Das Buch
Um den Thron von Ceredigion zu besteigen, scheute Servern Argentine in jungen Jahren vor keiner Grausamkeit zurück. Er habe sogar seine eigenen Neffen, die rechtmäßigen Könige, töten lassen, so munkelt man hinter vorgehaltener Hand. Von seiner Burg aus, geschützt durch die in die Tiefe donnernden Wasserfälle, regiert er sein Königreich mit eiserner Hand.
Doch nun ist Severns Macht in Gefahr: Ein Usurpator, der behauptet, einer der verschollenen Königssöhne zu sein, greift nach der Krone. Unterstützt wird er durch die benachbarten Königreiche Ceredigions, die Severn in blutigen Kriegen unterworfen hat. Um dem vermeintlichen Hochstapler das Handwerk zu legen, schickt Severn Lady Elysabeth Mortimer zu ihm – die Frau, die Owen Kiskaddon innig liebt. Owen, der von der Heiligen Quelle berührt ist, ist inzwischen von der Geisel des Königs zu seinem engsten Berater aufgestiegen.
Doch dann ereilt Owen im Traum eine Vision – eine Vision, die nicht nur die Treue zu seinem König, sondern auch seine Liebe zu Elysabeth auf eine gefährliche Probe stellt …
Der Autor
Jeff Wheeler wurde 1971 in New Jersey, USA, geboren. Er wuchs in Silicon Valley auf und begann schon während seines Studiums eine Karriere bei Intel. Doch seit ihm in der Highschool Terry Brooks’ Die Elfensteine von Shannara in die Hände fiel, wusste er, dass seine wahre Berufung im Schreiben liegt. 2014 beendete er seine Karriere bei Intel und widmete sich ganz seiner Autorenlaufbahn. Seine Romane landen regelmäßig auf der Wallstreet Journal-Bestsellerliste. Der Autor lebt mit seiner Familie in den Rocky Mountains.
JEFF WHEELER
KÖNIGS-
FALL
Der Paladin
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Johan Birken
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
THE THIEF’S DAUGHTER
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Deutsche Erstausgabe 08/2019
Redaktion: Uta Dahnke
Copyright © 2016 by Jeff Wheeler
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-24178-0
V001
www.heyne.de
Für Victoria
Königreiche und Personen
Königreich Atabyrion: König Iago IV. (Haus Llewellyn): bekannt für Tapferkeit. Sein Vater (Iago III.) war ein erfolgloser König, geplagt von Aufständen seiner Vasallen und wiederkehrenden Auseinandersetzungen mit Ceredigion, zuletzt unter Eredur. Damals hatten Eredurs Bruder Severn und Lord Horwath das atabyrionische Heer in einer entscheidenden Schlacht geschlagen. Als es danach zur Rebellion kam, starb Iago III., und Iago IV. wurde im Alter von fünfzehn Jahren König. Mittlerweile ist er neunzehn Jahre alt und noch unverheiratet.
Königreich Ceredigion: König Severn (Haus Argentine): bemächtigte sich des Throns, der den Söhnen seines verstorbenen Bruders Eredur zustand, welche verschollen sind und als ermordet gelten. Er ist vierzig Jahre alt und regiert seit über einem Jahrzehnt über sein unruhiges Königreich.
Königreich Okzitanien: König Chatriyon VIII. (Haus Vertus): folgte im Alter von dreizehn Jahren seinem Vater auf den Thron, stand bis zum Alter von einundzwanzig Jahren ganz unter der Vormundschaft seiner älteren Schwester. Nach der tatsächlichen Machtübernahme mischte er sich in die Hoheitsrechte seiner Cousine ein, der Herzogin von Brythonien, die er heiraten und dadurch zu einem Bündnis zwingen möchte.
Lords von Ceredigion
Owen Kiskaddon: Herzog der Westmark
Stiev Horwath: Herzog von North Cumbria
Jack Paulen: Herzog von East Stowe
Thomas Lovel: Herzog von Southport
»Die Geschichte Ceredigions aufzuzeichnen wird meiner Einschätzung nach zehn Jahre in Anspruch nehmen. Ich bin gebannt von dem, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe, und gedenke nicht, in absehbarer Zukunft nach Pisan zurückzukehren. Meine Aufzeichnungen habe ich mit den Anfängen der Herrschaft von Severn Argentine beginnen lassen. Davon ausgehend, werde ich mich in die Vergangenheit vorarbeiten, die Regentschaft seines Bruders Eredur Argentine dokumentieren und mich dann den Bürgerkriegen widmen, die einen großen Teil der bisherigen Geschichte einnehmen. Eine Geistesverwandte und einen wahren Schatz an Wissen habe ich in der Enkelin des Herzogs von North Cumbria gefunden. Lady Elysabeth Victoria Mortimer teilt meine feurige Leidenschaft für Geschichte und verfügt über verblüffend detailreiche Kenntnisse für eine Siebzehnjährige. Es wird vermutlich nicht mehr lange dauern, bis König Severn eine eheliche Verbindung für sie arrangiert.«
Polidoro Urbino,
Hofgeschichtsschreiber von Königsfall
1
Der Herzog der Westmark
Owen Kiskaddon trug nur ungern eine volle Rüstung, in der er sich unwohl und eingeengt fühlte. Deshalb legte er selten mehr als ein Kettenhemd an. So wie jetzt, als er am Abend vor seiner ersten Schlacht als Feldherr durch das Lager der Soldaten ging, die Hand auf dem Schwertknauf. Die Nacht senkte sich schnell herab. Schon konnte er im frühen Dämmerlicht die ersten Sterne sehen.
Er vermisste die kalte Schönheit des Nordens, wo er in den letzten zehn Jahren zu Hause gewesen war. Und er vermisste seine Freundin Evie, die Enkelin des Herzogs von North Cumbria. Sie wartete sicher gespannt auf Nachricht von seiner ersten Schlacht, der er selbst mit einer Mischung aus Unruhe und Aufregung entgegensah. Es war zu erwarten, dass Blut fließen würde, auch wenn er sich nicht darauf freute. Er hatte die Kampftechniken geübt, doch er war noch nicht erprobt. Jahrelang hatte er im Sattel trainiert, mit Schwertern, Äxten, Bögen und Lanzen, aber noch viel lieber las er in Büchern über kriegerische Auseinandersetzungen. Er hatte alle entscheidenden Schlachten studiert, jene aus längst vergangenen Zeiten wie auch die der jüngeren Vergangenheit. Er wusste auswendig, wie viele Soldaten in den Morast vor der Feste Azin marschiert waren, wusste, dass es dem König gelungen war, durch ein sorgsam ausgewähltes Terrain, angespitzte Pfähle und Bogenschützen ein zahlenmäßig weit überlegenes Heer zu schlagen. Doch während andere die Geschichtswerke lediglich studierten, ging Owen einen Schritt weiter. Er durchleuchtete und hinterfragte die Ereignisse.
