Die 13-jährige Klara ist fassungslos: Der grantige Schrotthändler will die putzmuntere Irish-Cob-Stute Gypsy zum Schlachter geben! Das darf auf gar keinen Fall geschehen!
Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Marei fasst sie einen kühnen Plan: Sie spannen die Stute vor ihren alten Wanderwagen und brechen bei Nacht und Nebel auf. Ihr Ziel? Ein Gnadenhof in Holland. Doch wie schafft man es mit einem gefleckten Pferd samt kunterbuntem Wagen unerkannt über Feldwege, an Autobahnen vorbei und durch ganze Dörfer?
Ein Pferde-Roadtrip der besonderen Art beginnt!
Ein Pferdeabenteuer der Spiegel-Bestsellerautorin Mina Teichert!
1 ALL DIE SCHÖNEN PFERDE
2 LEBENSRETTENDE MAßNAHMEN
3 WER DUMME IDEEN HAT, BRAUCHT NUR EIN BISSCHEN GLÜCK
4 UNTERWEGS INS GLÜCK
5 FREIHEIT UND IHR BEIGESCHMACK
6 WIR SIND WEG, BIS WIR WIEDER DA SIND
7 BRUNOS BILDER
8 GESETZLOS UNTERWEGS
9 SCHLIMMER GEHT’S IMMER
10 VOGELFREI
11 EIN UNGLÜCK KOMMT SELTEN ALLEIN
12 SUPERMAN
13 ZUM ABSCHUSS FREIGEGEBEN
14 SCHNELLER ALS DER WIND
15 WENN ES NICHT GUT IST, IST ES NICHT ZU ENDE
Ich trete kräftig in die Pedale meines Fahrrads, um so schnell wie möglich viel Abstand zwischen mich und die Schule zu bringen. Sommerferien, ich komme! Keine Fünf in Mathe. Kein Totalausfall in Chemie. Und ab jetzt keine Lehrer, Zahlen oder Grammatiktests mehr. Die nächsten sechs Wochen kann die Schule mich mal.
Meine Fahrradklingel klötert laut, als ich auf den Sandweg zu unserem Bauernhof einbiege und den Schlaglöchern ausweiche. Beinahe verliere ich meinen Hut vom Kopf. Ich trage gerne welche, weil man sie so super ins Gesicht ziehen kann, um eine Grimasse zu verstecken. Und sie schützen vor einem Sonnenstich. Das Wetter schreit nach Schwimmengehen. Nur leider wird da heute sicherlich nichts draus, weil meine Mutter einen ganzen Katalog an Aufgaben für mich haben wird, bevor die Feriengäste auf unserem Hof eintreffen.
Endlich komme ich an dem Schrottplatz vom alten Fassbinder vorbei. Von hier sind es nur noch zehn Minuten bis nach Hause. Immer geradeaus, entlang des hohen Zauns, der mit Stacheldraht gespickt ist, und vorbei an verdorrtem kniehohem Gras, in dem alte Kühlschränke und Waschmaschinen sich zugewandt stehen, als würden sie ihre letzten Gespräche führen, bevor sie auseinandergebaut werden.
Ich pfeife gerade ein fröhliches Lied und trete noch einmal so richtig in die Pedale, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung zwischen den aufgetürmten alten Autowracks erspähe. Moment mal!? Zackig drehe ich mich um und lasse das Fahrrad im Leerlauf weiterfahren. Durch den Maschendrahtzaun kann ich nicht viel sehen, aber etwas gehört hier ganz und gar nicht hin. Weit entfernt blitzt immer wieder etwas Farbenfrohes zwischen dem ganzen Grau des Schrottplatzes auf. Ich blinzle. Das gibt’s doch nicht! Hinter einem der rostigen LKWs steht ein kunterbunter Kutschwagen. Der ist neu, denke ich und vergesse für einen Moment, dass ich immer noch auf der unbefestigten Abkürzung bin. Mein Vorderrad rutscht weg, als es im Sand versinkt, und mein Pfeifen bleibt mir in der Kehle stecken. Fast knalle ich der Länge nach hin und mein Hut fliegt davon.
