Anselm Grün



Schönheit

Eine neue Spiritualität der Lebensfreude






Vier-Türme-Verlag

Einleitung

Zwei Aspekte haben meine Spiritualität bisher geprägt: Da war einmal der Aspekt, dass Gottesbegegnung immer auch Selbstbegegnung voraussetzt. Oft habe ich – in der Nachfolge der frühen Mönche – darüber geschrieben, wie man die eigenen Gefühle, Gedanken, Leidenschaften und Emotionen beobachtet und sie im Gebet Gott hinhält, damit sie verwandelt werden.

Der andere Aspekt war die therapeutische Dimension der Spiritualität. Jesus hat seine Jünger ausgesandt, um Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben. So habe ich die heilende Kraft biblischer Texte, kirchlicher Rituale und spiritueller Übungen meditiert und beschrieben. Mir war es wichtig, dass in meinen Büchern etwas von dieser heilenden Kraft Jesu spürbar wird.

Über das Thema Schönheit habe ich noch nie geschrieben. Vielleicht wundern sich Leserinnen und Leser darüber, dass ich mich nun mit diesem Thema beschäftige. Zunächst war die Beschäftigung eher zufällig. Ich sollte eine Fastenpredigt halten mit dem Thema »Schönheit und der Charme des Glaubens«. Bei der Vorbereitung dieser Predigt ist mir aufgegangen, wie heilsam dieses Thema für mich selbst ist und wie sehr es meine Spiritualität bereichert. Denn wenn ich über Schönheit nachdenke und Schönes bestaune, so entspricht das der kontemplativen und mystischen Spiritualität. Ich schaue das an, was ist. Ich lasse mich berühren von dem Schönen, das mir in der Natur, in der Kunst und im Menschen begegnet. Ich empfange das Schöne, das mir vorgegeben ist. Und in diesem Schönen erahne ich die Urschönheit Gottes, von der die Mystiker schreiben.

Es ist also eine Spiritualität, in der die Gnade im Mittelpunkt steht und nicht das eigene Tun. Ich nehme das Schöne wahr, und ich spüre, wie es mir guttut, wie heilend es auf mich wirkt. Die Beschäftigung mit dem Schönen entspricht also auch meiner therapeutischen Spiritualität. Das Schöne, das ich bestaune, von dem ich mich ergreifen lasse, bringt mich in Berührung mit meiner eigenen Schönheit, mit der Schönheit auf dem Grund meiner Seele.

Aber das Schöne bringt noch einen anderen Zug in meine Spiritualität. Es ist eine empfangende Spiritualität und eine optimistische Spiritualität. Sie klingt nicht nach Arbeit wie etwa die asketische Spiritualität. Sie lässt sich vom Schönen überraschen. Allerdings verlangt auch diese Spiritualität unser Tun. Denn es braucht Achtsamkeit, um das Schöne wahrzunehmen. Und es bedarf unserer Ehrfurcht. Ohne Ehrfurcht verbirgt sich das Schöne vor unseren Blicken. Die Spiritualität der Schönheit ersetzt auch nicht die anderen Formen der Spiritualität. Aber sie ergänzt sie und gibt ihnen einen Geschmack von Freude und Liebe. Denn wie Thomas von Aquin sagt:

Pulchra sunt quae visa placent. Schön ist das, was als Erschautes gefällt.

Das Schöne gefällt, erfreut. Und das Schöne ruft Liebe hervor. Aber das Schöne ist nicht ein moralischer Appell, dass wir einander lieben sollen. Es weckt vielmehr die zweckfreie, noch nicht auf irgendein »Objekt« gerichtete Liebe in uns. Im Schönen – so lesen wir bei Simone Weil – begegnet uns das zärtliche Lächeln Jesu.

Aber wir bestaunen und bewundern nicht nur das Schöne, das uns von außen begegnet und in dem uns letztlich Gottes Urschönheit anlächelt. Wir können auch Schönes herstellen. Wir können den Tisch schön decken, das Zimmer für unsere Gespräche schön herrichten, uns schön anziehen und im Handwerk oder in der Kunst schöne Dinge schaffen. Wir können das Leben schöner machen. Wir begegnen nicht nur der schönen Schöpfung. Wir sind auch selbst Schöpfer des Schönen. Wir können diese Welt schön machen, in ihr eine Spur der Schönheit eingraben. Und damit können wir einen wesentlichen Beitrag leisten zur Humanisierung der Welt, aber auch zur gesundheitlichen Vorsorge für die Menschen. Denn das Schöne bringt den Menschen in Berührung mit dem Heilen und Schönen in seiner Seele. Das Schöne ist heilsam für unsere Seele.