Was hätte er getan, wäre er Kommandant des okzitanischen Heers gewesen, um den König von Ceredigion in der Schlacht von Azin zu schlagen? Wie bei einer Partie Wizar suchte er nicht nur nach Möglichkeiten von seiner Warte aus. Er betrachtete es auch vonseiten der Gegner. Und schon vor Langem hatte er begriffen, dass es bei Konflikten mehr als zwei Seiten gab, wenn um Königreiche und Kronen gespielt wurde, und dass unerwartete Figuren auf den Plan treten konnten.
»Guten Abend, Mylord«, sagte ein Soldat, als Owen, tief in Gedanken versunken, an seinem Lagerfeuer vorbeilief.
Owen blieb stehen und sah auf den Mann hinunter, an dessen Namen er sich nicht erinnerte. »Guten Abend. Wem untersteht Ihr?«, erkundigte er sich.
Und obwohl der Soldat doppelt so alt war wie Owen, blickte er ehrfürchtig zu ihm auf. »Harkins, Mylord. Ich heiße Will und unterstehe Harkins. Meint Ihr, das Wetter hält bis zur Schlacht morgen?«
»Erfreut, Will. Wollen wir es hoffen, oder?«
Owen schenkte dem Soldaten noch ein müdes Lächeln und ein dankbares Nicken, dann setzte er seinen Weg zum Kommandozelt fort. Er glaubte nicht, dass er Schlaf finden würde. Wie viele der Soldaten mochte es mit Sorge erfüllen, einem so jungen Feldherrn in die Schlacht zu folgen? König Severn hatte seine erste Schlacht im Alter von achtzehn Jahren angeführt. Owen war ein Jahr jünger. Die Verantwortung lastete schwer auf seinen Schultern.
Und es irritierte ihn ein wenig, oder auch mehr als nur ein wenig, dass die Männer so blind auf ihn vertrauten. Nur wenige Menschen waren mit der Gabe der Quelle gesegnet, aber diese wenigen verfügten über magische Kräfte, die ihre natürlichen Talente verstärkten. Gesegnete waren so selten, dass jeder die Geschichte kannte, wie Owens Gabe bereits, als er acht Jahre alt war, zutage getreten war. Und es stimmte: Owen war mit der Gabe der Quelle gesegnet, doch niemand ahnte, dass seine angebliche Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, eine einzige groß angelegte Täuschung war. Denn damals hatte ihm Ankarette Tryneowy, die gerissene Giftmischerin der Königin, geholfen, diesen Ruf zu etablieren, um ihm die Gunst des Königs zu sichern. Zusammen hatten sie das gesamte Königreich an der Nase herumgeführt.
Nach Ankarettes Tod hatte Owen die Täuschung mithilfe von Dominic Mancini aufrechterhalten. Der Herr über das königliche Espion hatte einige der größeren politischen Entwicklungen für ihn in Erfahrung gebracht, bevor sie allgemein bekannt wurden. Dadurch hatte sich Owens Ruf, in die Zukunft schauen zu können, bis über die Grenzen von Ceredigion hinaus gefestigt. Ursprünglich hatte der König Mancini nur vorübergehend zum Herrn über das Espion ernannt, doch Mancini war es gelungen, auf geschickte Weise die Interessen des Königs zu fördern und seine Stellung über Jahre hinweg zu behalten. Owen und Mancini waren durch eine heimliche Zusammenarbeit verbunden, von der sie beide profitierten.
Manchmal hatte Owen die Neuigkeiten, die Mancini ihm zuspielte, tatsächlich vorhergesehen, aber das lag daran, dass er einen scharfen Blick für Ursache und Wirkung hatte. Zum Beispiel hatte ihm Mancini gemeldet, dass sich König Iago Llewellyn von Atabyrion mit König Chatriyon von Okzitanien zusammenschließen wollte, um sich gegen Ceredigion zu verbünden, und es hatte Owen nicht im Geringsten überrascht. Doch um das vorherzusehen, bedurfte es keiner hellseherischen Gabe, sondern Klugheit.
Als Owen auf das Kommandozelt zukam, hoben die Wachen die Hellebarden und ließen ihn passieren. Mit seinen siebzehn Jahren war Owen noch nicht ganz ausgewachsen, aber er hatte bereits Mannesgröße erreicht, und er trug das Wappen seiner Familie, das Aurum – drei goldene Hirschköpfe auf einem blauen Schrägstreifen.
Owen duckte sich, trat durch den Eingang und sah Lord Horwath, der seine Kampfrüstung trug und einen Kelch mit süß riechendem Wein in der Hand hielt. Sein Haar war in den vergangenen Jahren noch mehr ergraut, doch er hatte noch immer das ruhige, unerschütterliche Auftreten, das Owen schon als Kind an ihm bewundert hatte. Er war durch und durch Soldat und hatte sich in den vergangenen fünfzig Jahren in unzähligen Schlachten bewiesen. Diesen verlässlichen Mann an seiner Seite zu haben erfüllte Owen mit Zuversicht.
»Guten Abend, Junge.« Horwath neigte den Kopf und lächelte schief.
»Ihr wirkt überhaupt nicht beunruhigt«, sagte Owen und musste sich ein Grinsen verbeißen.
Horwath zuckte die Schultern, trank von seinem Wein und stellte den Kelch auf einen kleinen Tisch ab.
»Hattet Ihr Nachricht von Eurer Enkelin?«, fragte Owen hoffnungsvoll.
»Sie meinte, sie würde den Norden halten, sollte das Heer von Atabyrion dort einfallen, während wir uns hier mit den Okzitaniern schlagen. Ich habe den Eindruck, sie hofft beinahe darauf. Sie scheint ein wenig neidisch zu sein, dass Ihr an einer Schlacht teilnehmt, bevor sie es tut.«
Owen lächelte und rief sich ihr Bild ins Gedächtnis. Wie immer erfüllte ihn dabei eine merkwürdige Unruhe, als hätte sich ein Schwarm von Schmetterlingen in seinem Bauch versammelt. Ob dieses Gefühl der Anspannung vor der Schlacht zuzuschreiben war oder seiner Sehnsucht nach der Freundin, wusste er nicht, und er wollte nicht verdrossen erscheinen, doch sie fehlte ihm schrecklich. Sie hatte wunderschönes braunes Haar, voll und lang, das sie mal offen, mal geflochten trug. Ihre Augen waren von einem faszinierenden Blau oder Grün oder Grau, je nach Licht und je nach ihrer Stimmung. Ihm fehlten ihr Geplauder, ihr scharfer Verstand, ihr intelligenter Humor. Elysabeth Victoria Mortimer – Evie – war seine engste Vertraute und neben Mancini die Einzige, die sein Geheimnis kannte.