»So ein Mist!«, brülle ich, komme ungelenk auf meine Füße und gebe dem Rad einen Tritt. Dann lausche ich. Wiehert da was? Ruckartig drehe ich mich wieder zum Schrottplatz um und entdecke es: das Wunder. Ein Lebewesen, ein Pferd auf dem Schrottplatz des griesgrämigen Herrn Fassbinders. Inmitten des Autofriedhofs steht es angebunden an einer Kutsche, die mich unweigerlich an alte Geschichten vom Fahrenden Volk erinnert. Er ist bunt bemalt mit Blumen und Schnörkeln. Achtlos lasse ich mein Rad am Wegrand liegen und presse mich an den Zaun.
»Pferdchen«, rufe ich auffordernd und mache Schnalzgeräusche. Freudig werde ich mit einem leisen Wiehern begrüßt. Das gescheckte Pferd spitzt die Ohren, von denen eines weiß und das andere schwarz ist. Es dreht sich einmal um sich selbst, spannt die Leine, an der es befestigt ist, und schaut wieder zu mir, als wolle es sagen: »Komm her, ich kann hier nicht weg.«
»Hey, du Hübsche«, rede ich mit der Stute. »Wo kommst du denn plötzlich her?« Der alte Mann, dem der Platz gehört, hat doch sonst nichts für Pferde übrig. Die Stute schnaubt leise und schlägt mit dem Kopf, als würde sie mich erneut auffordern. Es kribbelt regelrecht in meinen Fingern und ich möchte mich am liebsten am Zaun hinaufziehen. Doch mein Blick bleibt an dem Schild hängen: Zutritt verboten. Eltern haften für ihre Kinder.
Ich ziehe mich trotzdem ein Stück hinauf. Stacheldraht. Das kann schwierig werden, denke ich. Meine Jacke rutscht am Handgelenk hoch und ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich außerdem spät dran bin. Im Geiste höre ich Mama schon eine Predigt über Pünktlichkeit halten.
Unwillig reiße ich mich von dem bezaubernden Pferd los und hole mein Rad.
»Ich komme wieder. Versprochen!«, rufe ich der Stute zu, die mich aufmerksam beobachtet und dabei die enorm lange weiße Mähne schüttelt. Ganz sicher, so schnell es geht, denke ich. Beinahe vergesse ich meinen Hut auf dem Weg, bevor ich aufgeregt davonradle.
Als ich auf unseren Hof einbiege, fällt mir gleich das fleißige Treiben unserer Angestellten auf. Sie huschen wie die Ameisen von einer zur anderen Ecke. Es wird gefegt, aufgeräumt, Pferdeställe ausgemistet und mittendrin steht Mama, die Kommandos gibt. Papa sagt immer, Mama hätte auch gut Feldwebel bei der Bundeswehr werden können. Wehe, die Leute kuschen nicht gleich, dann hat man das Gefühl, sie greife jeden Moment zur Peitsche. Mama ist immer mordsmäßig angespannt, wenn die Feriensaison anbricht. Dann wird gewienert, geputzt, gewaschen und vorgekocht, was das Zeug hält.
Der Versuch, mich ungesehen ins Haus zu schleichen, misslingt kläglich. Noch ehe ich einen Fuß auf der Schwelle habe, höre ich meinen Namen.
»Klara! Du bist spät dran«, stellt Mama fest und ich bleibe auf dem Absatz stehen. »Du hilfst mir mit den Zimmern, ja?«, fragt sie, doch ich weiß, dass das nicht als Frage zu verstehen ist. Also füge ich mich und ignoriere meinen knurrenden Magen.
»Na klar, Mami«, erwidere ich brav und ergebe mich meinem Schicksal. Dabei kann ich putzen nicht ausstehen. Nichts ist öder, höchstens Mathe.
Mama lächelt lieb und drückt mir einen Eimer mit Schwämmen in die Hand. Sie selbst schleppt Staubsauger, Schrubber und Co. hinter sich her, die Treppe hinauf in den Gästebereich.
»Mama, weißt du, dass auf dem Schrottplatz ein Pferd steht?«, frage ich und mach ihr die Tür zum ersten Zimmer auf.
»Ein Pferd?« Sie runzelt die Stirn und scheucht mich vor sich her.
»Ja, und eine Kutsche. Eine quietschbunte, die so seltsam rund ist.« Meine Hände formen sie nach. »Sie sieht ein bisschen aus, als wäre das so eine Art Wohnwagen.«
Mama macht den Staubsauger an und ich schreie dagegen an. »Weißt du davon?«, frage ich in der Hoffnung, der Dorffunk hätte schon Informationen übermittelt, die mir entgangen sind.
