten Klosterformat einheitlich hergestellt (etwa 28 x 15 x 9 bis 30 x 14 x 10 cm), für die Fugen wurde 1,5 cm angesetzt. – Die Neogotik des 19. Jahrhunderts hat kleinere Ziegel. - Die Ziegelbauweise erlaubt eine Gliederung der Wand durch die ornamentale Verwendung von Formsteinen und durch eine Strukturierung der Fläche basierend auf dem Wechsel von roten und glasierten, in der Regel schwarzen, Steinen, dazu kommen weiß gekalkte Wandflächen (oder wie zum Beispiel in Kaliningrad gelb gestrichene Flächen). Der Figurenschmuck der aus Frankreich kommenden Gotik fehlt dagegen völlig. Gelegentlich findet man aus rotem Lehm gebrannte Reliefs, so zum Beispiel auf der Marienburg. Häufig sind die Kirchen sehr wuchtig, haben den Charakter von Festungen und ergehen sich erst in der Giebelzone in einer ornamentalen Auflösung, dort wo sie in den Himmel ragen. Insofern drücken auch sie den Gedanken der Gotik aus. Im Innern lassen sie allerdings staunen. Ihre Höhe ist zum Beispiel in der Danziger Marienkirche (1343-1502) atemberaubend und steht der französischer Kathedralen in nichts nach. Auch Festungen des Deutschen Ordens wie die Marienburg (1276- Ende 14. Jahrhundert) verdanken der Backsteingotik ihr Gepräge.

In der im Ganzen völlig vom Barock geprägten Hauptstadt Litauens, Vilnius, treffen wir auf das schönste Beispiel einer spätgotischen Backsteinkirche. Das gotische Ensemble umfasst drei Kirchen, wobei die Annakirche (1495-1500) des Architekten Michael Enkinger (unter Zar Alexander – 1482-1506) hervorsticht. Hier kamen mehr als 30 verschiedene Formsteine zum Einsatz, die durch ihre Schichtung die Fassade zur Skulptur machen. Die aufstrebende Linienführung hat zugleich etwas Spielerisches, geradezu Verspieltes. Erker mit Ziertürmchen und schmale hohe Fenster, dazwischen ein hoher Bogen, sich wiederholende kleine Bögen auf der Höhe der Fialen, eine Turmspitze mit Krabben. Das Ganze hat etwas Leichtes und Schwebendes. Man erzählt sich, dass ein Geselle sich in die Tochter des Meisters verliebt hätte und sie durch dieses Wunderwerk gewinnen wollte.

In Kaunas, der alten Hauptstadt Litauens, betrachten wir dann in der Aleksoto gatve das sogenannte Perkūnas-Haus eines reichen Kaufmanns. Perkūnas war ein Donnergott, der litauische Göttervater. Möglicherweise stand an dieser Stelle ein Tempel für den litauischen Zeus. Jedenfalls fand man im Untergrund eine Figur, die als Götterbild gedeutet wird. Das Haus wurde als Kontor und Lagerplatz benutzt, geschickt platziert an einer Gasse, die vom Marktplatz zur Schiffsanlegestelle führte. In seiner reich ornamental gestalteten Fassade sollen 16 verschiedene Formsteine verwendet worden sein. So ließen sich Erker, Friese, Fialen, Fenster und Nischen gestalten. Der Bau wird somit zum säkularen Pendant einer kirchlichen spätgotischen Architektur wie wir sie bei der Annenkirche in Vilnius beobachten.

Kolberg (Kolobrzeg)

Der Kolberger Mariendom ist eine gotische fünfschiffige Festungskirche aus dem 13.-15. Jahrhundert. 1945 wurde der Bau in ein Waffenmuseum umgewidmet, 1984 wieder geweiht. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Kirche evangelisch. Im Kolberger Dom fällt ein 7-armiger Leuchter von 1325 ins Auge, der die sieben Sakramente als Weinstock gestaltet. Die sogenannte „Schlieffenkrone“ ist ein nach ihrem Stifter benannter, holzgeschnitzter Kronleuchter mit der Maria im Strahlenkranz. Im Inneren finden sich Fresken einer abstrahierenden Hausstruktur mit noch missglückter Perspektive, Fresken, wie wir sie in den frühen christlichen Kirchen in Jordanien und Syrien fanden, und wie sie auch schon römische Wände schmückten. Kolberg hat eine Nikolaikirche, die unter dem Patrozinium des Heiligen aus Myra steht, der zuständig war für die Seefahrer und Kaufleute des frühen 13. Jahrhunderts. Wir werden in Tallinn noch auf den Ursprung der Nikolaikirchen zu sprechen kommen. Kolberg ist Kurbad mit einem an schönen Tagen sehr belebten Sandstrand.

