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© 2015 Rainer Franke

Illustration: https://pixabay.com/

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7392-9524-4

Inhaltsverzeichnis

  1. Aus aller Welt
  2. Alles Chefsache: Alois
  3. Sammelsurium

Vorwort

Diese Anthologie enthält zwölf Texte aus dem Alltag. Es sind Geschichten, wie wir sie oft erleben, ohne uns darüber viele Gedanken zu machen. Mal sind die Situationen skurril, dann wieder völlig alltäglich, gewöhnlich. Und doch hat jeder Moment etwas Besonderes.

Gehen wir aufmerksam durch unser Leben, durch diese Welt, so entdecken wir immer wieder interessante Dinge. Man muss sie nur aufschreiben. Worte sind wie Pinsel und Farbe oder wie ein Fotoapparat mit unterschiedlichen Filtern vor dem Objektiv. Geschickt angewendet, entstehen bunte Bilder unseres Lebens.

Mit viel Fantasie, einer tüchtigen Prise Humor, Ironie und ein wenig Sarkasmus beschreibt der Autor unsere Welt im Büro, zu Hause, unterwegs ... Natürlich kommen die Liebe und das Verhältnis zwischen Mann und Frau nicht zu kurz. Manche Szenen werden überspitzt, um ihr Wesen heraus zu arbeiten, sie interessant, spannend und lesenswert zu machen.

Einige der Kurzgeschichten entstanden bei Treffen mit befreundeten Autoren. Gemeinsam wurde nach einem Stichwort einfach drauflos geschrieben. In diesem Schreibrausch entstand so manche lustige, nicht ganz ernstgemeinte Geschichte. Später im stillen Autorenkämmerlein wurde an den so entstandenen Texten gefeilt und geschliffen. Die Paris-Geschichten in diesem Band sind typische Beispiele hierfür. Andere Anregungen gab es auf Autorenblogs im Internet.

Der Autor Rainer Franke, in Brandenburg geboren, lebt in Thüringen und arbeitet seit über zwei Jahrzehnten als Ingenieur in Frankfurt.

Texte veröffentlicht er regelmäßig auf seinem Blog (www.twilightfoto.wordpress.com). Die Themen kommen aus dem Alltag, werden auf der Straße, im Supermarkt, in der Straßenbahn, in den Medien aufgeschnappt. Gerne setzt er sich mit der Liebe und unserem Leben in hundert Jahren auseinander. Viele Geschichten spielen nahe der Verbindungslinie zwischen Erfurt in Thüringen und Frankfurt am Main, der hessischen Metropole.

„Geschichtenschreiben ist eine spannende Leidenschaft, die ich mit Zuhörern und Lesern teilen möchte.“

Als Ingenieur und Autor sieht er die Welt durch zwei sehr unterschiedliche Brillen. Rational, pragmatisch und technikorientiert auf der einen Seite sowie verspielt, abenteuerlustig, nachdenklich, zweifelnd und fantasievoll andererseits. Die Texte sind gespickt mit Ironie, gelegentlichem Sarkasmus und vielen Fragen. Dieser scheinbare Zwiespalt und das Zusammenkommen von Gegensätzen spiegeln sich in den Erzählungen vielfach wider.

In diesem Band der Reihe „Mittendrin und Drumherum“ geht es um Geschichten aus dem Alltag. Im ersten Band „Lieblich bis zartbitter“ dreht sich alles um die Liebe. Weitere Folgen sind geplant.

Aus aller Welt

Paris: die Stadt der Liebe und des Eiffelturms. Der Autor war bisher nie dort, deshalb verzeihe man ihm einige Ungenauigkeiten. Die machen die Geschichten vielleicht besonders spannend.

Paris ist so anders als die Heimatstadt und hat doch so viele Ähnlichkeiten! Weit weg von zu Hause treffen die Protagonisten Bekannte. „Oh je! Muss das sein!“ Gestreikt wird auch wieder. Das bringt Probleme mit sich. Doch wo sind der Anfang und das Ende? Was hat eine defekte Klospülung im fernen Deutschland mit Paris zu tun?