»Das ist sicher das Pferd von der kürzlich verstorbenen Frau Fassbinder.«
»Es gab eine Frau Fassbinder?«, frage ich irritiert und denke an den tristen Vorgarten des Haupthauses des Schrottplatzes, in dem keine Blume blüht. Und an die Fenster, in denen nicht eine Gardine hängt, und an den Hofhund, der nur Abfälle zu fressen bekommt. Ich habe dort nie eine Frau gesehen.
»Ja. Es heißt, sie hat es nicht mehr bei ihrem Mann ausgehalten«, erklärt Mama. »Die Leute sagen, sie ist mit ihrem Pferd umhergezogen und hat selbst genähtes Zeug verkauft. Wie man davon leben kann, ist mir allerdings ein Rätsel.« Mama zuckt die Achseln.
Das ist ja ein Ding. Da ist die Gute ihrem Mann einfach abhandengekommen? Verwundert mich nicht sonderlich. Ich hab den alten Fassbinder mal gesehen, wie er seinen Hund verdroschen hat. Das war fürchterlich. Ich hatte Albträume davon.
Mama stellt den Staubsauger ab, als der einen alten Socken unterm Bett findet und verstopft. »Wir erwarten morgen zwei Familien und Bruno«, erzählt sie mir, während sie den Stofffetzen aus dem gierigen Sauger pult. Dann fordert sie mich mit einem lodernden Blick auf, endlich mit dem Staubwischen anzufangen. Ich nicke verstehend. Papa ist seit Tagen mit der Grasernte beschäftigt und Mama muss alleine die Organisation des Ferienbetriebs machen. Eine halbe Stunde später sind die Zimmer blitzeblank und Mama und ich schlendern Hand in Hand in die Küche.
Endlich Mittag. Ich habe einen Bärenhunger und mampfe gerade meine Spaghetti, als Papa mit seinem Lieblingsthema anfängt: »Und, Klara, was hast du so vor? In den Ferien? Willst du nicht endlich mal den Kutschkurs bei Onkel Wilhelm machen?« Ich verdrehe die Augen. »Papa, ich kann Kutsche fahren. Ich habe keinen Bock, mir die ganzen langweiligen Geschichten von Willi anzuhören.« Der hört sich nämlich ziemlich gerne reden, der gute Onkel. Und das kann nerven. Gut, er hat pferdemäßig echt was drauf, aber trotzdem. Wer will schon wissen, wie es damals war, als die Leute noch ihr Heu per Handarbeit ernten mussten? Als es kaum Landmaschinen gab.
Papa runzelt die Stirn. »Aber, du könntest ein wenig mehr Grundwissen gebrauchen. Und dann kannst du mit der Shettykutsche auch endlich umgehen.«
Mann, da baut man einen kleinen Unfall, schon wird er einem ewig vorgehalten! Ich stoße hart die Luft aus. Das war letztes Jahr. Ich hatte die beiden Shettys Thelma und Louise vor dem Wagen. Zweispännig fahren ist noch nie meine Stärke gewesen. Und hallo? Ich bin ja auch erst dreizehn, da muss man noch nicht alles können. Oder? Jedenfalls wollten die doofen dicken Ponys auf einmal einen Waldweg entlang, der in der Mitte einen Pfahl hatte, damit keine Autos ihn befahren. Ich habe den Ponys ganz klare Anweisungen gegeben, stehen zu bleiben, aber die mussten ja unbedingt fröhlich geradeaus traben. Eines rechts an dem Pfeiler vorbei, das andere links. Dummerweise kam dahinter die Kutsche mit mir darauf, die sich ja schlecht zweiteilen konnte. Also hat es gekracht. Und zwar so richtig.
»Ich hab ja noch genug andere Sachen zu tun«, sage ich mit vollem Mund und ernte einen tadelnden Blick von Mama.
»Apropos, du könntest mal deinen Hut beim Essen absetzen, das haben wir besprochen«, erinnert sie mich an unser Gespräch über gutes Benehmen. Ich seufze und lege ihn auf den freien Stuhl neben mir. Papa zwinkert. Er mag meinen Hutfimmel. Ich weiß gar nicht so genau, wie viele ich jetzt eigentlich besitze.
»Du könntest mit der Mini-Kutsche Bruno vom Bahnhof abholen«, greift Mama das Thema wieder auf.
