Die Fluchtafel

 

 

 

Band 9

 

Die Fluchtafel

 

von Ernst Vlcek, Christian Montillon und Dario Vandis

 

 

© Zaubermond Verlag 2012

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen.

Ihr Vater sieht mit Entsetzen, wie sie den Ruf der Zamis-Sippe zu ruinieren droht. Auf einem Sabbat soll Coco deswegen zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut, und das Verhältnis zwischen ihm und der Zamis-Sippe ist fortan von Hass geprägt.

Coco allerdings interessieren die Intrigen ihrer Familie wenig. Sie würde sich aus den Angelegenheiten der Schwarzen Familie am liebsten vollständig heraushalten. Und der Lauf der Ereignisse gibt ihr Recht. Als ihr Vater Michael Zamis den Aufstand gegen Asmodi probt, gerät die Zamis-Sippe prompt in große Schwierigkeiten, aus denen nur Coco sie wieder befreien kann. Die junge Hexe rettet ihrem Bruder Georg das Leben, als er auf der Teufelsinsel Asmodis dem sicheren Tod ins Auge schaut.

Von da an sieht zumindest Georg seine jüngste Schwester mit anderen Augen. Ohnehin ist Georg der einzige in ihrer Sippe, dem Coco ansatzweise vertrauen kann. Gleichzeitig weiß sie jedoch, dass auch Georg der Schwarzen Familie fest verbunden ist und ihre Andersartigkeit höchstens toleriert, sie nicht aber versteht. Mit ihrem Vater Michael Zamis dagegen steht es noch schlimmer. Er bringt, um Asmodi nach dem gescheiterten Putsch zu besänftigen, Coco als Bauernopfer dar. Sie wird nach Südamerika unter die Obhut ihres Großonkels Enrique Cortez verbannt. Doch damit ist Coco nur für kurze Zeit »aus dem Weg geschafft«. Nach ihrer Rückkehr nach Wien deckt sie eine Verschwörung auf: Skarabäus Toth, der scheinbar so ehrenwerte Advokat und Schiedsrichter der Schwarzen Familie, hat eine Armee von Toten hinter sich versammelt, um Asmodi den Thron streitig zu machen. Doch ehe Coco anderen von ihrer Entdeckung berichten kann, versetzt Toth ihren Geist in eine der lebenden Leichen. Coco gelingt es nur durch eine aufwendige Prozedur, sich im letzten Augenblick in ihren eigenen Körper zu retten. Doch als sie zu ihrer Familie zurückkehrt und von ihren Abenteuern berichtet, zuckt ihr Vater nur die Schultern. Coco bleibt weiterhin das weiße Schaf der Familie – daran wird auch das Abenteuer mit Tatau wenig ändern ...

 

 

 

 

Erstes Buch: Tatau

 

 

Tatau

 

von Ernst Vlcek

 

1. Kapitel

 

Über der armseligen Hütte schwebte der Tod. Alle ahnten es und fürchteten sich, aber keiner wollte es wirklich wahrhaben. Sie hofften alle, dass der Zauber von Papa Legba stark genug wäre, das tödliche Unheil abzuwenden.

Das Vertrauen der Leute in seine Magie ehrte Papa Legba, er wollte auch alles geben. Aber je länger es dauerte, desto mehr schwand seine Hoffnung auf einen guten Ausgang der Sache.

Als man in der Abenddämmerung zu ihm gekommen war, um ihn zu Hilfe zu holen, war er noch voller Zuversicht gewesen.

Ariste Puirré, der Jüngste einer siebenköpfigen Familie, war vor seiner Klause aufgetaucht und hatte verzweifelt nach ihm gerufen.

»Was soll der Krawall?«, hatte sich Papa Legba aufgeregt und war vor die Hütte getreten. Er war verärgert über die Belästigung und wollte dem Störenfried seine Meinung sagen. Aber dann sah er, dass der Junge sich im Zustand höchstgradiger Hysterie befand und ersparte sich weitere Zurechtweisungen.

»Was gibt es, dass du dich aufführst wie ein gerupfter Hahn?«, erkundigte er sich bei Ariste Puirré.

»Eleonore, meine ältere Schwester, ist besessen«, sprudelte es aus dem Jungen hervor. »Wir haben alles Mögliche versucht, um sie zu beruhigen. Aber es wird immer schlimmer mit ihr. Wir wissen uns nicht mehr zu helfen. Du musst kommen, Papa Legba, und den bösen Geist aus ihr austreiben. Sie sieht schrecklich aus … Ihr Körper ist schon fast ganz eingehüllt in dieses Zeug … Es wird sie noch verschlingen. Du musst kommen Papa Legba, sofort … bitte!«

»Was meinst du mit dem ›Zeug‹, das sie angeblich verschlingen wird?«, wollte Papa Legba wissen.

Ariste Puirrés Augen standen schreckensweit offen, sein Adamsapfel hüpfte ausgeregt, und er zerrte verzweifelt an Papa Legbas Hand, als er aufgeregt berichtete:

»Ihr Körper ist von etwas eingewoben, das wie eine Tätowierung aussieht. Aber das hat sie sich nicht machen lassen. Es ist über sie gekommen. Und das, was wie eine Tätowierung aussieht, scheint zu glühen … und es wird ihren Körper verbrennen, wenn du sie nicht rettest. Komm. Bitte, sofort.«

»Ich komme ja schon«, sagte Papa Legba und befreite sich aus Aristes Griff. »Ich muss mich aber noch ausrüsten.«

Papa Legba verschwand kurz in seiner Hütte und raffte einige Utensilien zusammen, die er zu benötigen glaubte. Er würde es, nach Aristes Aussage, mit einer magischen Tatauierung zu tun haben. Es hatte in letzter Zeit mehrere solcher Fälle gegeben. Und sie hatten alle tragisch geendet. Papa Legba legte sich ein paar verschieden starke Nadeln zurecht, ein paar Farbtiegel und den Beutel mit Dämonenbannern. Dann verließ er die Hütte und folgte Ariste Puirré.

»Wirst du Eleonore helfen können?«, plapperte Ariste drauflos und versuchte, seinen Schritt zu beschleunigen, aber Papa Legba behielt seine gemäßigte Gangart bei. Es war gewiss Eile geboten, aber er wollte nichts überhasten. Er brauchte eine entsprechende Vorbereitungsphase, um sich geistig auf die zu erwartende Situation vorzubereiten. »Eleonore ist das Liebste, das wir haben. Sie ist unser Sonnenschein, so voller Lebenslust und Temperament. Ihr darf nichts passieren …«

Papa Legba hörte nicht länger hin. Er überlegte sich, welche Chancen er hatte, die Besessene zu heilen. Magische Tätowierungen deuteten darauf hin, dass es sich um das Werk von Tatau handelte, einem Dämon, der in letzter Zeit wieder verstärkt wirkte. Es würde schwer sein, gegen ihn anzukommen und ihm sein Opfer, die liebliche Eleonore, zu entreißen.