»Vorsicht, Junge«, warnte Horwath. »Bleibt mit Eurem Kopf in Okzitanien. Verliert Euch nicht in Tagträumen, wenn ein Schwert nach Euch schlägt.«
Owen lächelte reumütig. Lord Horwath war ihm wohlgesinnt, und nach all den Jahren war er auch für Owen fast wie ein Großvater. Er schien auf eine Verbindung zwischen der Westmark und North Cumbria zu hoffen, auch wenn es Owen und Evie nie gestattet war, allein Ausflüge zu unternehmen, sondern nur mit Evies Zofe. Doch zu dritt waren sie für Wagnisse bekannt, wie am Fuße der Wasserfälle auf Felsen zu klettern und in den Fluss zu springen.
»Wann rufen wir die Hauptleute zusammen?«, fragte Owen und rieb sich die behandschuhten Hände. Er konnte es kaum erwarten, dass der Morgen dämmerte.
»Sie sorgen noch für Nachtruhe im Lager, aber sie werden bald da sein. Ihr wirkt ein wenig unruhig. Ihr hättet Eure Kacheln mitbringen sollen.«
Owen grinste. Schon als Kind hatte er es geliebt, Kacheln zu komplizierten Mustern aufzustellen. Jetzt, da er älter war, waren die Konstruktionen noch ausgefeilter geworden, und seine Sammlung umfasste eine beeindruckende Menge unterschiedlichster Kacheln.
Owens Herold, ein Offizier namens Farnes, duckte sich ins Zelt und verbeugte sich steif. Er war Mitte vierzig, und in seinem rötlichen Haar schimmerten erste graue Strähnen. Er hatte schon Owens Vater in vielen Schlachten gedient und kannte das Protokoll wie kein anderer. »Mylords, der Herold des Königs von Okzitanien ist soeben im Lager eingetroffen. Er wünscht, zu Euch vorgelassen zu werden.«
Owen blickte fragend zu Horwath, auf dessen Stirn sich eine Falte gebildet hatte, doch statt seine Meinung zu äußern, sagte Horwath nur: »Es ist Euer Heer.«
»Dann schickt ihn rein, Farnes«, befahl Owen. Sobald der Herold weg war, verschränkte Owen die Finger hinter dem Rücken und nahm seine rastlose Wanderung wieder auf. »Ich vermute, er möchte uns entweder bestechen oder uns drohen. Wobei mir eine Bestechung wahrscheinlicher erscheint. Vielleicht will er uns mit den Münzen bezahlen, die er aus der Schatulle der Herzogin von Brythonien zu rauben gedenkt.« Der gegenwärtige Unfrieden war zu einem Teil dadurch bedingt, dass der König von Okzitanien versuchte, Lady Montfort gegen ihren Willen zu heiraten. Lady Montfort hatte alle benachbarten Königreiche um Hilfe gebeten, und König Severn hatte diesem Ruf Folge geleistet, um sich eine Verbündete zu sichern. »Wie viel, meint Ihr, wird er uns bieten, damit wir kampflos abziehen?«
Lord Horwath lachte leise. »Ist der Betrag von Bedeutung?«
»Selbstverständlich nicht. Chatriyon versteht nicht, worum es uns geht … oder Ceredigion. Ich möchte nur ein Gefühl dafür bekommen, ob ich das Angebot als Beleidigung auffassen sollte.« Draußen näherten sich Schritte. »Sie sind da.«
Farnes kündete den Herold von Okzitanien mit Namen Anjers an, und dieser kam ins Zelt, wobei er mit dem Kopf an der Zeltplane hängen blieb, weil er sich nicht tief genug duckte. Dabei geriet seine Frisur in Unordnung, und Owen musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
Der Herold trug eine samtene Tunika mit Puffärmeln, veilchenblau und mit Lilien bestickt. Sein hochgeschlossener Kragen war steif und gerade und erinnerte an eine Halskrause. Etwas an der okzitanischen Mode war Owen zutiefst zuwider. Männer kämmten ihr Haar nach vorn, ganz gleich, ob schütter oder voll, sodass es in der Stirn spitz zulief. Auch seitlich wurde es nach vorn gekämmt, wodurch die Enden wie Federn wirkten. Doch abgesehen von der Mode, waren die Okzitanier von dunklem Typus und gutem Aussehen, und Anjers bildete keine Ausnahme, obgleich er doppelt so alt war wie Owen.
»Ah, der junge Herzog«, sagte Anjers und versuchte, seine Frisur zu glätten. Er beherrschte die Sprache Ceredigions fehlerfrei, doch Owens Alter zu kommentieren war nicht die beste Art, ein Gespräch zu beginnen.
»Ihr bringt eine Botschaft von Eurem Herrn?«, fragte Owen in gelangweiltem Ton. Er verschränkte die Arme und warf Horwath einen Seitenblick zu.
»Durch mich, Anjers, seinen Herold, beschwört Chatriyon, König von Okzitanien, Ceredigion noch einmal, den Frieden zu bewahren. Die Angelegenheit mit Brythonien betrifft Euch nicht. Der König möchte Euer Verbündeter und Freund sein. Als solcher schlägt er vor, die Ausgaben für Euren Feldzug zu begleichen. Sollte eine Schlacht vonnöten sein, um den Blutdurst Eures Königs zu stillen, erlaubt er das Abstechen von dreitausend Mann aus seinen Reihen, um den Schlächter von Ceredigion zu besänftigen. Doch mein Gebieter hofft, dass sich zwei Könige auf eine Waffenruhe einigen können, die ohne Blutvergießen auskommt. König Chatriyon hält rechtmäßig um die Hand von Lady Sinia an, die seine Untertanin ist, um das Reich zu einen. Zu welchem Preis darf mein Gebieter versichert sein, dass Eure Einmischung endet?«
Owen hörte sich die Ansprache geduldig an, obwohl er innerlich kochte. Die Anschuldigungen gegen seinen König waren infam, das Angebot geschmacklos. Er setzte Magie ein, um die Schwächen des Herolds zu ergründen, und erfuhr, dass er Diplomat war, kein Soldat. Anjers trug weder Brustharnisch noch Kettenhemd unter dem Gewand und war vollkommen wehrlos.
Über die Jahre hatte König Severn Owen beigebracht, wie man Kraft und Magie aus der Quelle ziehen und einsetzen konnte. Dabei hatten sie bemerkt, dass Owens Fähigkeiten tiefer gingen als die des Königs, was daher rühren mochte, dass Severn seine Gabe erst in fortgeschrittenem Alter entdeckt hatte.