Der Ball ist rund. Das weiß Trainer Max Torlos genau. Wenigstens verpflichtet er einen Klasse-Torwart, einen von großem Format. Weil die Jungs keine Tore schießen, verliert der Trainer seinen Job. Das kennen wir aus der Bundesliga. Allerdings streiken deswegen die Spieler der ehemaligen Mannschaft von Max:

„Ohne unseren Trainer Max Torlos macht das keinen Spaß mehr!“

Lucie wurde von ihrem Freund verlassen. Wer hat ihren Ausrutscher auf dem Sommerfest gepetzt? Das klärt Frau Schulze-Mitterlich auf.

Vorher besucht Lucie Köln. Mr. York fährt viel zu schnell. Deshalb fehlt ihm der nötige Durchblick. Der Dom mit diesem neumodischen Fenstern interessiert Lucie weniger. Lieber pflegt sie kleine Pflänzchen, andere allerdings als die Schnittlauch-Königin.

Schließlich erfährt sie, wer der Verräter war. Der ist in sie total verschossen.

Das klingt alles ziemlich durcheinander. Die Knoten werden in den folgenden Geschichten systematisch entwirrt.

Unterwegs nach Paris

Von einem langsamen Express, einem Streik, roten Ampeln, einem Koffer, keinem Pott Kaffee, einem Trottoir und einem Pissoire, dem Ende und Anfang

Der Hausmeister von Paris

Von einem Hausmeister, Vanillepudding, einem Zufall, einem zerfledderten Stadtplan, der Pünktlichkeit, der Klospülung, dem Sommerschlussverkauf, einer Drückerplatte, zwei Überschwemmungen, einer grünen Gurke, einem Zehntel Millimeter, einem Klempner und einem zerbeulten gelben Peugeot

Ausgewechselt

Von vielen Toren, einem Vierzentner-Torwart, einer Flasche Schnaps, einem nicht geplatztem Trikot, einem geschassten Trainer, der Auflösung der Mannschaft und einem erfolgreichen Frauenfußballteam

Das Geheimnis der Schnittlauch-Königin

Von einem Singsang, einem Techtelmechtel, von Obsttorte und Magerquark, Laufenten, einer Weichenstörung und Langsamfahrstrecke, einem Glasschaden, Strichmännchen, Schuhen, dem Kölner Dom und einem gemeingefährlichen Kollegen

Unterwegs nach Paris

Geschwindigkeit ist nicht alles. Eine Weichenstörung lässt jeden Express zum Bummelzug werden. Termine platzen wie Seifenblasen, der Urlaubstrip wird zur Geduldsprobe mit eingebautem Schweißausbruch.

Selbst Züge, die mit 300 Klamotten durch die Landschaft rasen, können Verspätung haben. Wenn sie kurz vor dem Ziel, die Aura dieses stählernen Phallus ist längst zu spüren, auf freier Strecke stehen, trauert man um jede der träge rinnenden Urlaubssekunden.

Der Zugbegleiter, früher lapidar Schaffner genannt, schwafelt irgendetwas in einer fremden Sprache. Es scheint etwas Größeres zu sein, zumindest gemessen an der Länge der Ausführungen. Dass er Französisch spricht, liegt nahe. Endlich erklärt er in akzentuiertem Deutsch, schließlich startete der Express in Frankfurt am Main, dass ein technischer Fehler, eine kaputte Weiche, die Weiterfahrt hinausschiebt, auf unbestimmte Zeit verzögert. Man fühlt sich heimisch. Was nützt es, mit Höchstgeschwindigkeit gefahren zu sein, wenn man trotzdem eine geschlagene Stunde später ankommt? Zeit ist relativ und relativ viel Verzögerung ist auch zu spät. Jede Minute des Urlaubs ist kostbar, besonders in einer Stadt wie Paris!

Beim Aussteigen grüßt eine junge Frau. Ich bin überrascht und antworte artig. Alle reden hier ausländisch und ich werde auf Deutsch gegrüßt! Deutsch ist hierzulande fremdländisch. Im Moment überfordert mich das Ganze. Kenne ich die Dame überhaupt?

Irgendwo sah ich sie mal oder etwa nicht? Doch! Es war in Frankfurt, sie wohnt seit wenigen Monaten in einer der Nachbarwohnungen. Ist das ein Zufall! Schnell wird sie vom Gewusel des Bahnsteigs verschluckt.