Schon von weitem waren die entsetzlichen Schreie zu hören. Es war klar, dass sie von einem Menschenkind in höchster Not stammten. So schrie nur jemand, der unsägliche Qualen ertragen musste.

»Hörst du das, Papa Legba?«, brach es aus Ariste hervor. Er begann hemmungslos zu schluchzen. »Das ist Eleonore. Sie leidet Höllenqualen.«

Sie erreichten die armselige Hütte, in der sich sieben Menschen auf engstem Raum drängten. Papa Legba sammelte sich ein letztes Mal, dann trat er ein.

Es brannte nur eine Kerze in dem Raum mit einem Bett. Darauf lag rücklings ein nacktes Mädchen, das ihren Körper immer wieder aufbäumte und dabei markerschütternd schrie. Sie war an Armen und Beinen an die Bettpfosten gefesselt, und ihr Körper war blutbesudelt. Papa Legba sah, woher das Blut stammte. Der geköpfte und ausgeblutete Hahn lag noch neben dem Bett. Die Eltern des geschundenen Mädchens sahen ihm aus verweinten, geröteten Augen entgegen. Ihre Münder bewegten sich unter den gemurmelten Beschwörungsformeln.

»Wascht eure Tochter«, befahl Papa Legba ihnen. »Das Hahnenblut brennt ihren Körper nur noch rascher aus. Ich muss die Tätowierungen sehen können.«

Die Eltern kamen seinem Wunsch augenblicklich nach und versuchten, den Körper ihrer tobenden Tochter zu bändigen, um ihn vom Hahnenblut reinigen zu können. Als Eleonores Haut endlich von allen Blutspuren gesäubert war, konnte Papa Legba das ganze Ausmaß des Unheils erkennen.

Es war kaum mehr ein Flecken von Eleonores Haut frei. Sie war über und über tätowiert. Die in dunklen, düsteren Farben gehaltenen Tätowierungen schienen von innen her in einem eigenartigen Feuer zu glühen. Und sie bewegten sich. Sie krochen wie Schlangen über den Körper des Mädchens auf unergründlichen Pfaden, vereinten sich zu immer neuen Knäueln und bildeten auf diese Weise immer neue Muster. Man konnte fast alles in diese ornamentartigen Formen hinein interpretieren. Aber wie man sie auch auslegte, es wurden ausschließlich Bilder des Schreckens.

Eleonores wurde von den Tätowierungen ihres ausgemergelten Körpers gepeitscht. Obwohl sie nahe der Erschöpfung schien, bäumte sie sich immer wieder aus, wollte um sich treten und schlagen. Wären die Fessel nicht gewesen, wäre sie gewiss durch den Raum gerast und hätte alles attackiert, was sich bewegte. Sie erkannte ihre Eltern und Geschwister längst nicht mehr. Sie war durch und durch besessen. Der Dämon Tatau hatte sie fest in seiner Gewalt und würde sie erst loslassen, bis sie ihr Leben ausgehaucht hätte … Wenn ihr nicht geholfen werden konnte.

»Was wirst du tun, um unsere geliebte Tochter von dieser Tortur zu erlösen?«, fragte die Mutter mit tränenerstickter Stimme, zwischen den einzelnen Worten immer wieder aufschluchzend.

»Feuer mit Feuer bekämpfen«, sagte Papa Legba entschlossen und holte die Tätowierungsnadeln und die Farben hervor.

Das Mädchen hatte nur eine einzige Chance. Papa Legba musste die bösartigen Tätowierungen mit entgegengesetzt wirkenden, heilbringenden Tätowierungen bekämpfen. Das hieß, dass sie zusätzliche Schmerzen über sich ergehen lassen musste. Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Papa Legba betastete den Bauch des Mädchens mit sensiblen Fingern. Dieser hob und senkte sich ruckartig. Papa Legba spürte, wie es im Bauch des Mädchens rumorte, so als sei sie schwanger. Doch das war keine reine Lebensfrucht, was da in ihr tobte. Es war ein dämonisches Geschwür, das entfernt werden musste.

Eleonore schrie unter seiner Berührung röchelnd auf. Sie hatte kaum mehr die Kraft zu spüren. Papa Legba nahm in jede Hand eine Nadel, tauchte eine in die Farbe rot und die andere ins Grün. Rot und Grün! Das waren starke positive Kontraste zu der Düsternis, in der ihr Körper gebadet wurde.

Eleonore bäumte sich plötzlich wieder auf, als ahne das Dämonische, das sie in sich trug, was nun passieren sollte.

»Drückt sie ins Bett«, trug Papa Legba den Eltern auf. »Haltet sie fest, damit ich ihr nicht unnötige Schmerzen zufüge.«

Der Vater kam der Aufforderung sofort nach. Aber die Mutter war außerstande, irgendwelche sinnvollen Handlungen auszuführen. Für sie sprang Ariste ein, und gemeinsam mit dem Vater gelang es ihm, Eleonore still zu halten.

Papa Legba arbeitete schnell. Schneller als das Auge folgen konnte, piekte er mit beiden Nadeln auf den Bauch des Mädchens ein. Rot und Grün! Langsam begann sich ein Muster abzuzeichnen, das Papa Legbas Nadeln hinterließen. Es war das Symbol für Heiliges Herz. Als es vollendet war, begann er mit flinken Fingern das Zeichen für Gnädiger Schöpfer zu formen.

Eleonore kam zur Ruhe. Noch war es nicht überstanden, aber es schien, dass Papa Legbas Gegenzauber, die dämonischen Kräfte, die das Mädchen beherrschten, zum Erlahmen brachten.

»Ihr könnt sie loslassen«, sagte Papa Legba zu Vater und Sohn. »Eleonore wird sich jetzt beruhigen und einschlafen.«

Das Mädchen hatte die Augen geschlossen. Es atmete ruhig, gab keine gequälten Laute mehr von sich.

Papa Legba arbeitete rasch weiter. Seine Nadeln hatten Eleonores Bauch bereits von den dämonischen Tätowierungen befreit. Es schien alles gut zu laufen.

Da passierte es. Kaum hatten Vater und Sohn das Mädchen losgelassen, da bäumte es sich ruckartig auf. Dabei entwickelte sie übermenschliche Kräfte, denn es schien ihr keine Mühe zu bereiten, ihre Fesseln zu sprengen.

Papa Legba zuckte erschrocken zurück. Aber dann war er wie gelähmt. Denn er sah, wie sich die Tätowierungen von der Haut des Mädchens zu lösen begannen. Die Schlangen und Ungeheuer wurden frei. Aus Eleonores aufgerissenem Mund kamen Schwaden von Rauch. Diese trieben auf die in der Luft schwebenden Tätowierungen zu und vereinten sich mit ihnen zu neuen Schreckensgestalten.