Bei dieser Beschäftigung mit dem Schönen hat mich ein Wort von Dostojewski besonders berührt:

Schönheit wird die Welt retten.

Dieses Wort ist mir begegnet in einem Buch über Dostojewski, das die litauische Autorin Zenta Maurina vor dem Zweiten Weltkrieg verfasst hat. Darin hat sie ein eigenes Kapitel über die Schönheit bei Dostojewski geschrieben. Dieses Wort hat mich bei der Lektüre vieler Bücher, aber auch im eigenen Suchen nach dem Sinn und der spirituellen Bedeutung der Schönheit begleitet. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie das Schöne auf mich wirkt, was es mit meiner Seele und mit meinem Leib macht. Und ich habe festgestellt, dass das Schöne wie ein Zufluchtsort der Seele ist, an dem sie mitten in den Turbulenzen dieses Lebens ausruhen kann.

Wenn ich über das Schöne schreibe, dann möchte ich nicht in Ästhetizismus flüchten. Ich möchte das Schöne mitten in der Realität dieser Welt anschauen. Für mich ist die Hinwendung zum Schönen eine Rückgewinnung des Trostes in unserer irdischen Existenz mit all den Bedrohungen und Gefährdungen, denen wir ausgesetzt sind. Gerade wenn ich mich ganz der Arbeit an dieser Welt verschreibe, brauche ich das Schöne als Zufluchtsort der Seele und als Trost mitten in all der Trostlosigkeit, der ich in den Gesprächen mit Menschen manchmal begegne.

Beim Schreiben dieses Buches war ich immer offen für alles, was mir an Schönem begegnete, aber auch für das, was andere Autoren über das Schöne geschrieben haben. Dabei habe ich festgestellt, dass ich selbst dieses Thema bisher vernachlässigt habe. Auch in der christlichen Spiritualität steht dieses Thema nicht im Mittelpunkt. Es gibt zwar einige Theologen, die darüber geschrieben haben, etwa Hans Urs von Balthasar in seinem großen Werk Herrlichkeit. Aber seine Sprache vermag nicht die vielen suchenden Menschen für das Schöne zu begeistern. Es ist eine theologische Sprache, die nur gebildete Theologen letztlich verstehen. Karl Rahner, über den ich promoviert habe und den ich als Theologen sehr schätze, hat nichts über die Schönheit geschrieben. Das Thema war außerhalb seines Horizontes, so wie es lange auch außerhalb meines eigenen Denkens war. Es gibt einige evangelische Theologen, die über das Schöne geschrieben haben: Rudolf Bohren, Karl Barth und Matthias Zeindler. Aber in ihren Schriften vermisse ich die optimistische Sicht, mit der etwa die Philosophen der Antike und die Theologen des Mittelalters auf das Schöne blickten. Die evangelischen Theologen sind sehr stark auf die Schuld fixiert, die unsere Beziehung zum Schönen verfälscht.

Wenn ich mich mit einem Thema beschäftige, bin ich immer sensibel, wenn das Thema im Gespräch aufscheint oder wenn ich in Zeitungen oder Zeitschriften etwas dazu lese. Sobald ich auf die Frage, worüber ich gerade schreibe, antwortete, es ginge um die Schönheit, ergab sich immer ein lebhaftes Gespräch. Und ich spürte, dass es ein Thema ist, das viele bewegt, und zwar auf unterschiedlicher Ebene. Für manche, die sonst eher Probleme mit der Kirche oder mit dem christlichen Glauben haben, ist das Schöne der Ort, an dem sie Gott erfahren oder zumindest offen sind für die Spur, die Gott in die Welt eingegraben hat. So ist das Schöne heute in unserer säkularisierten Welt der Ort, an dem wir uns über Glauben und Unglauben unterhalten können. Für viele kann es ein weltlicher Zugang zur Spiritualität sein. Andere haben sich schon theologisch und philosophisch mit dem Thema auseinandergesetzt. Ich war erstaunt, wie viele sich mit diesem Thema schon gedanklich beschäftigt haben. Wieder andere bewegt das Thema Schönheit in Bezug auf das eigene Aussehen. Und sie erzählen mir, welche Erfahrungen sie in ihrem Bekanntenkreis mit dem Streben nach Schönheit gemacht haben, wie die Sehnsucht nach Schönheit da oft zu krankhaften Verhaltensweisen führt.