Das Durcheinander im Pariser Hauptbahnhof ist gewaltig, besonders wenn mehrere Züge fast gleichzeitig eintreffen. So etwas nennt man Planung. Regeln gibt es nicht. Jeder läuft, wie es ihm in den Sinn kommt. Es entsteht ein Schleichen, ein Schubsen, eine träge fließende Masse, die eher ein dicker Brei ist, in welchem immer wieder Strudel in die entgegengesetzte Richtung eindringen. Ein Rollkoffer kollidiert mit meinem Fuß. Dessen Richtungswechsel war zu abrupt. Alle zehn Meter duftet es andersartig. Hier reiht sich ein Bistro ans andere. Die eingepackten Wurststullen haben mich so gesättigt, dass ich lustlos weitertreibe. Na gut, ein Pott Kaffee wäre nicht schlecht. Aber mehr zieht es mich in Richtung meines Hotels. Dort angekommen werden neue Prioritäten gesetzt.

Ich brauche ein Taxi! Der Zettel mit der Anschrift des Hotels steckt in der Jackentasche. Wenn ich nur wüsste, wohin ich gehen muss. Dann würde ich versuchen in die Wellen der Dahinziehenden einzutauchen und mich treiben lassen. Aber ich rutsche immer an den trägen Rand, verliere den Schwung und habe dadurch Gelegenheit, mich umzuschauen. Übergroße Wegweiser zeigen in irgendwelche Richtungen. Wenigstens die Piktogramme sind verständlich, die meisten jedenfalls. Sie erscheinen ungewohnt.

Große Plakatwände, flackernde Bildschirme, kaugummiverzierte Fußbodenbilder ziehen die Blicke auf sich. Werbung scheint auch hier beliebt zu sein. Sogar die Bilder sind Französisch. Nur die Reklame für Schokoladencreme ist international, weltweit verständlich. Bestimmt lieben selbst Pinguine und lebertranverwöhnte Eskimos diese braune Paste.

Ein Wagen mit Koffern versperrt fast die halbe Breite des Bahnsteigs. Ein Stau, mehr Stopp als Go, kein Hupen dafür mit Fluchen, entsteht. Es ist erstaunlich, wie der ohne Schubsen und mürrischem Drängeln existieren kann. Mittendrin hockt ein alter Mann und knotet seine Schnürsenkel. Mütterchen hält derweil den Krückstock. Paris ist komisch.

Ich folge den Schildern, die zur Taxihaltestelle weisen. Meinen Arm zieht es lang, der Koffer wird schwerer. Eines der Räder klemmt und lässt die Koffermusik im Dreivierteltakt klingen. Es ist der Punk des Bahnhofs, Heavy Plastikrad Sound.

Ein tristes Grau empfängt mich vor dem Gebäude. Zum Glück ist es nicht direkt kalt und Regen scheint auch nicht zu drohen. Aber der Wind… Der Herbst nimmt Anlauf, deutet an, welches Potenzial in ihm steckt. Ich überlege, ob ich die Strickjacke vorsichtshalber aus dem Koffer klauben sollte.

Ein Taxistand gleicht einem Taxistand, weltweit. Doch dieser hat eine Besonderheit, mit der Reisende kaum rechnen können, eine die ihnen höchst unwillkommen ist. Es sind nicht die vielen Fahrzeuge in der ungewohnten Farbe, die Menge fremder Laute, eine undeutsch, diszipliniert wartende Schlange von Fahrgästen. Hier geht nichts, reinweg gar nichts. Kein einziges Taxi fährt, obwohl viele herumstehen. Es wird mal wieder gestreikt. Das ist wie zu Hause, nur dass hierzulande nicht die Lokführer, die Piloten oder Postboten, sondern zur Abwechslung mal die Taxifahrer ihre Arbeit niederlegen. Sie stehen in einer weitläufigen Traube, versperren die Ausfahrt, palavern unüberhörbar und halten mehrere große Schilder hoch. Was darauf steht, ist nur zu ahnen. Bestimmt fordern sie höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit, Nachtzuschlag und Steuererleichterungen. Dass es ein Streik ist, erfahre ich durch einen sprachkundigen Fahrgast, einen sächsischen Reisenden. Der sieht den deutschsprachigen Reiseführer in meiner Hand und spricht mich an.