Bruno. Auch das noch. Ein Junge der besonderen Art. Der ist so was von lästig. Er kommt seit fünf Jahren für jeweils zwei Wochen hierher, um Ferien zu machen. Ein richtiges Stadtkind, sagt Mama immer. Seine Eltern wollen, dass er hier gesunde Landluft schnuppert und was mit Tieren macht. Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Wenn Bruno was mit Tieren macht, sieht das ungefähr so aus: Er glotzt sie an. Aus einer sicheren Entfernung von zwei Metern. Mindestens.
»Kümmere dich dieses Jahr doch bitte ein wenig mehr um ihn, ja?«, meint Mama plötzlich und ich verschlucke mich fast an einer zu langen Nudel. Mir treten Tränen in die Augen.
»Er ist doch ein wirklich netter Junge«, schiebt Mama nach. Papa lächelt doof. »Ja, und er ist so schlau«, sagt er ehrfürchtig und wartet meine Reaktion ab. Er weiß, dass ich Brunos ganzen grammatikalischen Verbesserungen, wenn ich rede, nicht mag.
»Du meinst, er ist ein totaler Klugscheißer«, zische ich etwas zu angriffslustig.
»Ja, das auch«, sagt Papa immer noch fröhlich.
»Also«, schimpft Mama jetzt. »Er ist ein Produkt seiner Umwelt.«
»Was auch immer das heißen soll«, schließe ich und verschränke trotzig die Arme vor der Brust. Ich finde, der ist letztes Jahr auch ganz gut alleine klargekommen.
»Der arme Junge kann doch nicht nur den Kopf in seine Bücher stecken«, wirft Mama nachdenklich ein. »Er macht schon so lange Urlaub bei uns. Vielleicht kannst du ja mal mit ihm ins Freibad gehen und da Marei diesen Sommer wieder mit ihren Eltern verreist …« Toll, dass sie mich daran erinnert!
Ich starre Mama an wie eine arme Irre. »Ich mit ihm ins Freibad? Mama, der nervt! Und was sollen denn die anderen denken?«
»Also, ich finde, du kannst viel von ihm lernen, Schätzchen. Er ist so ein gescheiter Junge«, scherzt Papa und verkneift sich ein Lachen.
»Na, wenn du dann auch so locker bist, wenn ich meinen ersten Knutschfreund mit nach Hause schleppe, dann ist ja alles gut«, sage ich an Papa gerichtet, dessen Grinsen augenblicklich verrutscht. Jetzt sieht Paps aus wie jemand, der den Bus verpasst hat, und ich muss kichern.
»Seine Eltern zählen auf uns. Darauf, dass wir den Jungen mal ein bisschen aus der Reserve locken.«
»Ich wette, seine Eltern machen selber Urlaub von Bruno und schieben jetzt einfach mir den schwarzen Peter zu«, schmolle ich.
»Ich muss noch zehn Rinder umlassen und auf die hintere Wiese bringen. Wer von euch hilft?«, fragt Papa und steht geräuschvoll vom Tisch auf.
»Ich wasch ab«, sage ich schnell. Auf Kühe treiben habe ich jetzt gar keine Lust. Mama auch nicht, denn die tut so, als habe sie Papa gar nicht gehört. Sie bleibt als Chefin des Hauses auch lieber drinnen.
Es ist Nachmittag und die Sonne knallt Marei und mir auf den Kopf, als wir den Sandweg entlangradeln. Ich kann den Schrottplatz schon sehen. Er flimmert in der Hitze und ich stöhne leise. Meine braunen Locken kräuseln sich im Nacken und werden nur von meinem Strohhut gebändigt.
»Dort drüben«, keuche ich. »Siehst du sie?« Ich zeige auf den bunten Wagen, der hinter den Autowracks auftaucht.
»Ja, ja«, ruft Marei und wird schneller. Ihr blonder Zopf wippt lustig um ihren Kopf herum, während sie in die Pedale tritt. »Ich sehe sie.« Dann macht sie eine Vollbremsung und verschwindet in einer Staubwolke. »Und wie kommen wir jetzt zu ihr?«, fragt sie grüblerisch und ich fahre in den Sandsturm der Wüste Gobi.
»Mann, ich krieg keine Luft mehr«, jammere ich und wedle mit der Hand. Ein Scheppern und ich treffe auf Mareis Rad. Dann lassen wir unsere Gefährte zeitgleich fallen. Ich stelle mich hinter meine Freundin, die ihre perfekte Nase durch den Maschendrahtzaun steckt und den Schrottplatz inspiziert.