Papa Legba fand die Sprache wieder. »Lauft, lauft, lauft!«, schrie er die Familienmitglieder an. »Flieht, so schnell ihr könnt. Es geht um euer Leben.«

Aber seine Warnung kam zu spät. Bevor noch irgendeiner im Haus die Schreckensstarre ablegen konnte, fielen die zu schaurigem Leben erwachten Tätowierungen über sie alle her. Sie saugten dem Vater und der Mutter das Leben aus und ließen erst von ihren Überresten ab, als sie ausgetrocknet und wie mumifiziert waren. Und die dämonischen Tätowierungen der Besessenen stürzten sich auf Eleonores vier Geschwister und rissen sie förmlich in Stücke. Als Nächstes fiel ihnen Papa Legba zum Opfer. Er erlebte seinen Tod in dem vollen Bewusstsein darüber, was mit ihm passierte. Sein Körper welkte in dem Wissen dahin, dass sich der Dämon Tatau an seiner Lebenskraft delektierte, bis nichts mehr davon vorhanden war.

Zuletzt kehrten die Tätowierungen in Eleonore zurück und erloschen erst, als auch ihr letzter Funke Leben erloschen war.

In der armseligen Hütte sah es danach aus wie nach einem furchtbaren Gemetzel.

 

 

2. Kapitel

 

Das Schlimmste war für mich überstanden. Ich hatte gerade noch, sozusagen in letzter Sekunde, meinen Körper wiederbekommen. Aber kaum war ich heimgekehrt, da hatte Vater nichts anderes zu tun gehabt, als mir eine Standpauke zu halten. Ich fasste es nicht! Von wegen, dass ich mit meinen Kapriolen die Familie nie wieder – nie mehr wieder – in Schwierigkeiten bringen dürfe, sonst … Und davon hatte ich geträumt. Aber auf einmal bekam mein Vater das Gesicht eines Wilden. Und der sagte zu mir:

»Du gehörst mir. Du wirst tun, was ich von dir verlange … oder ich fresse dich auf!«

Damit endete der Traum, und ich wachte schweißgebadet auf. Meine Brust schmerzte. Von ihr ging ein Feuer aus, das durch den ganzen Körper raste. Ich wand mich unter furchtbaren Krämpfen, schlug mich selbst, um das Feuer zu ersticken. Es half nichts. Ich brannte so lange, bis irgendjemand dort draußen mich nicht mehr brennen ließ.

Ich lag danach noch eine Weile da, um mich zu sammeln, das Brennen meines Körpers abklingen zu lassen. Was passierte da schon wieder mit mir? Wer war ich denn? Etwa eine normale Sterbliche, mit der dunkle Mächte beliebig ihre Spielchen treiben konnten? Verdammt noch mal, ich war eine Hexe. Und eine recht talentierte noch dazu, wie man mir zugestand. Wie kam es dann, dass ich von einem Desaster ins andere schlittern konnte? Gottverdammt! Ich war eine Zamis. Eine Tochter eines der mächtigen Clans innerhalb der Schwarzen Familie. Mit mir konnte man nicht herumspringen wie mit irgendeiner Göre.

Aber es passierte. Mit mir geschahen Dinge, schreckliche Dinge, die andere in mehreren Leben nicht über sich ergehen lassen mussten.

Hatte mich irgendjemand ins Visier genommen, um mir das Leben zur Hölle zu machen? Jemand, der sich furchtbar an mir rächen wollte? Skarabäus Toth konnte es wohl nicht mehr sein, denn er hatte sich meiner Familie gegenüber verpflichtet, mich fortan in Ruhe zu lassen. Aber vielleicht Asmodi, der Fürst der Finsternis, der es nicht überwunden hatte, dass ich mich ihm einst verweigert hatte?

Vielleicht war es auch einfach so, dass es gar keinen geheimen Fädelzieher gab, der mein Schicksal knüpfte. Vielleicht war alles nur Zufall, eine Verkettung unglücklicher Umstände.

Ich musste dennoch dahinterkommen, wer da glaubte, sich meiner als Sklavin bedienen zu dürfen. Das musste ich schleunigst abstellen. Fragte sich nur, wie.

Nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, stand ich auf und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah zum Kotzen aus. So durfte mich keiner aus meiner Familie sehen. Ich begann mich ein wenig zu schminken und musste ziemlich dick auftragen, um mich einigermaßen hinzukriegen. Aber wenigstens sah ich danach nicht mehr wie eine Untote aus und konnte meiner Familie unter die Augen zu treten.

Ich wollte mich schon ankleiden, als mir einfiel, dass der rasende Schmerz, dieses brennende Feuer, das meinen Körper befallen hatte, von der linken Brust ausgegangen war. Ich betrachtete sie im Spiegel und untersuchte sie, wie es Frauen tun, die Knötchen suchten, die auf Brustkrebs hinwiesen. Aber es waren keinerlei Verdickungen oder Ähnliches festzustellen. Es war eine schön geformte Brust, nur vielleicht für manchen Geschmack etwas zu groß.

Da entdeckte ich das Muttermal an einer Stelle, an der ich noch nie ein Muttermal besessen hatte. Es war ein dunkler Fleck am unteren Brustansatz. Nicht viel größer als ein Fliegendreck. Ich rieb die Stelle, und dabei wurde das, was wie ein Schmutzfleck aussah, glühend heiß. Mir war sofort klar, dass ich damit die Schmerzquelle lokalisiert hatte.

Ich schärfte meinen Blick so gut ich konnte und entdeckte, dass der Fleck ein symmetrisches Muster hatte. Wie eine mikroskopische Zeichnung, die etwas darstellte, das wie ein feuerspeiender Drache aussah.

Die Zeichnung, eher eine Gravur – eine Tätowierung vielleicht –, hätte auch eine geflügelte Schlange darstellen können.

Aber solche Kleinigkeiten waren marginal. Wichtiger war die Frage, wer meinem Körper während meiner Abwesenheit eine solche Tätowierung verpasst hatte.

Wieder fiel mir da nur Skarabäus Toth ein, der Advokat der Schwarzen Familie, in dessen Gewahrsam sich mein Körper befunden hatte. Aber magische Tätowierungen waren nicht sein Stil. Vermutlich ging er mir nur nicht aus dem Sinn, weil er für meine letzte Misere verantwortlich war … Ich hätte mich zu gerne dafür revanchiert.

Aber ich musste das abhaken: Es war gegessen.

Mit einem letzten, prüfenden Blick in den Spiegel – ich konnte mir noch immer nicht gefallen –, verließ ich mein Zimmer und ging nach unten.

 

In der Küche war nur Mutter, die am Herd stand und irgendetwas zusammenbraute. Ich wünschte ihr einen Guten Morgen, und sie erwiderte:

»Es ist bereits nach Mittag.« Sie seufzte und drehte sich mit einem vorwurfsvollen Blick nach mir um. »Was tust du deiner Familie nur an, Coco. Du bereitest mir große Sorgen.«

»Das weiß ich bereits von Pa«, sagte ich, während ich mir Cornflakes in eine Schüssel schüttete und Milch darüber goss. Mutter beobachtete mich dabei, und ihr vorwurfsvoller Blick entging mir nicht.