„Die haben ihre Arbeit schon vor zwei Tagen niedergelegt und einer von der Gewerkschaft erklärt gerade irgendwas. Ich glaube, die streiken noch weiter.“ Er sagt es natürlich in reinstem Sächsisch, zumindest erfühle ich diese sächsische Reinheit nachdem ich seine Worte mühsam ins Hochdeutsche übertragen habe. In meiner Antwort, in perfektem Neuhochdeutsch:

„Hm“, schwingt so etwas wie Resignation mit.

Gibt es in Paris eine Straßen-, eine S- oder U- Bahn? Was nützt mir dieser alte Blechturm, wenn ich mit meinem Koffer an diesem Ort versauere? Geht das so weiter, ist der Urlaub vorbei und ich kenne lediglich eine Taxihaltestelle. Ist ein Taxistand, von dem kein einziges Taxi abfährt, ein Taxistand? Hier ist außer einem grenzenlosen Menschengetümmel, abgestellten Taxis, einer grölenden Masse von Droschkenkutschern und dem Lärm einer großen Straße, nichts zu sehen und zu hören.

Mein Stadtplan ist veraltet. Seine beste Zeit hatte er vor zehn Jahren oder sind es bereits fünfzehn? In meiner Not habe ich ihn kürzlich auf dem Flohmarkt unter einem Stapel älterer Bücher hervorgekramt. Ohne Straßenkarte nach Paris zu fahren, erschien mir etwas gewagt. Umso mehr war ich erleichtert, dieses Exemplar in letzter Minute für einen Euro erworben zu haben. Ich versuchte zu handeln, wollte wenigstens einen Sechser sparen – es ist ein recht altersschwacher Plan – aber der Händler ließ nicht mit sich reden. Dagegen war der Reiseführer ein echtes Schnäppchen. Wegen meiner Unentschlossenheit gab mit der Flohverkäufer einen Korkenzieher mit verbogenem Eifelturm als Handgriff gratis dazu. Ich bin wohl ein Glückspilz!

Es dauert jetzt eine halbe Ewigkeit, bis ich auf dem Plan die Rue de la Chanson entdecke. Diese Rue ist nicht weit von hier. Aber sie scheint bestimmt einen, vielleicht gar zwei Kilometer lang zu sein. Haus Nummer elf deutet darauf hin, dass mein Ziel am Anfang der Straße liegt. Doch wo sind Anfang und Ende? Ist der Anfang das Ende oder das Ende der Anfang?

Mit dem großen Backsteinbau im Rücken entferne ich mich in Richtung dieses breiten Boulevards. Ein schier unendlicher Quell schickt Massen von Fahrzeugen hier entlang. Man riecht es, eine Umweltzone gibt es in Paris nicht. Wenigstens wird nicht gerast. Schrittgeschwindigkeit, maximal Joggertempo sind angesagt. Und immer wieder stoppt die Lawine. Die Fußgängerampel tut, was jede Ampel weltweit am meisten liebt. Sie zeigt Rot, dieses so verhasste Rot, wie es nur an Ampeln zu finden ist. Das scheint hier kaum jemanden zu interessieren. Fußgänger laufen einfach los und die Autofahrer schlängeln sich laut hupend dazwischen hindurch. Oder ist es umgekehrt?

Die große Zahl der Motorrollerfahrer lässt vermuten, dass die Franzosen ein mutiges Volk sind. Ich hätte auf dieser Straße wohl selbst im Panzer Schiss. Ein bunter Koffer schrammt an einem gelben Peugeot. Dröhnendes Hupen, hektisches Schreien sind die Folgen. Man ahnt, was gebrüllt wird und ist froh, es nicht zu verstehen. An dieser einen, vielleicht der hundertsten Schramme an dem Vehikel geht die Welt nicht unter, nicht in Paris. Ich habe Angst. Ein unerwartetes Grün rettet mich. Wissen die Autofahrer, dass jetzt die Fußgänger dran sind?