»Dort drüben, da können wir durch«, erklärt sie fachmännisch und zeigt auf eine Lücke im Zaun. »Wenn wir den Draht hochbiegen und dann den nächsten …«
Ich unterbreche sie ungeduldig und ziehe sie mit mir dorthin. Schwuppdiwupp und wir stehen im nächsten Augenblick auf dem Schrottfriedhof. Der Wind bläst das hohe Gras platt, aber wir halten beständig auf den Wanderwagen zu. Hinter ihm kommt die Stute hervor und wiehert freudig, als sie uns entdeckt.
»Hui, was für ein schönes Pferd.«
»Ja, nicht wahr?«, sage ich.
»Was ist das für eine Rasse?«, fragt Marei und bleibt hinter mir stehen, als wir ankommen.
»Ein Irish Cob. Sie kommen aus England und Irland. Ich habe vorhin gegoogelt und herausgefunden, dass die Irish Traveller diese Pferde als Wagenpferde gezüchtet haben. Und da sie alles mochten, was bunt ist, haben sie auch viel Wert auf die gescheckte Fellzeichnung gelegt.«
Das Pferd bleibt stehen, als sich das Seil spannt. In ihrem Radius ist alles bis auf den letzten Grashalm abgenagt.
»Guck mal, die hat ja Puscheln an den Füßen«, sagt Marei und ich schaue auf den Fellbehang an den Beinen der Stute. Man sieht ihre Hufe gar nicht, so dichtes Fell hängt an den Beinen herunter. Vorsichtig strecke ich meine Hand nach dem Pferd aus. Man kann bei fremden Tieren nie wissen, wie sie reagieren. Und ob sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Die Stute schnuppert und bläst ihren warmen Atem über meine Finger. Es kribbelt. Sie sieht freundlich aus. Von Nahem erkenne ich, dass sie ein braunes und ein blaues Auge hat.
»Och, wie hübsch die ist«, haucht Marei begeistert. Ich zeige dem Pferd einen Apfel und es beißt krachend hinein.
»Das scheint ihr zu schmecken«, sage ich fröhlich und klopfe dem Tier den Hals. Sie steht ganz ruhig. Nur das Mahlen ihrer Zähne ist zu hören.
»Ist die lieb?«, fragt Marei etwas ängstlich, als sie noch näher kommt. Marei ist vor einiger Zeit von einem Pferd getreten worden und ist seitdem zurückhaltender, was die großen Tiere betrifft.
»Ich glaube schon«, sage ich lässig und entwirre die lange Mähne, in der sich Kletten verfangen haben. »Sei kein Frosch und streichle sie einfach«, fordere ich meine Freundin auf.
»Meinst du?«, fragt sie zögerlich. Doch dann legt sie vorsichtig ihre Hand auf die Pferdenase. Die Stute hält ganz still und schließt ein wenig die Augen.
»Ich würde behaupten, ich habe noch nie ein so tiefenentspanntes Pferd gesehen«, beruhige ich Marei und zerre an einer verklebten Pferdelocke.
»Möglich. Sie ist echt nett.« Das Pferd hat einen ganz verdreckten Bauch. Vielleicht alter Mist, in dem sie gelegen hat. Man sollte das Tier einmal waschen.
»Ich glaube, diese Stute hat schon ewig keiner mehr gepflegt. Eine Schande ist das«, murmle ich und ziehe die Pferdehaare glatt. Die Stute scheint die Aufmerksamkeit und das Kraulen zu genießen. Langsam traut sich auch Marei ganz nahe heran und nach wenigen Minuten ist das Eis dann endgültig gebrochen. Die Stute scheint Mareis Furcht zu spüren und verhält sich besonders sanft ihr gegenüber.
Nach einigen Minuten bleibt Marei sogar alleine bei ihr und plaudert verzückt vor sich hin.
»Ich bin verliebt, glaube ich.« Sie traut sich sogar, sich eng an das Pferdchen zu schmiegen, das genüsslich die Augen schließt. Ich klettere derweil auf den Kutschbock und finde einen Namen, der mit schwungvollen Buchstaben an der Seite geschrieben steht. »Gypsy«, verkünde ich und das Pferd dreht seinen Kopf zu mir.
»Oh, sie hört drauf. Das muss ihr Name sein«, ruft Marei begeistert. »Gypsy?«, wiederholt sie und die Stute grummelt leise.