»Warum nimmst du nichts Ordentliches zu dir?«, meinte sie. »Warum nicht …?«

»Sprich's bitte nicht aus, Ma«, bat ich. »Ich will es erst gar nicht hören. Mir ist übel genug.«

»Ich sehe es. Du siehst aus wie eine Straßendirne.«

Ich sagte darauf nichts, löffelte nur schweigsam meine Cornflakes.

Ich wollte über meine Situation nachdenken. Aber ich hatte keine Chance, denn da kam meine Schwester Lydia herein.

»He, Schwesterherz«, rief sie zur Begrüßung. »Du siehst aus, als wolltest du heute am Gürtel anschaffen gehen. Da komme ich mit. Hurenschaukeln, das wäre mal wieder was zur Abwechslung.«

Ich wusste, dass sich Lydia manchmal ihren Spaß mit Prostituierten machte. Aber ich wollte gar nicht wissen, was »Hurenschaukeln« war und was sie dabei mit ihnen anstellte.

»Ich verbiete mir, dass ihr in meiner Gegenwart so redet«, sagte Mutter zurechtweisend.

»Dann solltest du auch nicht dulden, dass sich Coco so aufdringlich schminkt wie eine …« Lydia ließ das letzte Wort unausgesprochen.

»Lasst mich in Frieden«, sagte ich mampfend.

»Ich bin schon weg«, sagte Lydia.

»Wohin willst du?«, rief Mutter ihr nach.

»Hurenschaukeln«, antwortete Lydia kichernd, und dann war sie verschwunden.

Ich war mit dem späten Frühstück fertig und wollte mich ebenfalls auf den Weg machen. Da kam Georg herein, mein ältester Bruder. Er wirkte müde und abgekämpft. Und ich konnte mir gut vorstellen, dass er sich die Nacht in Dämonenkreisen um die Ohren geschlagen hatte. Aber obwohl er selbst nicht so toll beieinander war, konnte er es sich nicht verkneifen, zu mir zu sagen:

»Du wirkst mehr tot als lebendig, Coco. Leidest du noch sehr unter Nachwirkungen?«

Bevor ich antworten konnte, mischte sich Mutter ein.

»Lass Coco in Frieden, Georg«, sagte sie scheinheilig. »Wahrscheinlich hat sie bloß ihre Tage.«

Ich hätte Mutter dafür würgen können, dass sie dieses Thema aufs Tapet brachte. Aber sie kompromittierte mich mit voller Absicht, weil sie der Meinung war, ich müsste dafür büßen, dass ich der Familie Probleme bereitet hatte. Georg reagierte genau so, wie ich es erwartet hatte – und Mutter wohl auch.

»Was soll das?«, rief er zornig. »Und was bist du für eine Hexe, Coco, die ihre Regel nicht kontrollieren kann?«

»Ich habe keineswegs meine Tage«, erwiderte ich verärgert. »Und ich habe meinen Körper gut im Griff. Im Übrigen ist es meine Sache, was ich damit mache.«

Ich wollte an Georg vorbei, aber er hielt mich an der Hand zurück.

»Da irrst du aber gewaltig, Schwesterchen. Du bist eine Zamis und musst dich an die Familientradition halten. Ich kenne deine geheimen Sehnsüchte. Du kannst nicht so tun, als seist du eine Sterbliche. Vergiss nie, dass schwarzes Blut durch deine Adern fließt.«

Ich wich seinem stechenden Blick aus und wollte mich aus seinem Griff lösen. Er aber hielt mich weiterhin eisern fest.

»Wohin willst du?«

»Mich frisch machen und dann in die Stadt.«

»Und was genau hast du vor?«

Ich hasste es, wenn Georg mich bevormundete, und das wusste er genau. Dennoch war er der Einzige in meiner Familie, dem ich halbwegs vertraute. Darum gab ich nach.

»Ich will Nero besuchen.«

Georg ließ mich los, in der Meinung, meinen Widerstand gebrochen zu haben. Während ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer machte, hörte ich Thekla, meine Mutter, unken.

»Nero hat einen schlechten Einfluss auf das Kind.«

»Ach, was«, hörte ich Georg noch erwidern. »Das ist ein harmloser Freak, der seine Sünden abbüßt.«

Ich war froh, einer weiteren Diskussion entkommen zu sein. Auf meinem Zimmer wusch ich die Schminke ab und fand selbst, dass ich ohne Make-up gesünder aussah. Weil es ein lauer Maitag war, warf ich mir einen Sweater um die Schulter und machte mich auf den Weg.

 

 

3. Kapitel

 

Nero, der eigentlich Norbert Ammerling hieß, war in der Tat ein Freak. Nero wurde er von allen genannt, weil er eine schwarzgefleckte Haut hatte, die ihm durch einen magischen Brand verursacht worden war. Er war zwar wegen irgendwelcher Verfehlungen aus der Schwarzen Familie ausgeschlossen worden, aber von den Zamis wurde er deswegen nicht geächtet. Vater war nämlich der Meinung, dass er von Asmodi zu Unrecht bestraft worden war. Und er war mein spezieller Freund, an den ich mich hin und wieder wenden konnte, wenn mich der Schuh drückte.

Ich hoffte, von ihm etwas über magische Tätowierungen zu erfahren, ohne dass er groß Fragen stellte. Denn eines war sicher, meine Familie durfte ich mit meinen Problemen nicht belasten. Und mein Bruder Georg durfte erst recht nichts von der Tätowierung erfahren, die mich quälte.

Vielleicht stellte sich ja ohnehin alles als halb so schlimm heraus. Aber so recht konnte ich das nicht glauben. Jedenfalls hoffte ich, nach einem Gespräch mit Nero klüger zu sein.

Norbert Ammerling wohnte auch in Hietzing, nur am westlichen Ende des Bezirks, in einer abbruchreifen Villa, deren Besitzer unbekannt waren. Es war kein Geheimnis, dass es ein beliebter Treffpunkt für Freaks war. Sie scharten sich um Nero, als sähen sie in ihm ein Idol, den Retter und Anführer der Ausgestoßenen. Die Schwarze Familie mischte sich in diese Belange selten ein, solange die Freaks keinen Aufstand probten. Es war Nero, der sie zur Mäßigung aufrief und für sie um ein halbwegs menschliches Dasein eintrat.

Obwohl es zu Fuß eine gute Dreiviertelstunde zu Nero war, beschloss ich, den Marsch auf mich zu nehmen. Ich brauchte etwas Bewegung, um mich körperlich zu regenerieren. Am Ziel angelangt, hatten sich meine Sinne halbwegs geklärt, und ich fühlte mich nicht mehr so zerschlagen, wie nach dem furchtbaren späten Morgengruß des Tattoo-Dämons …

Tattoo-Dämon, der Begriff fiel mir spontan ein. Er war überaus treffend, fand ich.

Das Grundstück war total verwahrlost und verwachsen. Niemand hätte in diesem Dickicht ein Gebäude vermutet. Eingegrenzt wurde dieses Stück Wildnis von einer verfallenden Ziegelmauer, die nur noch an wenigen Stellen Verputz aufwies. Es war ein düsterer, für normale Menschen wohl auch unheimlicher Ort. Der geeignete Treffpunkt für Freaks.