STOLP

Stolp (Stupsk) liegt an einem Fluss und erhielt 1265 die Stadtrechte. Auch war die Stadt Mitglied der Hanse. In der Regel lagen die Städte nicht direkt an den Ufern der Ostsee. Ein Fluss bot Schutz vor Seeräubern. Auch hier treffen wir auf Backsteingotik. Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert waren die Herzöge von Wolgast zuständig, danach bestand eine Zugehörigkeit zu Preußen. Es ist erstaunlich, wie jede Stadt hier durch andere Herrschaftsverhältnisse geprägt ist, und wie häufig diese dann einem Wechsel unterworfen sind. Geht man heute durch die Stadt, so glaubt man sich zurückversetzt in die 1950er Jahre. Eine alte rot gestrichene Straßenbahn fällt ins Auge, und auf der Hexenbastei reitet der Schattenriss einer schwarzen Hexe. Die sogenannte Hexenbastei wurde im 15. Jahrhundert als Festung errichtet und im 17. Jahrhundert zum Gefängnis umgebaut, vor allem für Frauen, die der Hexerei verdächtigt wurden. Der letzte Prozess fand 1701 statt und endete für die Frau mit dem Feuertod. Heute wirkt die schwarze Hexe auf dem Dach eher erheiternd, aber sie verweist auf ein dunkles Kapitel in der Geschichte.

Wir fahren in umgekehrter Richtung auf der Ost-West-Straße des „großen Trecks“, der Straße der Vertreibung aus dem nördlichen Ostpreußen. Wir passieren die sogenannte kaschubische Schweiz, die Teil der Pommerschen Seenplatte ist. Sie ist ein leicht gewelltes Moränenland mit Wald und von Schilf gerahmten Seen. An einem grauen Tag wirkt alles doch recht schwer, als habe sich die Melancholie in den Mulden breitgemacht. Hier wird Getreide angebaut, das auch im August noch kleinkörnig und niedrig ist, und in den Dörfern begegnen uns Kühe, Gänse und Hühner. Am Ende einer Allee erhebt sich eine Backsteinkirche. Die Kaschuben waren nie autonom. Sie haben ihre eigene Sprache, die gespickt ist mit deutschen Fremdwörtern. Man streitet darüber, ob es sich um eine eigene Sprache oder um einen Dialekt handelt. Die Kaschuben haben ihre eigenen Abgeordneten in Warschau. Die Mutter von Günter Grass war übrigens kaschubischer Abstammung.

Danzig (Gdańsk)

Geschichte Danzigs

Die Stadt liegt an der Mottlau (Mottawa) westlich der Mündung der Weichsel und war die Hauptstadt Pommerns [po morze: am Meer]. Es ist altes Siedlungsland. Der Wahlspruch der Danziger lautet: ‚nec temere nec timide’ (Weder unbesonnen, noch furchtsam). Vielleicht haben sich auch die polnischen Bewohner in den 1970er und 1980er Jahren daran erinnert, als sie die Solidarność-Bewegung ins Leben riefen.

1224 bekam die multiethnische Kaufmannssiedlung Lübisches Recht, 1295 unter dem König von Polen Magdeburger Recht. Von 1308 bis 1454 unterstand Danzig dem Deutschen Orden. 1343 wurde der Kern des alten Danzig, der sich Rechtstadt nannte, zusammen mit der Speicherinsel Mitglied der Hanse. Altstadt heißt die davor liegende Siedlung der Handwerker. 1370 wurde die alte Vorstadt sogenannte Altstadt mit eigener Verwaltung, mit Rathaus und eigenen Kirchen. Von 1361 bis 1669 war Danzig Vollmitglied in der Hanse, wenn auch die Bedeutung dieser Verbindung Ende des 15. Jahrhunderts zurückging. Nach dem Zerwürfnis des Ordens mit Polen sagte sich die Stadt vom Orden los und gehörte von 1454 an zu Polen, das Danzig großzügige Privilegien einer Freien Stadt gewährte. Es ist die Blütezeit der Stadt. 1697 wurde Friedrich August I. von Sachsen („der Starke“) als August II. König von Polen. Die Personalunion mit Polen blieb mit kurzer Unterbrechung im Nordischen Krieg bis 1763 bestehen. Mit der ersten Polnischen Teilung 1772 verlor Danzig sein Umland, und gleichzeitig wurde der Handel durch die preußische Zollgrenze behindert. Nach der Polnischen Teilung von 1793 kam Danzig unter Friedrich Wilhelm I. zum Königreich Preußen und nach dreimonatiger Belagerung durch die Truppen Napoleons unter französische Besatzung (1807-1813). Im Frieden von Tilsit wurde Danzig zur Freien Stadt erklärt. Im November 1813 kam es nach elfmonatiger Besatzung durch ein russischpreußisches Heer zur Rückeroberung, im Wiener Kongress (1815-19) kam sie wieder zu Preußen. Wie müssen die Bewohner Danzigs solche raschen Wechsel der Zugehörigkeit verkraftet haben? Jedenfalls waren1831 24% der Bevölkerung polnischer oder kaschubischer Herkunft, 76% waren deutschsprachig. 1852 erreichte die Eisenbahn Danzig. Durch die preußische Ostbahn war die Stadt mit Berlin und Königsberg verbunden. Von 1920 bis 1939 wurde Danzig infolge des Versailler Vertrags wieder zur Freien Stadt. Die Bevölkerung bestand nun zu 95% aus deutschsprachigen und nur noch zu 4% aus polnischen oder kaschubischen Einwohnern. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Danzig Zankapfel unter den Mächten.