Von Mancini wusste Owen, dass König Severn an fremden Höfen als grausamer Tyrann, als Schurke und Kindermörder verschrien war, doch das hatte nicht mehr mit dem wahren König Severn zu tun, als ein Spielzeugschwert einen echten Treffer landen konnte. Die Neffen des Königs waren zwar tatsächlich verschwunden, doch König Severn war nicht verantwortlich für ihren Tod. Sein Fehler war es gewesen, die Kinder dem falschen Mann anzuvertrauen.
Der Herold war längst verstummt, und das Schweigen zog sich in die Länge. Owen blickte Anjers in die Augen und ließ die Stille noch etwas andauern, um sein Gegenüber auf die Folter zu spannen. Es verunsicherte Männer, wenn eine Antwort auf sich warten ließ.
»Ich weiß nicht, was mich mehr beleidigt«, sagte er schließlich. »Dass Euer König glaubt, er könnte uns mit einer gewonnenen Schlacht kaufen, oder dass er uns überhaupt für käuflich hält. Und das, nachdem bereits sein Vater versucht hatte, durch Bestechung des früheren Herrn über das Espion meinen Tod zu erkaufen, als ich noch ein Kind war.« Wieder schwieg Owen. Feinde Ceredigions hatten seine vermeintliche seherische Gabe als Bedrohung empfunden und seine Ermordung in Auftrag gegeben. »Ich wusste, dass Ihr heute Abend kommt«, sagte Owen und verlieh seiner Stimme einen geheimnisvollen Klang. »Richtet Eurem Gebieter aus: Wenn die Sonne über diesem Schlachtfeld aufgeht, wird er die wahre Größe der Männer von Ceredigion erkennen. Mein König und Gebieter hat Lady Montfort geschworen, Brythonien zu verteidigen. Euer Gebieter wird sehen, dass wir Wort halten. Richtet ihm das aus, Herold. Solltet Ihr danach noch einmal in unser Lager zurückkommen, tut Ihr dies auf eigene Gefahr. Mein König hat nicht vergessen, dass dieses Land einst uns gehörte. Wir haben das Recht, unseren treuen Untertanen beizustehen.«
Wut und Abscheu standen im Gesicht des Herolds. »Wie Ihr wünscht. Junge.«
Damit machte er kehrt und marschierte aus dem Zelt, wobei er sich erneut den Kopf anstieß. Diesmal wäre er beinahe umgefallen, und Owen konnte sich nur mit größter Mühe beherrschen, um nicht loszulachen. Davon musste er Evie erzählen.
Als Anjers fort war, wandte sich Owen mit fragendem Blick an den alten Horwath.
»Ich glaube, mit dieser Anrede wollte er Euch beleidigen«, sagte dieser.
Farnes lachte leise und schüttelte den Kopf über Anjers’ Fehler. Er hatte Owen sträflich unterschätzt.
»Farnes«, sagte Owen, »holt Clark. Das Espion soll Anjers bis ins feindliche Lager verfolgen und mir von der Reaktion des Königs berichten.«
»Wie Ihr wünscht«, sagte Farnes und verließ das Zelt, ohne die Zeltplane auch nur zu streifen.
»Was habt Ihr vor?«, fragte Horwath und legte die Stirn in Falten.
Owen grinste. »Was der König von Okzitanien am wenigsten erwartet: Wir greifen schon heute Nacht an.«
Die Falten in Horwaths Stirn wurden tiefer. »So etwas ist sehr riskant, Owen.«
»Nun, ich habe ihn gewarnt«, meinte Owen und hob die Hände. »Erinnert Ihr Euch? Wenn der Morgen kommt, wird er die wahre Größe der Männer von Ceredigion erkennen. Bis zum Morgen ist alles vorbei. In der Panik werden seine Soldaten wahrscheinlich gegeseitig übereinander herfallen. Rufen wir die Hauptleute zusammen. Ich kann es kaum erwarten, die erste Kachel umzustoßen.«
»Es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass Königreiche genau definierte Gebiete mit starren Grenzen sind. Ein Königreich kann eine Stadt umfassen, es kann sich aber auch über einen ganzen Kontinent erstrecken. Viel hängt ab vom Ehrgeiz und Geschick desjenigen, der über das Königreich regiert. Schwache Herrscher verlieren Gebiete, starke Herrscher gewinnen sie hinzu. Es ist die Aufgabe des Geschichtsschreibers, das Leben herausragender Persönlichkeiten zu beleuchten. Wahrhaftig, es sind die großen Persönlichkeiten und ihre Entscheidungen, die den Lauf der Welt prägen – sie treiben das Rad der Geschichte an.
Severn Argentine ist gefürchtet unter seinem Volk, doch man schätzt ihn für sein militärisches Geschick. Er ist sarkastisch, ungeduldig und immun gegen Schmeicheleien, da er wenig ansehnlich und sein Körper missgestaltet ist. In den zwölf Jahren seiner Regentschaft hat er seine Macht gefestigt und ihm treu ergebene Herzöge eingesetzt. Nun strebt er danach, sein Reich auszuweiten. Der König von Okzitanien hingegen ist erst rechtmäßiger König, seit er vor einem Jahr einundzwanzig wurde. Er ist jung, nur halb so alt wie sein Rivale, und unerfahren. Chatriyon hat eine Schwäche für Mode, Musik, Tanz und die Falknerei und macht sich erst jetzt mit der Kunst des Krieges vertraut. Sein Drang, sich zu beweisen, könnte König Severn in die Hände spielen. Wie werden sich wohl die Landkarten verändert haben, wenn diese Rivalität ihr Ende gefunden hat?«
Polidoro Urbino,
Hofgeschichtsschreiber von Königsfall
2
Marschall Roux
Der blasse Mond erhellte die Nacht. Owens Augen benötigten einen Moment, um sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Er war angespannt und rutschte unruhig im Sattel hin und her. Den Helm hatte er sich unter den Arm geklemmt, um nur ja kein Geräusch zu überhören. Das Klappern der Hufe war schrecklich laut, aber bald würden sie die Pferde zurücklassen und sich zu Fuß fortbewegen, um nicht entdeckt zu werden. Das Manöver war riskant, doch zumindest würde es nur einen Teil seines Heeres gefährden.
Owens Plan war einfach. Der größte der Stoßtrupps, den er selbst anführte, bestand aus einhundert Mann, darunter zwei Dutzend Bogenschützen. Diese würden einen Pfeilhagel auf das okzitanische Lager niedergehen lassen, um Verwirrung und Panik zu stiften. Danach würden die übrigen Soldaten mit Schwertern und Schilden angreifen und möglichst viel Lärm dabei verursachen. Zwei weitere, jeweils fünfzig Mann starke Truppeneinheiten würden den Kampfeslärm abwarten und dann das gleiche Manöver an den beiden Flanken des feindlichen Lagers wiederholen. Owen wollte den König Okzitaniens überrumpeln und ihn glauben lassen, seine Leute wären in der Unterzahl. Im Grunde hoffte Owen, den König so sehr in Angst und Schrecken zu versetzen, dass er die Flucht antrat. Sollte es gelingen, den König als Geisel zu nehmen, hätte Owen nichts dagegen.