Ich betrat das Grundstück durch ein Loch in der Mauer, weil ich wusste, dass das Eingangstor verrostet und zusätzlich durch eine Eisenkette gesichert war. Während ich mir einen Weg durch das Dickicht bahnte und Acht geben musste, nicht in irgendwelche Fäkalien zu treten, ahmte ich das Trällern der Nachtigall nach.

In der Folge war überall um mich Rascheln und das Geräusch eiliger Schritte zu hören. Ich musste schmunzeln, weil dies das untrügliche Zeichen dafür war, dass die Freaks, die Nero um sich versammelt hatte, Reißaus nahmen. Durch das verabredete Zeichen wusste Nero zwar, wer zu ihm kam. Aber Freaks waren scheu, und einer Hexe, egal, wie gut sie ihnen gesonnen sein mochte, wollten sie lieber aus dem Wege gehen.

Nero erwartete mich auf der bröckelnden Treppe vor dem Eingangsportal, dessen beide Torflügel windschief in den Angeln hingen. Er war nur etwas über einen Meter groß und wirkte zusammengestaucht, als wäre er mit einem Hammer auf diese Größe getrimmt worden. So ähnlich verhielt es sich auch, denn die Strafe der Dämonen war es gewesen, ihn von 1,83 Meter auf diese Größe zusammenzupressen – ohne dabei auf seine Proportionen Rücksicht zu nehmen. Außerdem wies seine Haut die besagten schwarzen Flecken auf. Das ebenfalls auf die Hälfte zusammengequetschte Gesicht wirkte wie verkohlt.

Nur die großen Basedowaugen bildeten hell leuchtende Punkte, so groß wie Murmeln.

Auf mich machte er dennoch einen gutmütigen und gemütlichen Eindruck.

»Welch seltener Gast«, rief Nero mir heiter entgegen. »Was führt dich denn zu mir, kleine Hexe? Aber komm erst einmal in die gemütliche Stube. Kann ich dir irgendetwas anbieten?«

Er ging bereits voran, während er sprach, und hatte keinerlei Anstalten gemacht, mich durch Handschlag zu begrüßen. Er vermied Berührungen mit lebenden Wesen grundsätzlich, weil er Angst hatte, sich anzustecken – womit auch immer. Tote Tiere fraß er dagegen mit großer Gier. Am liebsten gebraten.

Wir durchquerten den Salon, in dem aller möglicher Unrat herumlag. Bei der Kellertür angelangt, stieß Nero eine Verwünschung aus.

»Ist ja eklig!«, rief er angewidert aus und beförderte irgendetwas Glitschiges mit einem Fußtritt durch die Luft, dass es hinter einem Berg Schutt landete. »Das stammt von Edgar, dem Schlangen-Freak. Dabei habe ich ihm verboten, sich in meinem Haus zu häuten.«

»Du solltest dir besseren Umgang verschaffen, Nero«, riet ich schmunzelnd, während ich ihm über die Treppe in den Keller folgte.

 

Hier unten war Neros eigentliches Reich. Die Einrichtung war bunt zusammengewürfelt, es gab quasi von jedem etwas, was er eben hatte ergattern – oder auch stehlen – können. Er hatte sogar Radio und Fernsehen und liebte Horrorfilme über alles, weil er sich dabei kaputtlachen konnte.

Das Zentrum des Wohnbereichs bildeten zwei gewaltige Ledersofas. Auf eine lümmelte sich Nero, ich nahm ihm gegenüber Platz.

»Schieß los, Coco«, forderte er mich auf.

»Ich möchte, dass du mir Informationen über magische Tattoos beschaffst, Nero«, begann ich. »Ich muss wissen, wer sich ernsthaft damit auseinandersetzt, oder solche Praktiken gar anwendet. Mich interessiert alles zu diesem Thema, wie unglaublich es auch klingen mag.«

Nach dieser Einleitung erzählte ich ihm, was mir heute Morgen widerfahren war. Dann zeigte ich ihm die Stelle unter meiner linken Brust, die ich für eine Tätowierung hielt. Scham war ihm gegenüber überflüssig, denn er war ein Neutrum.

Nero betrachtete den dunklen Fleck, nahm eine Lupe zu Hilfe und kratzte mit einer Pinzette daran herum. Ich verspürte plötzlich große Hitze an dieser Stelle und meinte, meine Brust würde auf einmal zu brennen beginnen. Als ich aufstöhnte, zuckte Nero erschrocken zurück.

»Es hat sich bewegt«, sagte er ungläubig. »Bedeck dich wieder. Ich will es nicht schlimmer machen.«

»Was hältst du davon?«, fragte ich, nachdem ich mein Shirt wieder zurechtgerückt hatte.

»Hm«, machte er nachdenklich. »Aus dem Stegreif kann ich nichts sagen. Ich bin kein Fachmann für solcherart Magie. Aber ich werde mich schlau machen. Ich habe da meine Quellen.«

»Nenne mir eine solche Quelle«, verlangte ich.

Er überlegte kurz, dann sagte er: »Es gibt da einen Tätowierer, der sein Geschäft im Prater betreibt. Er ist ein Zigeuner, ein Sinti, und heißt Ference Emeshi. Ein ziemlich zwielichtiger Geselle, der in magischen Zirkeln verkehrt und auch Schwarze Messen zelebriert. Aber er ist reiner Amateur, kein Mitglied der Familie. Man darf ihm trotzdem nicht über den Weg trauen. Ich könnte versuchen, ihn auszufragen.«

»Danke für den Hinweis, aber das übernehme ich lieber selbst«, sagte ich entschlossen.

»Sei vorsichtig, Coco. Emeshi ist wirklich ein übler Zeitgenosse. Es gibt Menschen, die sind schlimmer als Dämonen.«

»Versteht er sich auf magische Tattoos?«

»Ich weiß es nicht … Könnte sein.«

»Ich werde schon mit Emeshi fertig«, beruhigte ich Nero. »Hör dich du inzwischen weiter in dieser Sache um … bitte!«

Ich erhob mich und wollte gehen. Da erwischte es mich mit voller Wucht. Eine unsichtbare Kraft hob mich in die Höhe, so dass ich den Boden unter den Beinen verlor. Nero wollte helfend nach mir greifen, wurde aber beiseite geschleudert. Eine Weile schwebte ich hilflos in der Luft, dann wurde ich mit voller Wucht auf das Ledersofa geschleudert. Zum Glück fiel ich nicht auf den harten Boden, sonst hätte ich mir das Genick brechen können.

Ich wurde neuerlich von unheimlichen Kräften emporgerissen und durch die Luft gewirbelt. Ich prallte gegen eine der Wände und hörte meine Knochen knirschen. Das wiederholte sich noch ein paarmal. Danach hing ich wie eine Puppe in der Luft und trieb ziellos durch den Raum. Schließlich spürte ich, wie ich losgelassen wurde und zu Boden fiel.

Ich fühlte mich wie gerädert.