»Das ist ein schöner Name«, flüstere ich leise zu mir selbst. Marei macht sich daran, Wasser aus dem Brunnen zu ziehen, um die Tränke aufzufüllen. Das Pferd spitzt die Ohren und kommt ihr hinterher. »Die hat bestimmt schon lange keiner mehr gefüllt«, schimpft Marei. Gypsy säuft mit langen Zügen. Ihre Ohren zucken lustig bei jedem Schluck. Ich wende mich grinsend von dem Anblick ab und wieder dem bunten Wanderwagen zu: Hinter dem Kutschbock befindet sich eine Schiebetür, die sich leicht öffnen lässt. Ich stoße einen beeindruckten Pfiff aus. Es gibt einen winzigen Herd, eine Koje mit bestickten Kissen und Decken und – was haben wir denn da? Ich klettere hinein. Sogar Gypsys Kutschgeschirr liegt hier herum. Es ist rot und – so wie es aussieht – ist alles vollständig und ganz. Man könnte Gypsy also jederzeit anspannen. Ich klettere wieder aus dem Wagen und will Marei rufen, als mich plötzlich jemand am Arm packt. Mein Herz sackt mir in die Hose und ich werde unsanft vom Kutschbock gerissen. Ich sehe den Boden auf mich zurasen, bevor ich herumgewirbelt werde und in ein zorniges Gesicht schaue.
»Was macht ihr hier?«, zischt mich der alte Fassbinder an. Marei wird kreideweiß und versteinert. Gypsy trinkt unbeeindruckt weiter.
»D–d-das Pferd hatte Durst«, sage ich und starre in die blutunterlaufenen Augen eines alten Mannes, dessen bester Freund mit Sicherheit Jim Beam oder Johnny Walker heißt. Die Whiskey-Sorten, die Onkel Kurt ständig trinkt und wonach er dann ähnlich aussieht, wie der torkelnde Mann vor mir.
»Ihr habt hier nichts zu suchen, ihr Rotzgören«, speit Fassbinder mir entgegen, während er mich loslässt, als hätte er sich an mir verbrannt. Ich falle auf den Hintern, rapple mich aber schnell wieder auf. Mein Hut versperrt mir für Sekunden die Sicht. Marei weicht erschrocken einige Schritte zurück. Die Leute sagen schließlich, der alte Fassbinder sei verrückt.
»Ist das Ihr Pferd?«, frage ich mutiger, als ich mich fühle, und klopfe mir den Dreck von der Hose.
»Und wenn dem so ist?«, fragt der Alte zurück und stemmt dabei die Hände in die Hüfte.
»Wenn das so ist, müssen Sie sich besser um Gypsy kümmern.« Er verengt die Augen zu Schlitzen. »Gypsy, Gypsy, Gypsy. Bald hat’s sich ausgegypsyt. Die braucht nix mehr.«
»Wie meinen Sie das?«, fragt Marei und ich ahne die Antwort schon.
»Der Schlachter holt den Zossen übermorgen.«
»Was?«, ruft Marei entsetzt, greift nach dem Halfter der Stute und zieht den Pferdekopf zu sich heran. Jetzt fixiert der alte Mann sie mit seinem eisigen Blick und hebt den Zeigefinger. Marei lässt das Halfter wieder los.
»Aber, das können Sie doch nicht …«
Er schneidet mir das Wort ab. »Wieso sollte ich das nicht machen können? Es ist jetzt mein Pferd und ich kann damit tun, was ich will.«
»Aber, sie ist doch gesund.«
Er zuckt gleichgültig die Achseln. In diesem Moment verdunkeln die Wolken plötzlich die Sonne und jegliche Wärme scheint diesen Ort zu verlassen. »Verschwindet von hier. Und kommt nicht wieder, klar?«, donnert Fassbinder uns an und macht einen bedrohlichen Schritt auf uns zu. Ich stolpere rückwärts, weil ich fürchte, dass er mich wieder packt. Seine knorrigen Finger ballen sich zu Fäusten. Dann dreht sich der alte Fassbinder um und geht. Dabei brummelt er noch ein paar Worte vor sich hin: »Tot. Und der Gaul ist schuld daran, dass ich sie nicht mehr gesehen habe. Jetzt wird er auch bald tot sein. Wie sie. Wie ich.«
Marei und ich ziehen uns zurück, auch wenn Gypsy uns hinterherwiehert und es mir das Herz zerreißt. Weit weg höre ich Fassbinders Rottweiler in seinem Zwinger bellen und mit dem ist nicht zu spaßen. Mareis Blick spricht Bände. Verzweiflung weicht Entschlossenheit.