Das Risiko bestand darin, dass seine Männer vielleicht zu laut waren und die Okzitanier sie mit einem Hinterhalt empfingen. Aber das schien unwahrscheinlich, denn sie hatten ihnen keinen Anlass gegeben, mit einem nächtlichen Überfall zu rechnen. Zudem hatte Owen Späher entlang der Straßen postiert, um mögliche Nachzügler abzufangen, die ihnen sonst über den Weg laufen könnten, und um die Wachtposten der gegnerischen Seite auszuschalten.
Lord Horwath ritt neben ihm, schweigsam wie immer. Er hatte Owens Plan mehrfach gründlich auseinandergenommen und Owen auf Schwachstellen hingewiesen, die sich für gewöhnlich rächten. Das Terrain war ihnen nicht vertraut. Die Kundschafter hatten nicht genau ausmachen können, wie weit entfernt das okzitanische Heer lagerte. Es gab vielleicht Flüsse oder Bäche, die ihnen den Weg versperrten. Owen war ihm dankbar, dass er diese Gefahren aufgezeigt hatte, doch er war bei seinem Vorhaben geblieben. Sie riskierten nur einen Teil des Heers, und wenn der Plan aufging, wäre es ein großer Erfolg.
Links von ihnen schrie ein Nachtvogel im Wald, und Owen wandte ruckartig den Kopf. Sein Puls ging schneller. Er dachte daran, wie er als Kind in den Palast von Königsfall gebracht worden war, um dort als König Severns Geisel zu leben. Damals hatte ihn alles in Schrecken versetzt. Mittlerweile war er mutiger, aber er erinnerte sich noch gut an den kleinen, verängstigten Jungen mit der weißen Strähne im braunen Haar.
Und wie so viele Erinnerungen führte ihn auch diese zu Evie. Nach wie vor hatte er diese weiße Stelle im Haar, die sie so liebte, wenngleich sie kaum zwischen seinen Locken zu sehen war. Immer wieder wollte sie dieses Haarbüschel berühren, wenn sie zusammen durch die Berge von North Cumbria streiften und er die Aussicht bewunderte, die sich vor ihnen auftat. Ihr gemeinsamer Plan war es, zusammen die Eishöhlen zu erforschen, aber dazu hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben. Die Umstände zwangen sie, ständig von Schloss zu Schloss zu ziehen. Mal war es eine Feier in Königsfall, ein andermal zwangen ihn Streitigkeiten zwischen niederen Adligen oder Bauern dazu, heimzukehren und zu schlichten. In Tatton Hall wurde er hochgeschätzt, und jedes Jahr während der Wintermonate, wenn North Cumbria unter einer Decke aus Eis und Schnee verschwand, kehrte er dorthin zurück. Vor seinem geistigen Auge sah er Evie, über ein Buch gebeugt, vor dem Kamin sitzen. Sie kaute auf einer Haarsträhne und las Geschichten über Könige und Schlachten, die sie ihm später erzählen würde. Sie war impulsiv, lebhaft und bildhübsch. Manchmal erwischte sie ihn dabei, wie er sie ansah, und ihre Wangen röteten sich. Wenn das geschah, schmerzte sein Herz auf eine fast tröstliche Weise.
»Ihr werdet bald Eure volle Aufmerksamkeit brauchen«, mahnte Lord Horwath, der so nah an ihn herangeritten war, dass sich ihre Beine fast berührten. »Konzentriert Euch.«
Owen fragte sich, was ihn verraten hatte, aber Lord Horwath entging selten etwas. Er mochte wortkarg sein, doch er nahm sehr genau wahr, was um ihn herum vorging. Außerdem war er einer der wenigen, dem die scharfe Zunge des Königs nichts anhaben konnte.
»Mylord«, drang eine leise Stimme aus der Dunkelheit zu ihnen. Owen zügelte seinen Hengst und ließ den Mann näher herankommen. Es war Clark, ein hagerer Mann aus dem Espion mit einem kantigen Gesicht und dunklem, kurz geschorenem Haar. Er war ein exzellenter Fährtenleser, fand sich bestens in Wäldern zurecht und hatte sich schon vielfach bewährt.
»Wie sieht es aus, Clark?«, fragte Owen und versuchte, sein unruhiges Pferd zu bändigen.
»Ich empfehle, die Pferde hier festzumachen«, sagte der Espion auf seine förmliche Art. »Bis zum Feldlager ist es noch eine halbe Meile. Ein kurzer Marsch, doch wenn Ihr näher reitet, hören sie Euch.«
Owen nickte und setzte seinen Helm auf, bevor er abstieg. Clark hielt ihm die Zügel, dann führte er den Hengst zu den Bäumen und band ihn fest. Auch die anderen Männer saßen ab. Die Pferde wurden mit Futter versorgt, um sie ruhigzustellen, und einige Pferdeführer blieben bei ihnen zurück. Owen sah, wie die Bogenschützen die Bögen spannten, um die Sehnen zu dehnen. Jeder hatte drei Köcher mit Pfeilen dabei. Sie sprachen sich untereinander ab.
»Wie lange ist es noch bis zum Sonnenaufgang, Clark?«, fragte Owen und schaute in den Himmel, doch er war nicht gut im Lesen der Gestirne.
Clark sog die Luft ein und blickte nach oben. »Ein paar Stunden, Mylord. Einige unserer Feinde haben eben noch gezecht, aber die meisten schlafen tief und fest, mit Ausnahme der Wachtposten.«
»Nun, dann wollen wir sie wecken«, grinste Owen und legte die Hand auf den Knauf seines Langschwerts. Daneben hatte er ein Kurzschwert und einen Dolch bei sich. Das Kettenhemd war angenehm zu tragen, und ihm war warm trotz der Kälte, die seinen Atem in Nebelwolken verwandelte.
Die Männer setzten sich in Bewegung und marschierten in Richtung des feindlichen Lagers. Owens Herzschlag beschleunigte sich. Jahrelang hatte er im Burghof geübt; jetzt würde sich zeigen, ob es sich auszahlte. Mit Zuversicht erfüllte ihn, dass er gegenüber anderen ein paar entscheidende, wenngleich unfaire Vorteile besaß, denn seine Gabe zeigte ihm die Schwächen seiner Gegner. Außerdem schützte sie ihn vor der magischen Beeinflussung durch andere Gesegnete. Horwath lief neben ihm, und Owen war dankbar, den erfahrenen Mann an seiner Seite zu haben, auch wenn dieser sicher lieber im Bett gelegen hätte, als eine unbekannte Straße in Okzitanien entlangzuwandern. Owen merkte, dass er die Zähne zusammenbiss, während er marschierte. Clark hielt sich in seiner Nähe. Vermutlich hatte der Spion die Order, sein Leben zu schützen, doch man führte ein Heer nicht aus der hintersten Reihe an; daher lief Owen ganz vorn.