Nero beugte sich besorgt über mich und fragte: »War das der Tattoo-Dämon?«

»Ich weiß nicht«, brachte ich über die Lippen. »Mein Körper stand aber diesmal nicht in Flammen.«

Ich wollte aufstehen, brach aber wieder kraftlos zusammen.

»Ich muss …«, begann ich mit zittriger Stimme.

»Gar nichts musst du«, fiel Nero mir ins Wort. »Du bleibst mein Gast, bis du wieder bei Kräften bist.«

Mir war, dass er mich durch den Raum geleitete und mich auf etwas Weiches bettete. Danach wusste ich nichts mehr von mir.

 

 

4. Kapitel

 

Ich erwachte und stieß unwillkürlich einen spitzen Schrei aus. Neros Hand zuckte sofort zurück. Und er krümmte sich schuldbewusst.

Etwas Unglaubliches war passiert. Nero hatte mich gestreichelt!

Der Freak mit den krankhaften Berührungsängsten hatte mich, ein anderes lebendes Wesen, berührt.

Ich lächelte ihn an, um ihm seine Schuldgefühlte zu nehmen. Er sollte nicht glauben, dass er bei etwas Verbotenem ertappt worden war.

»Danke, Nero«, sagte ich, während ich mich aufrichtete. Ich fühlte mich ausgeruht und gut bei Kräften. »Ich glaube, du hast heilende Hände. Du hast das Albdrücken von mir genommen.«

Ich ergriff seine derben Hände, die viel zu groß für seine Proportionen waren, und streichelte sie. Aber er zog sie ruckartig zurück, verbarg sie hinter seinem Rücken und keifte:

»Das soll nicht zur Gewohnheit werden.«

»Schon gut«, beruhigte ich ihn. »Aber im Ernst. Deine Hände scheinen tatsächlich Heilkräfte zu besitzen.«

Er stieß einen verächtlichen Laut aus. »Weiß ich, weiß ich. Warum glaubst du wohl, dass ich tunlichst jeden Kontakt vermeide?«

Ich lächelte ihn weiter an, denn mir war schon klar, dass er nicht so menschenverachtend war, wie er tat.

Er schnaubte wieder. »Du solltest machen, dass du schleunigst von hier verschwindest. Ich erwarte Besuch. Und solange du da bist, traut sich kein Freak in meine Nähe.«

»Ist in Ordnung.« Ich musste Neros Wünsche akzeptieren und wollte seine Gastfreundschaft ohnehin nicht länger in Anspruch nehmen. »Nochmals vielen Dank für alles, was du für mich getan hast.«

»Nicht der Rede wert. Ich werde mich weiter umhören.«

Er geleitete mich bis zum Portal der abbruchreifen Villa und sah mir nach, bis ich im Dickicht verschwunden war. Auf der Straße sah ich mich nach einem Taxi um. Ich wollte in den Prater und Ference Emeshi einen Besuch abstatten. Aber es dauerte eine Ewigkeit, bis ich in dieser gottverlassenen Gegend ein Taxi ergatterte.

»Zum Praterstern«, trug ich dem Fahrer auf.

»Das wird nicht billig«, meinte er anzüglich.

»Fahr schon los, du Sack«, herrschte ich ihn zornig an. Danach gab er keinen Ton mehr von sich, bis wir am Ziel waren.

Er nannte den Fahrpreis. Ich machte keine Anstalten zu zahlen, sondern forderte ihn auf, mich anzusehen. Er drehte sich nach mit um, und ich fixierte ihn mit durchdringendem Blick.

»Ich hab dich gerade bezahlt«, sagte ich eindringlich. »Ist das klar?«

»Ja, in Ordnung … stimmt so …«

Ich stieg aus, und das Taxi fuhr davon. Ich mag es gar nicht, wenn mir Leute, denen ich nichts getan habe, patzig kommen. Nur aus dem Grund, und nicht aus Jux und Laune, hatte ich den Taxifahrer hypnotisiert.

Ich ließ den Taxistandplatz hinter mir, ging vorbei am Planetarium und blickte zum Riesenrad hoch. Es war in Betrieb und drehte sich langsam, wie in Zeitlupe.

Aber sonst war nicht viel los um diese Zeit, die meisten Buden und Ringelspiele hatten geschlossen. Ein Autodrom war in Betrieb. Ein junger Bursch kutschierte mit einem der Elektromobile herum und steuerte es im Stehen. Er entdeckte mich und rief mir Aufforderungen zu, mich ans Steuer zu setzen. Ich ignorierte ihn, ging weiter. Die Kassiererin plärrte hinter mir über Lautsprecher ihren Monolog an eine Kundschaft, die nicht vorhanden war. Ein paar Schritte weiter öffnete gerade eine Geisterbahn, und ein Würstelverkäufer richtete seinen Stand ein. Als er den Apparat für gesponnen Zucker – Zuckerwatte – einschaltete, gab es ein krachendes Geräusch. Weiter vorne lungerten ein paar Halbwüchsige in einem Gasthausgarten herum und starrten mir erwartungsvoll entgegen. Ich wich ihnen aus, um Unannehmlichkeiten zu entgehen, indem ich in eine andere Straße einbog.

Ich kam zu einem Kinderkarussell, das sich drehte. Zwei Buben von vielleicht vier Jahren, ließen sich jauchzend von hölzernen Pferdchen schaukeln. Vermutlich waren es Zwillinge. Der Vater stand davor, rief aufmunternd ihre Namen und freute sich offensichtlich mit ihnen. Als ich vorbei war, hörte ich auf einmal hinter mir die Kinder weinend kreischen. Ich wirbelte herum – aufgeregt, weil mir jede Art von Kindesmisshandlung verhasst war.

Aber es war ganz anders: Die Kinder führten sich nur wie tollwütig auf, weil ihnen der Vater eine weitere Fahrt mit dem Karussell verweigerte. Er hatte Mühe, sie von den Holzpferdchen zu zerren. Das fiel nun eher in die Kategorie »Misshandlung des Vaters«. Aber ich konnte mich schlecht einmischen und die Kinder maßregeln. Außerdem waren sie vermutlich total verzogen, und dem Vater geschah recht. Sollte er nur sein Lehrgeld zahlen.

Ich schlenderte suchend weiter, kam an allen möglichen Attraktionen vorbei, nur so etwas wie ein Tätowierstudio war mir noch nicht untergekommen. Nachdem ich gut zwei Drittel des Praters abgegangen war, wurde ich etwas verdrossen. Hatte mir Nero Unsinn erzählt und Ference Emeshi hatte seinen Laden längst dichtgemacht? Das konnte ich nicht glauben, denn der Freak war zuverlässig und immer auf dem Laufenden. Also setzte ich meine Suche fort.

Schließlich kam ich zu einem Spiegelkabinett. Zwei Teenager fuhren gerade auf einem kurzen Förderband hinein. Als sie es verließen, kreischten sie hysterisch auf, weil ihnen von unten ein Windstoß zwischen die Beine fuhr. Das erbrachte aber nicht den gewünschten Effekt, weil sie Hosen trugen. Ich fand überhaupt, dass dieser Gag längst überholt war, denn wie viele junge Mädchen tragen heutzutage noch luftige Kleidchen?