»Das wird nicht passieren«, sagen wir beide gleichzeitig mit fester Stimme und noch festerem Blick. »Gypsy wird leben.«
Ich kann nicht fassen, dass meine Eltern so hart sind. Ich habe mit Marei eine gefühlte Ewigkeit auf sie eingeredet und ihnen von Gypsy erzählt. Ich wollte sogar meine Ersparnisse opfern, um Gypsy dem alten Fassbinder abzukaufen, und hatte mir schon überlegt, wo sie auf dem Hof stehen könnte. Aber Mama blieb hart. Und da sie immer das letzte Wort hat, habe ich bei Papa dann auch aufgegeben, nachdem er sowieso nur skeptisch geguckt hat. Die halbe Nacht hab ich geheult. Jetzt sitzen Marei und ich grübelnd auf der Shettykutsche auf dem Weg zum Bahnhof, um Bruno abzuholen.
»Ich muss adoptiert sein. Ich kann unmöglich von so herzlosen Menschen abstammen«, schimpfe ich und treibe die dicken Ponys zur Eile an. »Und jetzt musst du auch noch wegfahren«, jammere ich und schaue Marei von der Seite an. Sie wirkt abwesend, zwirbelt ihr langes Haar und starrt Löcher in die Luft. Das tut sie schon die ganze Zeit. Ich seufze. Nicht weit weg, parallel zu der Feldstraße verlaufen die Schienen der Eisenbahn und ich sehe den Zug schon einfahren. Wir sind nicht mehr weit entfernt vom Treffpunkt, kurz vorm Bahnhof.
»Wir befreien sie und nehmen sie mit«, sagt Marei plötzlich in die Stille zwischen uns. Die Zügel flutschen mir fast aus der Hand und Thelma nimmt das zum Anlass, schneller zu werden.
»Was?«, frage ich irritiert.
»Na, das Pferd«, erklärt Marei mit Nachdruck. »Gypsy!«
Ich bekomme große Augen. »Ich wusste ja gar nicht, dass du eine kriminelle Ader hast«, sage ich versucht gelassen. Mitnehmen? Das ist klarer Diebstahl! Ich habe noch nie etwas gestohlen. Obwohl? Nein, das stimmt nicht ganz. Als Dreijährige habe ich mal Süßigkeiten in einem Laden geklaut. Aber das zählt nicht, denn mit drei weiß man noch nicht, was man tut. Ob man mit dreizehn auch noch damit durchkommt? Tut mir leid, Herr Richter. Ich wusste nicht, dass es falsch ist, ein Pferd zu klauen, das der Besitzer sowieso nicht haben will.
»Hab ich auch nicht«, erklärt Marei schnell. »Die kriminelle Ader, von der du sprichst«, erklärt sie, als ich ihr wieder nicht folgen kann. Ich muss lächeln. So was will sie nicht auf sich sitzen lassen. »Aber, meine Cousine sagt immer: Der Zweck heiligt die Mittel«, ergänzt sie.
»Und dann, wo wollen wir mit dem Pferd hin? Ich meine, die werden uns Gypsy doch sofort wieder wegnehmen«, gebe ich zu bedenken.
Jetzt wird Mareis Blick wieder wacher. »Also, pass auf: Ich habe einen Plan.«
»Einen Plan?« Das klingt gut.
»Ich habe eine Tante, Enie van Wolkenstein. Sie wohnt in Holland, nahe bei der Grenze zu Deutschland, und sie hat einen Gnadenhof für alte Bauernhoftiere.«
»Ja, stimmt. Von ihr hattest du mir mal erzählt.«
Marei nickt bekräftigend. »Genau die. Die hat ein riesiges Herz für Tiere in Not. Aber wir müssen sie überrumpeln, sonst grätschen unsere werten Eltern dazwischen.«
»Und wie sollen wir das anstellen?« Die Zahnräder in meinem Gehirn beginnen zu rattern. Beinahe höre ich sie ineinandergreifen.