Sie zogen ihre Waffen, wappneten sich für den Kampf und verließen den Schutz des Waldes. Vor ihnen lag eine sanft abfallende Ebene, und in der Ferne sah man die Lichter der belagerten brythonischen Burg Pouance. Owen hatte die wenigen Landkarten, die ihnen zur Verfügung standen, genau studiert, daher wusste er, dass dies eine der äußeren Befestigungsanlagen des Herzogtums war und nicht die Hauptstadt Ploemeur.
»Macht Euch bereit, die Fackeln zu entzünden«, sagte Owen zu einem seiner Hauptleute. »Jeder trägt zwei. Das wird unsere Zahl in ihren Augen verdoppeln. Bogenschützen, auf die Plätze.«
Seine Nerven beruhigten sich, und ein seltsam friedvolles Gefühl breitete sich in ihm aus. Dann hörte er es: das wasserfallartige Rauschen der Quelle. Er hatte sie nicht gerufen, aber er fühlte, wie ihre Kraft ihn durchströmte, als wollte sie ihm helfen, den Sieg zu erringen.
»Männer, lasst uns diesen Narren zeigen, aus welchem Holz wir geschnitzt sind«, sagte Owen mit fester Stimme. Er sah hinüber zu Horwath, der ihn unter dem Nasenschutz seines Helms schief anlächelte. Es lag Spannung in der Luft und ein Gefühl von Zuversicht.
»Reicht mir eine Fackel, Clark«, bat Owen.
Der Spion nickte und schlug zwei Steine über den Fackeln gegeneinander, die er zusammengebunden hatte. Das feuchte Öl loderte auf, und er übergab Owen das Feuerzeichen. Die Flamme knisterte und flackerte im Dunkel der Nacht. Owen streckte sie hoch empor und rief: »Ceredigion!«
Es war wie ein Dammbruch. Der Schlachtruf der Männer übertönte fast das Sirren der Bögen, als sich die Luft mit Pfeilen füllte. Die Bogenschützen nahmen eine geduckte Haltung ein und schnellten hoch, wenn sie ihre Pfeile in den Himmel schickten. Eine weitere tödliche Salve wurde losgeschickt, noch bevor die erste ihr Ziel erreicht hatte. Man hörte die dumpfen Geräusche, als sie im Lager einschlugen. Von den okzitanischen Soldaten drangen überraschte Schreie zu ihnen.
Owen lief voran und schwenkte die Fackeln über dem Kopf. Clark blieb ihm auf den Fersen. Eine Wand aus Fackeln folgte ihnen. Es sah aus, als würden sie mit fünfhundert Mann angreifen; dabei waren es nicht mal hundert. Übermut erfüllte Owens Brust, während er voranstürmte. Durch die langen Wanderungen in den Bergen war er kräftig und ausdauernd geworden, und Ankarettes heilender Tee hatte seine schwache Lunge aus Kindheitstagen gänzlich kuriert.
Das Lager vor ihnen erwachte zum Leben. Männer sprangen auf und hasteten zu ihren Waffen und Rüstungen, doch ihnen blieb keine Zeit, sie anzulegen. Pfeile regneten auf das Lager nieder, und die Stille der Nacht wurde von Schmerzensschreien zerrissen. Owen näherte sich den vordersten Reihen des Feindes, wo ein paar Pikeniere zitternd mit ihren Spießen standen. Sie ließen ihre Waffen fallen und liefen davon.
Owen wusste, dass er gewonnen hatte, noch bevor es zu den ersten Gefechten Mann gegen Mann kam.
Die Bogenschützen stoppten ihren tödlichen Regen, als Owens Männer auf die Reihen der aufgeschreckten Feinde trafen. Owen beobachtete, wie geschickt und anmutig Clark sich bewegte und mit seinen beiden Kurzschwertern Soldaten niederstreckte, die sich auf sie stürzten. Auf seinem grimmigen Gesicht lag ein geschäftsmäßiger Ausdruck, während er sich duckte und drehte und zustieß.
Owen spürte das Rauschen der Quelle überall um sich herum, als wäre er selbst die Flut. Männer flohen, einige mit Pfeilen gespickt. Zelte stürzten in sich zusammen, und ihre Leinen peitschten durch die Luft. Pferde wieherten und gingen durch. Owen meinte eines zu sehen, auf dessen Schabracke das Wappen Okzitaniens prangte. Es trug seinen Reiter davon.
Wieder gab es Geschrei, als sich die Soldaten der beiden anderen Truppenteile in den Kampf stürzten. Kein Zweifel, die Schlacht war so gut wie gewonnen.
In dem Moment sprang ein Pikenier hinter einem Zelt hervor und stieß nach Owens Brust. Reflexhaft wehrte Owen den Schlag mit dem Schwert ab und schleuderte seine Fackel in das Gesicht des Mannes. Der Soldat schlug vor Schmerz wild um sich, ließ den Spieß fallen und floh wie all die anderen.
Ein weiterer Mann wollte Owen mit seinem Schild umstoßen. Owen duckte sich zur Seite und stellte seinem Angreifer ein Bein, sodass der seinen Schild selbst ins Gesicht bekam. Er sackte in sich zusammen und stand nicht wieder auf.
Owen beobachtete, wie sich seine Männer durch das Lager vorarbeiteten wie Sensen durch ein Weizenfeld. Seltsamerweise war ihm nach Lachen zumute.
»Lord Owen!«, rief Ashby. Der Hauptmann lief eilig auf ihn zu. »Sie fliehen! Einige sind barfuß! Wir haben versucht, den König zu ergreifen, aber er war auf einem Pferd, umgeben von seinen Rittern. Er ist als Erster geflohen. Ihr habt es geschafft, Lord Owen!«
Plötzlich schallten Trompeten von der anderen Seite des Lagers herüber, so durchdringend und klagend, dass Owen ein Schauer über den Rücken lief.
»Was war das?«, rief ein anderer Hauptmann verwirrt.
»Ich werde es in Erfahrung bringen«, sagte Clark förmlich. Er stürzte sich ins Getümmel der Soldaten, die sich nun daranmachten, die Zelte zu plündern. Manche schnappten sich okzitanische Flaggen oder Abzeichen als Erinnerungsstücke.
Wieder ertönten Trompeten – ein schauriger Klang.
»Alle Männer zu mir«, befahl Owen. »Hört auf, in ihrer Wäsche zu wühlen. Dies ist nicht der Moment, um zu plündern. Ruft die Männer zusammen! Bogenschützen in Position!«
Owen spürte, wie ein Zittern durch den Fluss der Magie ging, und biss angstvoll die Zähne zusammen. Etwas stimmte nicht. Woher kamen die Trompeten? Schweißgebadet ließ er den Blick über das Durcheinander schweifen.