Ich wanderte weiter, und da wurde mein Blick von einer grellen Fassade gefesselt. Diese folgte gleich nach einem winzigen Kasperltheater. Auf einer gut fünf Meter hohen Fassade waren zwei Rockerbräute mit übertrieben riesigen Brüsten aufgemalt. Das Bild stammte von der Hand eines Dilettanten. Aber die Tätowierungen, die sie auf den Oberarmen und den freien Bäuchen trugen, waren regelrechte Kunstwerke. Den einen Bauch zierte das Emblem von Harley Davidson, den anderen ein Totenkopf mit überkreuzten Knochen. Um die Arme der Boxenluder ringelten sich Ornamente, die bei genauerem Hinsehen als Schlangen zu erkennen waren. Darüber stand in leuchtend roten Lettern:

 

TATTOOS VON MEISTERHAND

 

Das war keinesfalls übertrieben. Und noch etwas weiter darunter war in kleinerer Schrift ein Namenszug zu lesen. Ference Emeshi. Das war mein Mann. Links und rechts des Eingangs war je eine Vitrine in die Mauer eingelassen.

In einer der Vitrinen war verschiedenes Tätowierwerkzeug ausgestellt, in der anderen war ein Schrumpfkopf zu sehen – über und über mit Tattoos versehen. Ob er echt war?

Ich bezweifelte es. Es war mir aber egal.

Ich probierte an der Tür. Sie war verschlossen. Eine Klingel gab es nicht. Ich klopfte. Nichts rührte sich. Ich wiederholte mein Klopfen mehrmals, aber es erfolgte weiterhin keine Reaktion. Es schien, dass Ference Emeshi noch nicht da war, was um diese Zeit eigentlich nicht verwundern durfte.

Ich begab mich in die dahinterliegende Straße, um die Rückseite von Emeshis Bude zu begutachten. Dort stand eine Riesenschaukel, die noch nicht geöffnet hatte. Dahinter lag die Tätowierwerkstatt, aber alles wirkte verlassen. Ich kehrte wieder auf die Vorderseite zurück und begab mich zur Kassa des Spiegelkabinetts. Darin saß ein uralter, gebeugter Mann.

»Macht fünf Schilling«, sagte er, ohne aufzublicken.

Ich zahlte, in der Hoffnung, dadurch einen Bonus bei ihm zu haben, und fragte gleichzeitig: »Können Sie mir sagen, wann ich Herrn Ference Emeshi in seinem Studio antreffen kann?«

Jetzt erst hob der alte Mann den Blick und taxierte mich. »Man kann nie sagen, wann dieser Lump auftaucht oder ob er überhaupt kommt«, sagte er abfällig.

»Wieso Lump?«

»Weil das Gesindel, das sich dauernd um seinen Laden herumtreibt, die anständige Kundschaft abschreckt.«

»Und Sie können nicht sagen, ob Emeshi heute sein Studio öffnet?«

»Wenn, dann irgendwann gegen Abend. Und jetzt vergnüg dich im Spiegelkabinett und lass mich in Ruhe.«

»Danke«, sagte ich ohne Groll. Ich konnte den alten Mann verstehen, dass er der Kundschaft des Tattoo-Künstlers grollte.

Es wäre natürlich vergeudete Zeit gewesen, auf das Eintreffen von Ference Emeshi zu warten. Darum entschloss ich mich, die Nationalbibliothek aufzusuchen und mir Fachliteratur über Tätowierungen zu Gemüte zu führen. Das würde mir bei meinem Problem kaum nützen, aber es konnte auch nicht schaden, sich ein wenig zu bilden.

Ich hätte natürlich auch heimgehen können. Aber dort erwartete mich sicher nichts Gutes, weil ich vergangene Nacht auswärts verbracht hatte. Die zu erwartende Kopfwäsche verschob ich lieber auf später.

Ich kehrte zum Taxistandplatz zurück und – es war wie verflixt – bekam denselben Fahrer, der mich hergefahren hatte. Aber er erkannte mich nicht wieder. Ich nannte ihm mein Ziel: »Josefsplatz, Nationalbibliothek.«

Er fuhr schweigend los und redete die ganze Fahrt kein Wort. Zur Belohnung für seine Zurückhaltung zahlte ich ihn diesmal aus, als wir vor der Nationalbibliothek anhielten.

 

»Ich möchte Literatur über Tätowierungen einsehen«, sagte ich hochgestochen zu der Matrone am Schalter, als die Reihe an mir war. »Ich verlasse mich da ganz auf Ihre Empfehlungen.«

»Keine Empfehlungen«, sagte das fette Weib, das aufdringlich nach Eau de Cologne stank, hochnäsig und schob mir ein Formular. »Nennen sie Titel, Verlag und möglichst Erscheinungsjahr. Dann kommen Sie wieder und weisen sich gefälligst aus.«

Da riss mir der Geduldsfaden. »Du Vettel, sieh mich an!«, zischte ich.

Sie schnappte nach Luft und wollte aufbegehren. Aber dazu kam sie erst gar nicht, denn da stand sie schon im Banne meines hypnotischen Blicks.

»Was könnten Sie mir über Tätowierungen empfehlen, bitte?«, fragte ich mir falscher Höflichkeit. »Zwei, drei Standardwerke würden mir schon reichen.«

Sie blickte auf ihre Unterlagen und dann wieder mir in die Augen. »Sie bekommen Tisch 27«, sagte sie marionettenhaft. »Man wird Ihnen die gewünschte Literatur raschest bringen.«

So gefiel sie mir schon besser. Die Hypnose machte sie zwar nicht attraktiver, aber zuvorkommender. Was mussten sich Menschen von Beamten traktieren lassen, die nicht solche kleinen Tricks wie ich als Hexe beherrschten?

Obwohl ich ein Faible für die Sterblichen hatte, konnte ich mir einen solchen Umgang mit Beamten – oder Beamtinnen – nicht vorstellen.

Ich bekam einen Zuweisungsschein, den zeigte ich dem Kontrollor am Eingang zum Lesesaal und durfte passieren.

Tisch 27 lag an der Fensterwand. Das passte mir, denn so hatte ich einen guten Überblick, obwohl ich mir keine Vorstellungen machte, wozu das gut sein sollte. Aber Nachteil war es keiner.

Ich musste keine zehn Minuten warten, bis ein Saaldiener kam und schweigend drei modrige Schwarten vor mich hinlegte. Die Titel waren »Die Geschichte der Tatauierungen«, »Tatauierungsritus bei den Naturvölkern« und »Tatauierungen im Spiegel der Zeit – volkstümliche Ausgabe.« Alle drei Bücher stammten aus dem vorigen Jahrhundert. Schon beim ersten Durchblättern wurde mir klar, dass ich hier meine Zeit vergeudete. Selbst die »volkstümliche Ausgabe« war so geschraubt und umständlich abgefasst, dass ich einen ganzen Tag gebraucht hätte, um mir eine Übersicht zu verschaffen.