Hätte ich im Frühjahr einen Volkshochschulkurs belegen sollen? Wenigstens ein paar grundlegende Begriffe könnten von Vorteil sein. Außer ‚Pissoire‘ und ‚Trottoir‘ fallen mir keine Worte ein, die hier brauchbar wären. ‚Pizza‘ stammt aus Italien, wurde in der Bahnhofshalle trotzdem mehrfach angeboten. Eine Dönerbude sah ich auch. Aber ‚Pissoire‘ ist eine wichtige Vokabel. Das wird mir gerade in diesem Moment klar. Bestimmt werde ich sie in Kürze brauchen. Andererseits bin ich bei solchen Worten froh, dass in Gedanken die französische Rechtschreibung völlig ohne Belang ist.

Paris, die Stadt der Liebe! Wo ist sie hin, die Liebe? Im Moment verspüre ich so etwas wie Frust, gepaart mit Wut auf die schlechte Bezahlung der hiesigen Taxifahrer. Und meine Arme werden vom Zerren am Koffer lahm. Ich bin froh, dass er Räder und einen breiten Griff hat. Doch nun scheint noch Rolle Numero zwei ein Problem zu haben. Der Kennerblick verrät, eine Schnur hat sich verheddert. Da ist nichts zu machen. Ich bräuchte Werkzeug zur Reparatur.

Die Straßen von Paris sahen auch schon einmal besser aus, besonders die Gehsteige, diese Trottoirs. Wenn es eine Schlaglochsteuer geben würde, wäre Frankreich ein reiches Land, käme gleich nach Deutschland. Weshalb heißt Frankreich überhaupt Frankreich? Hier sind die Taxifahrer so arm, dass sie streiken müssen. Ich erinnere mich an keine Stadt, in der ich so lustlos begrüßt wurde.

Natürlich ist der Anfang dieser Rue tatsächlich ihr Ende. Trotz des schweren Koffers, der abwechselnd an den Armen zerrt, knattert, wie ein Hürlimann, wird mein Tempo nicht geringer. Ich bin lernfähig und quere mehrere Seitenstraßen bei Rot, nicht ohne eine passende Lücke im Verkehr abzuwarten. Ein Pissoire käme mir jetzt gelegen. Der Gedanke daran, wie ich der Dame an der Rezeption des Hotels möglichst schnell klarmache, wer ich bin, was ich will und was ich muss, lenkt mich von der Wahrnehmung des Drucks ein wenig ab.

Eine Leuchtreklame markiert die Ziellinie. Sogar am Tage leuchtet sie. Zumindest die Hälfte der Buchstaben strahlt, die andere sieht etwas demoliert aus. Es ist sicher die Zeit, die hier genagt hat. Zeit habe ich nicht. Ein dringendes Bedürfnis bedarf der Befriedigung. Die Schlange an der Rezeption hat fünf Köpfe, die alle zu einer Clique gehören, was sich als glücklicher Umstand erweist. Es scheint ein Lehrling zu sein, der mich höflich begrüßt. Modisch sieht der Hut dieses Mädels wirklich nicht aus. Paris enttäuscht mich.

Bürokratie muss sein. Ich fülle das Meldeformular geschwind und nach Gefühl aus, erhalte den Zimmerschlüssel und suche den Lift. Der ist gerade in der vierten Etage, genau dort, wohin es mich zieht. Er braucht eine halbe, nein eine ganze Ewigkeit, bis er hier unten eintrifft. Druck zerrt Zeit in die Länge. Er ist auch nicht schneller, als mein Hochgeschwindigkeitszug von Frankfurt nach Paris.

Geschafft! Ich bin geschafft, ich habe es aufs Pissoire geschafft, rechtzeitig und glücklich.

Das Zimmer unterscheidet sich kaum von anderen Hotelzimmern. Es versprüht eine patinageschwängerte Aura, die es in Jahrzehnten aufgebaut hat. Bett, Schrank, Stuhl, Vertiko sowie ein Sekretär, alles aus dem vorletzten Jahrhundert, alles massiv und solide gezimmert. Das schafft Vertrauen. Dazu ein Fernseher vom Feinsten, zwei Nachttische, die Bibel in drei Sprachen, ein paar Prospekte, mehrere vergilbte Bilder an der Wand - das ist mein Hotelzimmer. Als Erstes rücke ich die Schinken ins Lot. Ordnung muss sein!

Ich bin in Paris, in einem langweiligen Hotel! Also ab nach Paris! Wo ist dieser eifrige Turm, der triumphale Bogen, die rote Mühle? Ein simpler Pott Kaffee würde mir guttun!