Clark kehrte nach einem kurzen Augenblick mit sorgenvoller Miene zurück. »Brythonische Ritter«, sagte er knapp. »Sie haben das okzitanische Lager von der anderen Seite aus angegriffen. Das okzitanische Heer zerstreut sich.«
Horwath kam zu Owen, das Schwert in der Hand. »Wir befinden uns in einer misslichen Lage, sollten sich diese Ritter gegen uns wenden.«
»Das stimmt«, sagte Owen. Wieder fühlte er das seltsame Stocken im Puls der Quelle. »Wir haben erreicht, weswegen wir gekommen sind. Ruft die Männer zurück. Sie sollen zu mir kommen.«
Der Tumult wurde nur noch größer, als weitere Kampfgeräusche von der anderen Seite des Lagers zu ihnen hallten.
»Lord Owen«, flüsterte Clark ihm zu, »ich habe ein Pferd für Euch.«
Owen wandte sich um und schüttelte den Kopf. »Wenn ich diese Männer zurücklasse, bin ich keinen Deut besser als Chatriyon.«
Der Spion blickte grimmig drein und schien zu überlegen, ob er Owens Zorn riskieren sollte, indem er auf seiner Flucht bestand.
»Da kommen sie«, sagte Horwath und hielt sein Schwert fester.
Owen sah die Flagge, bevor er den Mann sah. Die Standarte war weiß, durchzogen von einer gebogenen schwarzen Linie, hinter der ein schwarz gefiederter Vogel mit kräftigem Schnabel emporflog – eine Krähe oder ein Rabe. Owen wurde jäh bewusst, dass das Wappen von König Severn – ein weißer Keiler auf schwarzem Grund – einen Gegenpart hatte.
Der Reiter, der die Standarte mit sich führte, war mittleren Alters, in etwa so alt wie Severn, doch sein Haar war bereits schiefergrau und im okzitanischen Stil nach vorn gekämmt. Sein Blick war streng, als er auf Owens Männer zuritt, die sich wie eine Mauer um Owen herum gruppierten. Er trug einen weißen Umhang, der bis auf den Rücken seines Pferdes fiel, und hatte keine Waffe gezückt.
»Marschall Roux«, begrüßte ihn Lord Horwath mit ruhiger Stimme.
Der Marschall schien Horwarth erst jetzt zu bemerken. »Lord Horwath«, erwiderte er mit leichtem Akzent, nickte förmlich und straffte die Schultern. »Ihr seid sehr fern von North Cumbria, Mylord. Fürchtet Ihr nicht, so weit südlich zu schmelzen? Ihr führt diese Truppe an? Ich dachte, es wäre Kiskaddon.«
»Das ist richtig«, sagte Owen, der fühlte, wie die Kraft der Quelle zu einem Rinnsal verebbte. Er war sich sicher, dass dieser Marschall trotz seiner schroffen Art nicht vorhatte, sie anzugreifen. Trotzdem ließ Owen die Hand auf dem Griff seines Schwerts ruhen. Er glaubte nicht an Zufälle.
Marschall Roux blickte in seine Richtung. »Oh, Ihr seid hier. Ich habe Euch im Dunkeln nicht erkannt. Lord Kiskaddon, ich bringe Nachricht von meiner Gebieterin, der Herzogin von Brythonien. Sie dankt Euch für Eure Mühe, ihr Hoheitsrecht zu verteidigen. Durch Euer rechtzeitiges Eingreifen wurde Chatriyons Heer vernichtend geschlagen. Wir werden von hier an übernehmen. Ich habe meinen Rittern befohlen, das verstreute Heer bis zur Grenze zurückzutreiben. Lady Montfort bittet mich, Euch und Eurem König zu danken. Die Herzogin von Brythonien wird Euch eine treue Verbündete sein. Sollte Krieg nach Ceredigion kommen, könnt Ihr darauf zählen, dass sie die Gefälligkeit nicht vergessen und Euch den gleichen Dienst erweisen wird.« Er neigte respektvoll das Haupt vor Owen und deutete mit einem Wink über das verwüstete Lager. »Bitte verteilt die Siegesbeute unter Euren Männern. Dieses Recht habt Ihr Euch durch Eure Tapferkeit verdient. Ich empfehle mich, Brendon Roux, Marschall und Schutzherr von Brythonien.«
»Sagt Eurer Gebieterin«, erwiderte Owen und nickte ebenso respektvoll, »dass es uns Ehre und Privileg war, ihr zu helfen. Unsere Reiche grenzen aneinander. Wir sollten Verbündete sein.«
Der Marschall zog die Brauen zusammen. »Ich werde es ihr ausrichten«, sagte er steif. Damit wendete er sein Pferd und ritt mit seinen bewaffneten Rittern zurück in das Durcheinander aus flatternden Zelten und Gestöhn.
Owen wandte sich Horwath zu, der Marschall Roux voll Misstrauen nachsah.
Der ergraute Lord rieb sich das Kinn. »Es ist bemerkenswert, dass seine Ritter Chatriyons Heer im gleichen Moment angegriffen haben wie wir. Es war fast, als ob …«
»… sie uns erwartet hätten«, führte Owen den Satz zu Ende.
3
Wiederauferstehung
Am Vormittag desselben Tages drängten sich Männer in Owens Kommandozelt, deren Begeisterung kaum zu bändigen war. Das Heer von König Chatriyon VIII. war besiegt und noch immer auf der Flucht, getrieben von brythonischen Rittern. Der König selbst hatte sich in sein Reich zurückgezogen und in einem Schloss verschanzt, und die Kunde vom Sieg Ceredigions verbreitete sich von Dorf zu Dorf im Osten von Okzitanien. Owens Hauptleute hatten den Sieg errungen und dabei keinen einzigen Verletzten in ihren Reihen zu beklagen. Das war eine Leistung, für die man Owen größte Anerkennung und Dankbarkeit entgegenbrachte. Die Gabe der Quelle bescherte Owen nicht nur Visionen der Zukunft, so flüsterte man, sie verlieh ihm auch ein einmaliges Kriegsgeschick.
»Mylord«, sagte Farnes, der sich zwischen zwei Hauptleuten hindurchzwängen musste. Er strich sich durch den grau durchsetzten roten Schopf und versuchte, nicht zu grinsen – was ihm nicht gelang. »Mylord, der Bürgermeister von Averanche ist mit einer Delegation aus der Stadt gekommen.« Seine Mundwinkel zuckten. »Sie sind hier, um … nun, die Stadt einschließlich der Burg will sich Euch ergeben und Ceredigion die Treue schwören.«
Owen war verblüfft. »Habe ich Euch richtig verstanden, Farnes? Diese Stadt möchte sich ergeben, ohne dass wir sie angegriffen haben? Wo liegt Averanche? Ich brauche eine Karte.«
»Hier drüben, Mylord«, sagte Hauptmann Ashby.