Das war es nicht, nein, das war reine Zeitverschwendung! Die Matrone hatte es ja sicher gut gemeint – gut meinen müssen –, doch hatte sie mein Anliegen total missverstanden. Aber einmal hier, tat ich so, als vertiefe ich mich in das Studium dieser muffigen Wälzer. Ich hatte ohnehin nichts Besseres zu tun.

Immerhin erfuhr ich, dass die Kunst des Tätowierens in der pazifischen Inselwelt weit verbreitet war und dort auch ihren Ursprung hatte. Mikronesien, Polynesien und Melanesien waren die klassischen Ursprungsländer. Haiti, Neu-Guinea und Neuseeland waren gewissermaßen Hochburgen der Tätowierkunst, die in den Büchern stets mit der wissenschaftlichen Bezeichnung tatauieren bezeichnet wurde. Das stammte aus dem Haitischen. Aha. Und was konnte mir das bei der Behebung meines Problems helfen?

Immerhin hatte eines der Bücher Illustrationen aufzuweisen. Keine Fotos, aber naturgetreue Zeichnungen. Das Konterfei eines Polynesiers, dessen Kopf quasi nur aus Tätowierungen bestand, tat es mir ganz besonders an. Es war ein überaus faszinierender Charakterkopf, ich konnte mich an ihm nicht sattsehen.

Es war mir nicht möglich, mich zu konzentrieren, weil mich dauernd ein Bursche von ein paar Tischen weiter angrinste. Er fiel mir schon die ganze Zeit auf. Gleich nachdem ich an meinem Tisch Platz genommen hatte, war auch er aufgetaucht und hatte meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versucht. Kannte er mich? Sollte ich ihn kennen? Ich wusste nicht, wohin ich ihn stecken sollte. Er war ja ein süßer Junge, aber das war nicht der günstigste Ort, mich anzubaggern. Ich lächelte zurück, zwinkerte ihm auch zu, machte aber auch eine Geste der Hilflosigkeit. Er erwiderte das mit einer Geste des Bedauerns.

Er gefiel mir wirklich, hatte ein ehrliches, offenes und unrasiertes Gesicht. War leger wie ich gekleidet, mit Jeans, Turnschuhen und Kapuzenjacke. Na schön, wenn er mich kennen lernen wollte, dann sollte er sich halt was einfallen lassen.

Ich schob die Wälzer achtlos von mir, erhob mich und verließ mit wiegenden Hüften den Lesesaal, ohne einen Blick in seine Richtung zu werfen.

Auf der Straße holte er mich ein.

»Hey, da drinnen war's nicht gar so heimelig, was?« Er wirkte schlaksig, während er seitwärts neben mir tänzelte. »Ich bin Otto.«

»Wie sensationell.« Aber es war nicht schnippisch gemeint. Eher kokett. Ich glaube, ich mochte ihn schon von diesem Augenblick an.

Wir gingen auf einen Kaffee. Er erzählte mir über sich. Er war Grazer und studierte an der Akademie der bildenden Künste am Schillerplatz. Er wollte einmal ein berühmter Maler werden. Er bildete sich ein, überaus talentiert zu sein.

»Ich würde dich gerne malen, Coco …«

»Am liebsten nackt, oder?«, ergänzte ich.

Er sah mich verwundert an. »Ja, wie kannst du das wissen?«

»Manchmal bin ich Gedankenleserin.«

»Ich denke aber nicht an irgendeinen langweiligen Akt. Ich würde dich am liebsten in den Katakomben malen. Das stelle ich mir überaus reizvoll vor.«

»Wie gruselig.«

Wir wechselten das Thema, kamen vom Hundertsten ins Tausendste und alberten herum.

»Willst du Bilder von mir sehen?«, bot er mir aus heiterem Himmel an.

»Und was Besseres fällt dir nicht ein, um mich rumzukriegen?«

Er war ehrlich verstört über meine Äußerung. Es schien, als hätte er das Angebot ehrlich und naiv gemeint, ganz ohne Hintergedanken. Also willigte ich ein, mir seine Kleckserei anzusehen.

Er bewohnte eine große Altbauwohnung in der Innenstadt, im obersten Stock eines ehemaligen Palais, wie er sagte. Aber das interessierte mich wenig. Ich mochte ihn einfach, er war wirklich süß. Wenn ich jedoch auf Initiativen von ihm wartete, dann hätte das bis zum Sankt Nimmerleinstag gedauert. Also musste ich ihn verführen.

Ich weiß, das war leichtsinnig, aber Sterbliche zogen mich nun einmal an. Und er – Otto Keller, wie er mit vollem Namen hieß – ganz besonders. Er hatte etwas an sich, was mir eine wohlige Gänsehaut bereitete.

Er liebte sehr ungeschickt, naiv ungestüm, und ich verstellte mich, um ihn nicht zu verstören. Immerhin war ich um ein paar Jährchen jünger als er, und er sollte mich nicht für ein Flittchen halten.

Trotzdem war es für mich der schönste Sex seit langem – vielleicht der schönste überhaupt. Ich kostete das Gefühl, mich endlich wieder in meinem eigenen Körper zu befinden, bis zur Neige aus.

Otto verausgabte sich ebenfalls völlig und sank schließlich erschöpft auf die Doppelmatratze zurück. Ich wollte noch mehr. Mir wurde schrecklich heiß – und da erst begriff ich, dass es nicht die Lust war, die mich überkam. Ich sprang auf, eilte ohne Entschuldigung ins Bad und sperrte mich darin ein. Mein Körper stand in Flammen. Ich musste mich zwingen, nicht laut zu schreien. Ich betrachtete die Stelle unter meiner linken Brust im Spiegel. Dort breitete sich die Tätowierung auf Tellergröße aus. In meinem Kopf vernahm ich eine raue Stimme.

Töte ihn!, befahl sie. Töte diesen Hurenbock, er hat es verdient. Ich verlange dieses Opfer von dir!

Ich wäre in diesem Moment imstande gewesen, dem süßen, lieben Otto Keller den Garaus zu machen. Auf welche Weise auch immer. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte nicht auf Befehl morden, nur um mir Erleichterung verschaffen. Und schon gar nicht wollte ich diesem harmlosen, liebenswerten Sterblichen etwas antun. Ich hatte ihn nämlich liebgewonnen.

Und dann klopfte Otto an die Tür. »Was ist los mit dir? Hab ich irgendetwas falsch gemacht?«

»Hau ab!«, brüllte ich und schlug um mich, um mich abzureagieren. »Verschwinde, lauf um dein Leben.«

Ich riss ein Kosmetikschränken von der Wand, hörte Glas splittern, Flüssigkeiten spritzten.

Töte ihn! Gib ihn mir als Opfer!

»Was ist los mit dir? Mach auf!« Es klang ängstlich und besorgt. Otto rüttelte an der Tür.

Ich sank verkrampft zu Boden, versuchte, mich mit aller Kraft gegen die Beeinflussung zu wehren. Mein Kampf schien Stunden … Jahre zu dauern.