„Tach! Das ist ja wie zu Hause! Andauernd sehe ich bekannte Gesichter!“, ruft mir jemand in einem unüberhörbaren Bass zu, als ich etwas suchend im Foyer der Hotels stehe. Noch einer, den ich kenne. Freundlich grüße ich zurück und mache mich rasch auf den Weg nach Paris.

Ein Taxi käme mir gelegen, wenn es käme.

Der Hausmeister von Paris

Es gibt Augenblicke, in denen alles Unglück dieser Welt gleichzeitig ein Fest feiert. Wäre Katharina nur ein wenig schneller gelaufen oder hätte sie ein paar Sekunden lang getrödelt, wäre ihr viel erspart geblieben. Nun gibt es kein zurück. Wer in seine Klauen gerät, ist verloren.

„Endlich! Endlich Paris!“, denkt Katarina und sucht den Ausgang des Bahnhofs. Sie freut sich, angekommen zu sein. Jetzt ein Taxi, dann ist sie am Ziel. Die Kommilitonin wird sie schon erwarten. Erst einmal kämpft sie sich durch das Gewusel bis zum Taxistand.

Überraschend trifft ihren Hausmeister, den Herrn Bernhardt Knesebrüll. Ausgerechnet den und noch dazu hier in Paris. Größer könnte der Gegensatz zweier Menschen nicht sein. Katharina, Anfang zwanzig, klein von Wuchs, gut gebaut, schüchtern, wie Bernd das Brot, ist angehende Dentistin. Natürlich trägt sie ihr kürzestes Kleid. Ihr wunderschöner, knapp bedeckter Po weckt die Fantasien von Männern jeder Altersstufe. Das scheint Absicht zu sein. Paris, die Stadt der Liebe, erfordert solche Maßnahmen. Davon ist sie überzeugt. Selbst der kurze, hochgeschlossene Blazer beeinträchtigt dieses Bild nicht. Das passt zu einer Weltstadt - zum Wetter eher wie Ketchup zu Vanillepudding. Es ist kühl und windig.

Hausmeister Knesebrüll, Ende sechzig, groß, wie immer mit einer etwas speckigen erscheinenden Cordhose und dem karierten Hemd bekleidet, trägt seinen weiten Mantel offen. Er scheint zu schwitzen, obwohl dieser frische Wind geht. Hilflos schaut er in die Runde. Man könnte meinen

„Was will der in Paris?“ Er passt nicht hierher, ist trotzdem hier.

Knesebrüll entdeckt Katharina, eine Mieterin des großen Wohnblocks im Frankfurter Dichterviertel. In seiner Not zweifelt er keinen Augenblick, dass sie es ist, die er hier und heute und tausend Kilometer von der Heimat entfernt trifft. Wahrscheinlich ist er froh, seine Frau zu Hause gelassen zu haben. Die wäre jetzt eine Last, wenig hilfreich auf dem weiteren Weg. Die hätte nur gequengelt, gejammert, wäre in dem Gewühl vielleicht verloren gegangen. Und dieses Mädel, da ist sich Knesebrüll sicher, hätte er mit seiner Angetrauten an der Hand, garantiert übersehen.

„Typisch, dass du die mit dem kurzen Rock ansprichst!“, hätte sie geschimpft. Er kennt seine Luise. Schließlich sind sie lange genug miteinander verheiratet. Zu einer jungen Frau, auch wenn sie hübsch ist, hat er im Moment mehr Vertrauen. Regelrecht glücklich ist er, einem hilfsbereiten Wesen, er zweifelt keinen Augenblick an Katharinas Hilfsbereitschaft, zu begegnen.

„Guten Tag, Herr Knesebrüll!“, erwidert Katharina den Gruß des Hausmeisters. Innerlich ärgert sie sich schon jetzt, ausgerechnet ihn hier zu treffen. Es soll doch ein schönes Wochenende werden, in Paris und zusammen mit ihrer französischen Freundin. Knesebrülls Vermutung bestätigt sich somit und sein Gesichtsausdruck hellt augenblicklich auf. Er fühlt sich gerettet in der gnadenlosen Hölle dieser Stadt.