Auf der Westerplatte vor Danzig befand sich ein polnisches Munitionsdepot, das am 1. September 1939 von deutschen Streitkräften angegriffen wurde. Damit wurde der Zweite Weltkrieg ausgelöst. Ein anderes trauriges Denkmal stellt das Polnische Postamt in der Altstadt dar, das zum Symbol des polnischen Widerstands wurde. Es gab damals in der Freien Stadt Danzig exterritoriale polnische Standorte in Hafennähe mit einer eigenen Post, wo ein Waffendepot der Polen eingelagert war. In den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 griffen Angehörige der SS-Heimwehr und Polizeitruppen das Postamt an, nachdem zuvor Strom- und Telefonleitungen gekappt worden waren.

Nur fünfzig Postbeamte, ein Eisenbahner und das Hausmeisterehepaar verteidigten das Postamt über mehrere Stunden. Bilder der Zerstörung hängen heute in dem Gebäude, das eine Art Museum und Gedenkstätte darstellt.

Günter Grass, der 1927 in Danzig geboren wurde, beschreibt in der „Blechtrommel“ auch dieses Ereignis. Sein Held Oskar Mazerath ist ein seltsamer Zwerg, der als solcher literarisch dem magischen Realismus zuzuordnen ist. Er berichtet aus einer kindhaft-skurrilen Perspektive über diese historischen Ereignisse, die auf diese Weise mit einer surrealen und grotesken Erzählstruktur verbunden werden.

1941 verursachte die Rote Armee eine weitgehende Zerstörung der Danziger Innenstadt. 1945 kam des zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Viele Deutsche flohen im „Großen Treck“ vor der Roten Armee aus dem nördlichen Ostpreußen, zum Teil über das zugefrorene Frische Haff. Nicht immer gelang die Flucht, und die Erlebnisse waren traumatisierend. Weitere Zehntausende Deutsche wurden zur Zwangsarbeit in das Innere der UdSSR verpflichtet. Viele dieser Zivilisten kamen bei Erschießungen und gewaltsamen Übergriffen um, starben an Unterernährung und Epidemien, die der Hunger und die harte Arbeit begünstigten.

Am 30. Januar 1945 versenkte ein sowjetisches U-Boot die „Wilhelm Gustloff“, die mit etwa 10000 Flüchtenden besetzt war. 9000 von ihnen ertranken oder erfroren im eisigen Wasser der Ostsee. Nur 5% der deutschsprachigen Einwohner Danzigs blieben, und sie hatten meist auch polnische oder kaschubische Vorfahren.

Menschen aus Ostpolen, das nun sowjetisch wurde, wurden nun hierher umgesiedelt. Danzig wurde ein Teil Polens.

Danzigs Altstadt

In der Altstadt steht die Katharinenkirche, die älteste Kirche Danzigs, in der einer ihrer bedeutendsten Bürger begraben liegt, der Astronom Johannes Hevelius. Eine zweite Kirche liegt ihr gegenüber, die Brigittenkirche, die Kirche der Solidarność-Bewegung. 1970 war es zu ersten Streiks auf den Werften Danzigs gekommen. Am 17. September 1980 wurde die Widerstandsbewegung Solidarność gegründet unter ihrem Führer Lech Walęsa. Die Bewegung wurde nach großen Schwierigkeiten schließlich vom Staat anerkannt. Es war der Beginn einer allmählichen Lockerung und Befreiung, die schließlich zum Fall der Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten führen sollte. Am Tor der ehemaligen Leninwerft liegen auch heute noch viele Blumen. Dort steht auch das Denkmal für die im Kampf gefallenen Werftarbeiter.