Owen sah Horwath ratlos an, zuckte die Schultern und unterdrückte ein Lachen. Ashby brachte die Karte, und mehrere Männer drängten sich um das kostbare Dokument und suchten die Stadt Averanche.
Owen vertrieb sie und winkte Farnes und Horwath zu sich. Zusammen studierten sie das Werk des Kartografen. Sie wussten nur wenig über Okzitanien und seine Städte und Herzogtümer. Die Häfen an der Küste waren eingezeichnet, aber über das Landesinnere war kaum etwas bekannt. König Severn beschäftigte ein Heer von Kartografen, und das Espion verfügte über die genauesten Karten von allen, doch sie wurden gehütet wie Staatsgeheimnisse. Owen konnte Averanche nicht finden.
»Was soll’s, Farnes, bringt sie rein, sie sollen uns zeigen, wo es liegt«, meinte Owen und klopfte dem Herold auf die Schulter. Farnes lachte in sich hinein und schob sich durch die Versammelten zurück nach draußen.
Owen sah die Hauptleute an, die sich in dem Zelt drängten. »Brecht das Lager ab«, befahl er. »Tauscht die Wachen aus, und bereitet Euch auf den Aufbruch vor. Wartet auf Befehl.«
»Jawohl, Mylord«, sagte Hauptmann Ashby. Er und die anderen strömten aus dem Zelt und ließen Owen und Lord Horwath allein.
»Ich mag kein Gedränge«, brummte Owen. »Jeder hat irgendein Anliegen. Man findet keinen Moment Ruhe. Was haltet Ihr von dieser Entwicklung?«
Horwath blickte nachdenklich auf die Karte. »Zwischen unseren Reichen kommt es seit langer Zeit immer wieder zum Krieg. Dieses Averanche könnte sich als Festung nützlich erweisen. Vor Jahren haben wir Callait in Brugia erobert, und es ist bis heute eine strategisch wichtige Hafenstadt für uns. Ich vermute, der Bürgermeister hat nicht genug Männer, um seine Stadt zu verteidigen. Die wenigen, die ihm zur Verfügung standen, sind womöglich letzte Nacht mit dem königlichen Heer geflohen. Es ist wie Wizar. Ihr habt gerade einen wichtigen Zug gemacht, den Euer Gegner nicht erwartet hatte. Jetzt ist er angreifbar, und beide Seiten wissen es.«
Farnes brachte den Bürgermeister von Averanche ins Zelt, einen kleinen, stämmigen Mann mit fahler Gesichtsfarbe und einer Halbglatze, auf der Schweiß schimmerte. Nach einer kurzen, förmlichen Vorstellung erfuhr Owen, dass Averanche nicht weit entfernt lag, ein Stück in Richtung Küste und direkt an der Grenze zu Brythonien. Die Stadt samt Burg lag auf einem Gebiet, das lange Zeit zu Ceredigion gehört hatte, und der Bürgermeister war nur zu bereitwillig, Übernahmebedingungen auszuhandeln.
Noch am Nachmittag desselben Tags lief Owen mit dem Bürgermeister von Averanche über die Befestigungsmauern der Burg und sah, wie die Flagge mit den drei goldenen Hirschköpfen auf dem diagonalen blauen Streifen im Wind flatterte. Es fühlte sich unwirklich an, so viel stand fest, und Owen traute der Gastfreundschaft der Stadtbevölkerung nicht und hatte seinen Männern strikt untersagt, zu trinken oder zu lärmen. Seine Soldaten patrouillierten die Straßen und machten sich mit den Verteidigungsanlagen vertraut, und alle waren bereit, beim kleinsten Anzeichen davonzureiten, sollte der König von Okzitanien versuchen, zusammen mit den ursprünglichen Verteidigern der Stadt zurückzukehren. Doch Letzteres war unwahrscheinlich, wenn den Nachrichten zu trauen war, die Owen den ganzen Tag über erreicht hatten. Chatriyon war in seinem Stolz verletzt und schmollte, weil ihn ein jüngerer Mann geschlagen hatte.
Von den Verteidigungsmauern aus blickte Owen auf grüne Täler und Gehöfte. In der Ferne sah man die glatte graue See, doch das Rauschen der Brandung drang nicht bis zu ihnen. Vor der Küste lag eine Insel mit einer Festung.
»Was ist das da drüben?«, fragte Owen den Bürgermeister und deutete über das Wasser.
»Verzeihung? Oh, das ist der Tempel Unserer Herrin von Toussan. Es ist ein altes Bauwerk, der wichtigste Tempel Brythoniens. Besucher können es nur einmal am Tag erreichen, bei Ebbe. Sonst ist es von Wasser umgeben. Es ist die letzte Bastion Brythoniens, unserer Nachbarn. Vom Turm aus sieht man besser. Möchtet Ihr hinaufsteigen?«
»Nein«, sagte Owen und blieb stehen, um sich den Tempel anzusehen. Er war deutlich größer als der Tempel Unserer Herrin der Quelle von Königsfall, der auch auf einer Insel stand, wenngleich einer viel kleineren inmitten eines Flusses. Diese Insel ragte aus dem Meer. Es war schwer zu erkennen, wo der Tempel endete und die Insel begann. Die Mauern reichten bis zum Wasser hinunter, wo Boote festgemacht waren. Owen fragte sich, wie man einen solchen Ort erobern konnte.
»Was könnt Ihr mir über die Herzogin von Brythonien sagen?«, fragte Owen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Nun, sie entstammt einer alten Familie, Mylord«, erklärte der Bürgermeister. »Das Haus Montfort herrscht seit Langem über Brythonien. Ihr Vater starb vor sechs Jahren, als sie elf war. Ihr Volk lässt sich nur von den Montforts regieren, ungeachtet dessen, dass sie ein Mädchen ist. Es ist … ein eigensinniges Volk, Mylord. Äußerst stur.«
»Sehr schön, jetzt weiß ich etwas über ihr Volk. Doch wie steht es mit ihr selbst?«
Der Bürgermeister schien einen Moment nachzudenken. »Nun, ich bin ihr nur selten begegnet, Mylord, ich kann Euch nichts über ihren Charakter sagen. Sie war zwölf, als ich sie das letzte Mal sah. Sie soll sehr schön sein, dem Vernehmen nach. Ist Mylord … interessiert, sie besser kennenzulernen?«
»Bei der Quelle, nein!«, lachte Owen. Sein Herz gehörte einem Wassergeist aus dem Norden, da war kein Platz für jemand anderen.