Bei meiner Suche fand ich im Magazin der Barmer Ersatzkasse einen Artikel mit dem Thema »Was ist schön?«. Da geht es einmal um die Sehnsucht der Menschen, schön zu sein, und um die verschiedenen Schönheitsideale. Vor allem aber geht es um das Thema, das die Krankenkasse interessiert: die zahlreichen Schönheitsoperationen, zu denen die Sehnsucht nach Schönheit heute viele drängt.

Viele Menschen sind heute der Meinung, Schönheit sei machbar. Männer und Frauen wollen einem ganz bestimmten Schönheitsideal entsprechen. Ärzte und Psychologen stellen fest, dass heute immer mehr Menschen unzufrieden sind mit ihrem Körper. Der Grund ist, dass Medien und natürlich auch Kosmetikfirmen und die Schönheitschirurgie das Schönheitsideal so eng fassen,

dass kaum jemand von Natur aus optisch optimal und formvollendet hineinpasst.

BEK 3/2012, 28

Viele meinen, die äußere Erscheinung entscheide über Erfolg im Beruf und bei der Partnersuche, über Anerkennung in der Gesellschaft. Und so gehen viele Männer und Frauen aggressiv mit ihrem Körper um, ohne dass sie die Risiken einer Schönheitsoperation bedenken. Und viele sind nach der Operation unzufrieden, weil das Ergebnis doch nicht so ist, wie sie es erwartet haben.

Das gilt vor allem für Eingriffe im Gesicht. Das Gesicht wird durch eine Operation oft maskenhaft starr. Und so ein starres Gesicht wird vom sozialen Umfeld nicht als attraktiv wahrgenommen. Das schöne Gesicht lebt, es zeigt Emotionen, Reaktionen und Stimmungen. Und so erreichen Schönheitsoperationen oft gerade das Gegenteil von dem, was erwartet wurde. Sie führen nicht zu mehr Annahme, sondern zu Ablehnung. Eine fast tragische Situation.

Der Artikel im Gesundheitsmagazin der Krankenkasse zeigt, wie stark heute die Sehnsucht nach Schönheit ist. Aber zugleich wird darin sichtbar, dass man Schönheit allzu sehr mit äußerem Aussehen verbindet, mit klaren Maßstäben, wie ein schöner Körper auszusehen hat. Schönheit ist jedoch mehr als die äußere Erscheinung. Ein Körper ist schön, wenn sich eine schöne Seele darin ausdrückt. Und letztlich ist ein Mensch schön, wenn er sich liebevoll anschaut. Denn das Wort »schön« hängt auch mit dem Wort »schauen« zusammen. Schönheit hat immer auch mit Liebe zu tun. Nur wer sich selbst liebevoll anschaut, ist schön. Wer sich selbst hasst, ist hässlich.

Das gilt auch für die Beziehung zu anderen: Wer andere hasst, macht sie hässlich und wird selbst dabei hässlich. Und wer andere liebevoll anschaut, der entdeckt ihre Schönheit. Die Schönheit ist im anderen. Aber sie braucht auch eine Bereitschaft von unserer Seite, diese Schönheit wahrzunehmen. Und die eigentliche Bedingung, um Schönheit im anderen wahrzunehmen, ist die Liebe, der liebevolle Blick auf ihn.

In diesem Buch möchte ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mitnehmen auf meine eigene Entdeckungsreise. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie das Schöne, das Sie ja immer schon wahrnehmen und dem Sie immer schon begegnet sind, noch bewusster wahrnehmen. Ich wünsche Ihnen, dass die Beschäftigung mit dem Schönen für Sie ein spiritueller Weg wird. Denn im Schönen begegnen wir letztlich der Schönheit Gottes. Im Schönen spricht uns Gott an, der nach Vollendung seiner Schöpfung gesagt hat:

Es war alles sehr schön.

Genesis 1,31

Oft wird dieses Wort so übersetzt: »Es war alles sehr gut.« Doch das hebräische Wort »tob« kann auch »schön« bedeuten. Und die Griechen haben es mit »kalos« (schön) übersetzt. So wünsche ich Ihnen, dass Sie sich im Schönen von Gott selbst berühren lassen. Im Schönen berührt uns immer schon ein Gott, der Liebe ist. Aber Schönheit kann auch erschrecken. Es ist ein Gott, der uns erschüttert, der uns durch das Schöne bis ins Mark trifft und aufbricht für etwas, das größer ist als wir, das uns über uns hinausführt. So ist das Schöne ein Ort der Gotteserfahrung, aber zugleich ein Ort der Ermutigung zum Leben, ein Ort des Trostes und der Heilung unserer Wunden.