»Du kannst Kutsche fahren und das Pferd anspannen. Wieso sollten wir nicht einfach mitsamt dem Wagen verschwinden?«
Ich rutsche unruhig auf dem Kutschbock herum. »Ja, und am nächsten Morgen werden wir von der Polizei gesucht, weil unsere Eltern uns als vermisst melden.« Ich runzle die Stirn. »Und der Fassbinder meldet Pferd und Kutsche als gestohlen. Dann zählen Polizei und unsere Eltern eins und eins zusammen und wissen, was los ist.«
An Mareis Blick sehe ich, dass sie auch dafür eine Lösung ausgeklügelt hat. »Nicht, wenn du mit mir und meinen Eltern in den Urlaub fährst.«
Ich schaue Marei wie eine geistig Zurückgebliebene an, bis der Groschen fällt. »Und du bei uns im Ferienbetrieb bleibst?«, vervollständige ich dann ihre Überlegung. Ich lache und Marei stimmt mit ein. »Du bist genial.« Kräftig drücke ich Marei an mich, was die Ponys dazu veranlasst, in einen Galopp zu verfallen, der den kleinen Wagen gefährlich holpern lässt. Schnell greife ich die Zügel fester. »Hoooolah«, rufe ich bemüht ruhig und bremse die beiden dicken Ponys ab. Thelma schnaubt zufrieden. Sie mag es zu rennen und kaut laut auf ihrem Gebiss.
»Wir müssen nur dafür sorgen, dass unsere Eltern es nicht schaffen, miteinander zu reden.«
Einfacher gesagt als getan.
»Wann wolltet ihr los in den Urlaub?«, frage ich und halte die Ponys am Ende des Weges an, bevor wir auf die geteerte Straße kommen. Der Bahnhof ist in Sichtweite. Bis hierhin würde Bruno zu Fuß kommen müssen.
»Das ist der Knackpunkt. Sie fahren heute Abend. Und daher müssen auch wir noch heute Nacht mit Gypsy verschwinden.« Mareis Augen glänzen entschlossen. Sie ist wahrlich eine Freundin zum Pferdestehlen! Ich gebe ihr einen dicken aufgeregten Kuss auf die Wange. Sie schlingt ihre Arme fest um mich und drückt zu. »Meinst du, wir schaffen das?«, fragt sie leise an meinem Ohr. Mareis ängstliche Seite hat sie offensichtlich eingeholt.
Ich löse mich von ihr und halte ihr meinen kleinen Finger entgegen. »Ich schwöre, wir werden Gypsy retten«, erkläre ich feierlich.
Marei hakt ihren Finger in meinen. »Ich auch. Komme, was wolle.«
Wenig später kommt Bruno um die Ecke des Bahnhofgebäudes und hält auf uns zu. Er zieht seinen Trolley hinter sich her und hat tatsächlich ein Buch vor der Nase.
»Hey, fall bloß nicht hin«, begrüße ich ihn wenig besorgt. Er hebt den Blick, lächelt und winkt. Seine Nase ist noch größer als im letzten Jahr.
»Hallo, Klara.« Er verstaut sein Buch und lädt den Koffer auf den Wagen. Marei grüßt ihn zögerlich. Da sie die letzten Jahre immer schon im Urlaub war, bevor Bruno kam, kennt sie ihn nur von Erzählungen.
»Ich bin Bruno, und du?«, fragt der dürre Junge und schwingt sich ungelenk hinter uns auf die Kutsche. Marei kaut auf ihrer Unterlippe. Das tut sie immer, wenn ihr wichtige Sachen auf der Zunge brennen und sie gerade nicht mit mir darüber reden kann. So wie in der Schule, wenn der Unterricht in vollem Gange ist.
»Marei, ich bin Marei«, sagt sie schnell und lächelt versucht freundlich. Dann herrscht betretenes Schweigen und ich treibe die Ponys mit einem Schnalzen an, um mit dem Feriengast nach Hause zu kommen. Umso schneller, desto besser. Dann können Marei und ich weiterreden. Und unseren Plan perfektionieren.
Das Trippeln der Pferde hört sich in meinen Ohren wie tickende Sekunden an und ich bin froh, als Marei das Wort ergreift.
»Was liest du denn da?«, fragt sie, als Bruno sich wieder das Buch vor die Brille hält.
»›Herr der Ringe‹«, erklärt er.
»Echt jetzt?«, fragt Marei. »Das gab’s doch schon im Fernsehen.«
»Ja, aber Lesen ist anders. Viel intensiver, finde ich«, erklärt Bruno in einem lehrerhaften Ton. »Und Lesen schult das Gehirn. Liest du nicht gerne?«, fragt er irritiert, als Marei ein wenig die Nase rümpft.
»Doch, doch«, erwidert sie und bindet ihre Haare zu einem Zopf. »Bist du ein Bücher-Junkie?«, fragt sie neckend.