Johannes Hevelius (1611-1687), ein Danziger Bürger

Johannes Hevelius wurde 1611 als Sohn einer reichen Brauerfamilie der Danziger Altstadt geboren. Er studierte Jura in Leiden und unternahm Reisen ins westliche Europa, das offenbar als Bildungsstätte ähnlich wie später Italien unverzichtbar schien. Doch erwartete die Familie, dass er sich in der heimatlichen Brauerei engagiere. Er heiratete und wurde Mitglied der Zunft der Bierbrauer. Seine junge Frau, die seine Nachbarin war, brachte ihm zwei Häuser ein, die neben dem seiner Familie lagen. Dies ermöglichte ihm, auf den Dächern ein großes Observatorium einzurichten. Mit den erworbenen optischen Instrumenten, darunter einem riesigen Teleskop, beobachtete er die Oberfläche des Mondes, erkannte Sonnenflecken, benannte neue Sternbilder. Er entdeckte vier Kometen. Aufgrund seiner Beobachtungen stellte er die These auf, dass Kometen die Sonne in parabelförmigen Bahnen umkreisten. Ob dies den jungen Edmond Halley (1656-1742) auf seiner Europareise nach Danzig geführt haben mag? Er wohnte und arbeitete vier Wochen lang im Haus von Hevelius. Doch war Hevelius auch für das Gemeinwohl der Stadt tätig. Er wurde Ratsherr und Bürgermeister.

Doch sein Hauptinteresse galt der Astronomie.

Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er die junge Kaufmannstochter Elisabeth Koopmann (1647-1693), die ihn tatkräftig unterstützte und nach seinem Tod zwei seiner Werke herausgab. In der Nacht vom 26. auf den 27. September 1979 brannte seine Sternwarte ab, und obwohl er sich sogleich an den Wiederaufbau machte, erlebte er die Fertigstellung nicht mehr.

Johannes Hevelius gilt als einer der bedeutendsten Astronomen seiner Zeit, der die Unterstützung Ludwig XIV. von Frankreich und des polnischen Königs Jan Sobieski hatte, dem er das Sternbild Schild (Scutum) widmete. Der zeitgenössische Astronom Johann Jacob Zimmermann entwarf eine Art Himmelsglobus nach Hevelius’ Fixsternregister.

Daniel Gabriel Fahrenheit (1686-1736), geboren in
Danzig, berühmt in Westeuropa

Auch der Physiker Daniel Gabriel Fahrenheit (1686-1736) wurde in Danzig geboren. Seine Vorfahren kamen aus Königsberg, aber auch aus Hildesheim und Rostock. Doch gehörte seine Mutter einer bedeutenden Danziger Kaufmannsfamilie an. Beide Eltern starben früh, und keines seiner Geschwister überlebte die ersten Lebensjahre. Er verließ Danzig und begann eine Kaufmannslehre in Amsterdam. Wie Hevelius unternahm er viele Reisen und ließ sich schließlich 1717 im niederländischen Den Haag als Glasbläser nieder. Er war mit dem Bau von Barometern, Höhenmessern und Thermometern befasst. Bald schon hielt er Vorlesungen über Chemie und wurde zum Fellow der ‚Royal Society’ gewählt. Vielleicht hängt damit der Umstand zusammen, dass Großbritannien noch immer die Fahrenheitskala benutzt. Er war es, der Quecksilberthermometer anwendbar machte. Als Nullpunkt seiner Skala verwendete er die tiefste Temperatur, die er mit einer Eis-Salz-Kältemischung erzeugen konnte:-17,8°C.

Danzigs Rechtstadt

Die Frauengasse zwischen dem mittelalterlichen Frauentor an der Mottlau und der Marienkirche ist eine der schönsten Gassen Danzigs mit hübschen Bürgerhäusern und schmucken Beischlägen. Ein Beischlag ist eine vor der eigentlichen Haustür gelegene erhöhte Terrasse, die über Treppenstufen zu erreichen ist. Früher, so erzählt man sich, wurden hier die heiratsfähigen

Töchter präsentiert. Diese Beischläge, die in der Frauengasse sehr schön restauriert wurden, sind heute Galerien, Schmuckläden, Cafés.

Vier Töchter
als Pyramide ausgestellt
auf der geschützten Plattform
des Beischlags – umrahmt
vom Wohlstand der Familie
der sich in der schmucken
Architektur abbildet
damals – heute
sitzt die junge Frau
mit angestellten Beinen
im Fenster
und schreibt Briefe
oder gar einen Roman
über diese Töchter
von damals?

Danzigs Dom, die Marienkirche (1343-1502)

Die Frauengasse führt direkt hinauf zur Marienkirche, deren Bau ab 1343 dokumentiert ist und 1502 vollendet war. Von außen besticht sie durch ihre Wucht, nur die Giebelzonen tragen Formsteinornamente. Allerdings steht die schlanke Höhe ihres Inneren einer französischen Kathedrale nicht nach. Hier ist das Licht der entscheidende Faktor. Sie ist die größte Backsteinkirche der Welt und auch das größte evangelischlutherische